Texte von Hugo Rupp

Die ungeteilte Liebe

 

Was mich krank macht, sind ihre Augen und ihre Stimme und auch die Finger, die ewig mich erschrecken und ihre Zunge, die verspricht und ihre Backen, die sich blähen und mich mit Wind verwünschen, wie sie in meine Ohren bläst, ein schwarzer Schleier, mich verwünscht, pscht, gleich wird er kommen, pscht, gleich ist er am Tor, pscht, gleich wird er durch diese Fenster, Türen huschen, pscht, durchs Schlüsselloch? Lächelnd macht sie mich verrückt, lächelnd über seine Ankunft, wenn er kommt. Schwarzer Mann wird mich holen. Ihre Botschaft, dass er kommen wird, ist entsetzlicher, als alles andere, dass ein Mensch im Dunkeln kommen wird, aus der Dunkelheit. Dass es etwas gibt, das ich selbst nicht sehen, spüren, fühlen kann, das ich selbst noch nie gesehen habe, dass es einen schwarzen Mann wohl gibt. Für mich, wenn ich nicht einschlafe.

Niemand sagte, dass es ihn nicht gibt, dass es keine Geister gibt, keine bösen Geister, Hexen, Tote, die sich in Luft auflösen. Staub der sich zusammensetzt. Staub der sich verdichtet. Staub und Erde, die sich immer mehr vermischen und verhärten und sich dann selbst verformen und zu einem schwarzen Schleier werden, auch zu Toten wird der Staub und aus Staub soll wieder Leben werden. Dass es etwas gibt, das von Mutters Schrecken und Erschrecken abhängig ist und an ihr haftet. An ihrer Art Erschrecken. Dass die Welt ausschließlich für mich davon abhängt, mein Sein und Wohlergehen, wie es ihr ergeht. Was sie tut und sagt, wie sie sich wohl fühlt. Dass ich ohne eine Rettungsmöglichkeit, voll und ganz dem Zustand, was sie, wie sie für mich ist, ohne wenn und aber, ausgesetzt bin. Ihrer Art des Sehens. Wenn es ihr nicht gut geht, geht es mir auch schlecht. Wenn es ihr schlecht geht, geht es mir auch schlecht. Daraus wird das Klingelschild gemacht, das nur immer wieder läutet, später, meine Art Verbindung, wenn es ihr schlecht geht, muss es mir schlecht gehen. Dass sie nicht alleine ist, soll auch ich erschrecken, wenn sie selbst andauernd doch erschrickt, soll doch ich mit ihr erschrecken. Dass sie nicht alleine ist, dass sie nicht alleine ist. Immer wenn die Klingel Angst, ihren Schrecken vor der Einsamkeit meldet, immer dann, wenn Mutter zusammenzuckt und erschrickt, schrecke ich mit ihr zusammen. Auch wenn nichts da ist, nichts was wirklich hier ist. Diese älteste Verbindung ist noch immer kurz geschlossen, wenn ich so erschrecke, dass ich denke, Mutter ist in Sorge und Gedanken. Auch wenn sie längst tot ist, bin ich dennoch in Gefahr. Ich bin über ihren Schreck verbunden, ihrer Art Erschrecken, mit der Phantasie, dass es eine Brücke, eine Art Verbindung gibt, zwischen unseren Welten, unserer Art von Schreckensbildern, dem Gefühl allein zu sein. In dem Augenblick des Wiedersehens, dass ich immer dann erschrecke, wenn sie wiederkommt. Ich erschrecke, wenn sie kommt und ich fürchte mich vor ihr. Immer wenn sie mich berührt, weil die Finger mich nicht mögen, wie sie mich berührt, immer tun sie weh, zwicken und erschrecken meine Beine, Füße, Schenkel, Bauch und Nabel, Arme. Was sie auch berührt, tut dann in mir weh. Sie ist mein Erschrecken. Niemals konnte ich mich vor der Mutter retten, vor dem Schrecken ihrer Augen. Sehe ich sie, höre ich sie, sehe ich die Augen in der Früh, sind sie angewidert, sind von der neuerlichen Aufgabe, mich zu wickeln, mich zu heben, mich zu füttern. Meine Beine, meine Augen sehen Überdruss, überdrüssig, lästig bin ich für ihr Schmatzen, ihre Augen kneifen wieder nur wie Zangen und ich muss die Beine spreizen, sie verreißen, Füße, ziehen, strecken, biegen, sie verbiegt mich ohne ein Gefühl, Gliederpuppe ohne Schmerzen, das gefällt ihr, dass ich lache, wenn sie mich zerkitzelt, dass ich mich verschlucke, Bauchweh davon habe, wenn sie nicht genug davon bekommen kann. Wie sie immer kitzelt und sich so aufheitert. Wenn ich weine, ist sie traurig, weil ich nicht mehr spielen will. Nicht mehr spielen wollen und für mich die Traurigkeit ergreifen, ist für sie das Zeichen, dass ich sie nicht mehr mag, dass ich ihr überdrüssig bin, ohne wenn und aber. Mutter ist jetzt auch beleidigt, dass es mich noch gibt, wenn ich nur da liege und von ihr erwarte, dass sie mich füttert. Sie ist ausgehungert, sie ist nur erschöpft von der großen Fütterei, sie ist ausgefressen, ich bin hier der Fresser und Vampir, der ihr ihre Schönheit raubt. Ich bin ihr Verbrecher, Räuber ihrer Brust. Sie ist immer nur mein Opfer, Opfer ist das Allerschlimmste, denn das wird sie immer bleiben, niemals eine andere sein. Immer wenn sie wiederkehrt an mein Bett, bin ich dafür verantwortlich, wenn sie Schmerzen hat, bin ich dafür schuldig, wenn sie aufwacht, bin ich ihr Auslöser und Aufwecker, ihre Art von Wecker. Immer ihr Erschrecker. Ich bin ihr Erschrecken, seit sie da ist, seit ich denke/fühle, Sinn habe, bin ich ihr Erschreckter, bin ich ihr verschreckter Sohn. Schrecken, Schrecken, ohne Ende, ohne eine Pause, jede Pause ohne sie, Schrecken ohne Pause. Ihre/meine Art Verbindung ist der Klang der Stille. Warten auf den nächsten Ton ist in jeder Stille auch enthalten. Warten auf den nächsten Schrecken. Niemand sah mich, niemand nahm mich wahr, in der Zeit der Stille, in der Todesstille, in der Wartezone, in der Zeit mit ihr allein. Niemand nahm mich wahr. Niemand nahm mich als gefühlsbegabt, als ein Wesen mit Gefühlen wahr. Niemand nahm mich Kind je ernst, mit der Fähigkeit zum Schrecken und Erschrecken. Niemand spürte meine Schrecken. Später sagte sie: Ist doch nichts, das bildest du dir doch nur ein, das hast du dir doch immer nur selbst eingebildet.

Wenn ich heute ihre Reaktion beschreibe, ist es immer ein Erschrecken, wenn ich sie betrachte, sie in mir belebe, immer schreckt sie sich vor mir. Sie erschrickt, wenn ich mich melde, wenn ich vor ihr auftauche, wenn auch nur im Traum, geht sie vor mir unter, muss sie untergehen. Ich war ihr Erschrecken, ich vertrieb sie, ließ sie selbst verschwinden, trieb sie in den Tod, bin für ihren Tod verantwortlich. Diese Lügen. Dass ich mit meiner Art von Tränen, immer wieder Weinen, ich als kleines Kind, sie verscheuchte, sie verscheuchen wollte, sie verscheuchen musste, dass ich mich doch eigentlich selbst damit, mit meinem endlosen Weinen, selbst schuld, allein gelassen habe. Mutter schob mir ihre Schreckensweise, Töne, die doch für sie zu allererst von Schrecken und für sie zum Erschrecken waren, zu; mir zu. Dass der schwarze Mann ihre Rettung wäre, ihre Art von Hilfe, ohne die sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Dass sich meine Mutter wehren musste, sich verteidigen, gegen mich, dass das Kind, das kleine Kind Täter und Verfolger ist, nicht die Mutter, oder Vater. Dass die Eltern sich selbst retten würden, wenn sie mich alleine lassen, und mich der Idee eines Rächers, eines schwarzen Mannes so aussetzten.

Dieser schwarze Mann war also ihre Art Erfindung, wie doch alles, was ein Schrecken war, ihre Art Erfindung war, vom alleine lassen, über Weinen lassen, und der Drohung, dass der schwarze Mann mich mitnimmt, mich mit nehmen würde, in sein Reich aus Schatten, Dunkelheit und Nichts.

Letztlich war das immer nur ihr Rächer, ihr Erretter, vor der eigenen Art von Angst. Letztlich war der Mann, ihre Art von Rache, ihre Art Verstellung und Vorstellung um nicht selbst hassen zu müssen, um die Wut auch gut verstecken zu können. Dass der schwarze Mann nun auch nur ein Böser ist, immer nur ein Böser, der das Böse rächt, der nur böse Kinder findet und heimsucht, und dann mit sich nimmt, in sein Reich der Schatten. Wenn ich das betrachte, ist die Phantasie ausweglos und von meiner Mutter. Sie erinnert an den Dunklen Ritter, Dark Knight, Batman. Sie ist keine Kinderphantasie. Immer sind es Schreckgestalten der Erwachsenen gewesen, hinter denen sie sich so versteckten, um uns zu erschrecken, um sich selbst nicht mehr zu fürchten, vor den Schrecken ihrer Kindheit, vor der fürchterlichen Angst, die sie selbst vor ihren Eltern hatten und erleiden mussten.

Ich habe keine Angst. Das bildest du dir nur ein. Nicht ich mache dir Angst, es ist der schwarze Mann, der dir Angst und Kopfzerbrechen bereitet. Ich habe keine Angst. Das ist nur deine Vorstellung. Das existiert nur in deiner Phantasie! Das bildest du dir nur immer wieder von neuem ein.

Sie lächelt. Sie schüttelt den Kopf. Es ist die gleiche Qualität des Kopfschüttelns und Zweifelns, an mir und meinem Gefühl, als ich voller Angst, vom Besuch des toten Jungen, der im Leichenschauhaus lag, nach Hause kam und auf dem Weg zur Toilette Geister von Verstorbenen suchte, selbst unter der Klobrille suchte ich und unter meinem Bett.

Die Geister, vor denen meine Mutter solche Angst gehabt hatte, waren jetzt in mir, und jetzt verleugnete sie nicht nur die Geister, sie verleugnete selbst das Gefühl der Angst, das sie mir erst entdeckte und in mich gesteckt hatte. Sie schob mich mit meiner Angst in das Reich der Phantasie ab, wo ich allein mit meiner Angst sein sollte. Und sie verleugnete mein Gefühl. Die Angst vor Unsichtbarem. Dass es etwas gibt, das ich nicht sehen kann, das es aber gibt. Im Grunde verleugnete sie jedes Gefühl. Dass Gefühle Wirklichkeit sind. Ich konnte nicht auf ihre Worte hören, als sie sagte, das würde ich mir jetzt nur einbilden. Da sei doch niemand. Sie sagte hier die Wahrheit. Ich konnte ihr jedoch nicht glauben. Wenn ich ihr nun auch noch Glauben geschenkt hätte, wäre ich verrückt geworden. Ich hätte mich vergessen und vollkommen auch verloren, in ihren Worten, Lügen, einerlei, in beiden Welten, der Heuchelei, die sie je nach Belieben ihres Herzens für mich erschuf. Mal gibt es böse Geister, mal sind sie Phantasie, mal bin ich selbst ein böser Geist, dann wieder guter Junge, mal will sie mich nicht sehen, und will nie mehr die Stimme, meine Worte hören, dann setzt sie mich still hin und sagt; nun sag schon, was dir fehlt!

Ich glaubte ihr, wie jedes Kind der Mutter glauben muss. Sie war die Phantasie. Sie setzte mich zu sich und ließ mich Filme im Fernsehen sehen. Sie zeigte mir Gespensterfilme. Sie ließ mich mit den Bildern dann allein. Ich musste unaufhörlich ordnen um nicht verrückt zu werden. Ich musste alle Bilder glauben. Ich glaubte nicht an Phantasie. Ich glaubte nur an Wirklichkeit. Ich hielt mich ohne wenn und aber an der Wirklichkeit mit allen Sinnen fest. Wenn ich hier selbst gezweifelt hätte, dann wäre ich verrückt geworden. Es gab für mich nur eine Wirklichkeit. Ich hatte keine Phantasie. Ich konnte mir die Phantasie niemals erlauben. Die Hefte, die ich las, sie waren alle Wirklichkeit, auch Filme waren Wirklichkeit. Es gab niemals die Phantasie. Ich konnte doch nicht unterscheiden, zwischen den Schmerzen, die mir meine Eltern zufügten und denen, die mir Bilder antaten, die ich sah und Geschichten, die ich hörte. Ich wurde gleichermaßen auch von fremden Bildern angegriffen. Ich konnte mich nicht wehren, denn ich konnte nicht unterscheiden. Ich war den Bildern wehrlos ausgeliefert, sowie ich der Gewalt meines Vaters und der meiner Mutter ausgeliefert war. Es war für mich alles eins.

Mutter hatte für mich den schwarzen Mann erschaffen und in die Welt gebracht. Meine Furcht vor ihm war schrecklich. Ich konnte nicht sehen, dass es ihn nicht wirklich gab, denn für mich gab es ihn. Ich hatte Angst vor ihm. Ich konnte als Kind nicht sehen, dass ich eigentlich schreckliche Angst vor meiner Mutter hatte. Und dass mich am meisten verwirrte, was mich beinahe auch um meinen Verstand gebracht hätte, war, dass sie lachte, und das später leugnete, was sie mir erzählt hatte. Sie leugnete, dass sie mir Angst gemacht hatte. Ich war mit ihr allein. Nie machte sie mir Angst im Beisein anderer. Ich war da stets allein.

Ich habe einmal gehört, dass die größte Leistung des Teufels darin bestünde, uns glauben zu machen, dass es ihn nicht gibt.

Meine Mutter gab es. Es gab den schwarzen Mann für mich, als eine Art Bedrohung. Ich hatte Angst vor meinen Träumen. Ich hatte im Grunde Angst vor meiner Phantasie, vor Phantasie im Grunde allgemein. Ich hatte Angst vor meinen Bildern, Vorstellungen und Gedanken. Ich hatte Angst vor dem Gefühl. Ich hatte Angst vor den Gefühlen. Ich hatte Angst vor dem Verlust der Wirklichkeit, dass ich doch plötzlich nicht mehr wissen würde, was wirklich ist, was nicht. Ich hielt mich fest am schwarzen Mann, an meinem Glauben. Ich musste das. Das Kind muss alles glauben, sonst verliert es den Verstand. Ich glaubte alle Lügen, ich glaubte sogar Heuchelei. Ich akzeptierte Heuchelei, die mich doch schrecklich auch verwirrte. Was anderen erlaubt ist, meinem Vater, meiner Mutter, sollte mir verboten sein. Was für sie möglich war und auch vorstellbar, das war mir nur verboten. Ich durfte auch nicht denken, was sie dachten. Ich durfte auch nicht fühlen, was sie fühlten. Ich durfte auch nicht hassen und mich wütend umschauen, und herumschreien. Ich durfte nicht, was andere durften. Ich lernte Heuchelei. Ich lernte heucheln und Heuchelei verbreiten. Ich konnte meine Wahrheit nicht erkennen. Denn wenn ich damals nur gesehen hätte, was ich sah, mit meinen eignen Augen, ohne ein Verständnis dafür außerhalb, die Bilder hätten mich gefressen, ich wäre von der Welt, dem Schrecken selbst verschlungen worden. Es wäre doch zuviel für mich gewesen. Ich nahm die Eltern wahr, als meine Rettung in der Not. So musste ich es halten. Ich nahm ein Wort, ein Schmunzeln schon als Rettung wahr, ich musste das wahr nehmen. Ich wäre sonst gestorben. Ich weinte schon bei ihrem näher kommen aus Erleichterung. Ich stellte mir die Mutter immer wieder vor, in Bildern, wenn sie nicht da war, in meiner Phantasie. Ich dachte unentwegt an meine Mutter. Ich musste das wohl tun. Ich dachte unentwegt an eine Art Verbindung, an eine Liebe über die Gedanken. An Liebe, die sich in Gedanken auch verbreiten und vermitteln kann, die ich verbreite und mir denke. Ich musste Liebe denken. Ich musste in der Phantasie an Liebe glauben, ich musste sie mit Phantasie verbreiten, so wie die Mutter mir den schwarzen Mann selbst nahe gebracht hatte. Dass es das gibt, dass dies doch möglich ist. Dass wenn ein schwarzer Mann mit Worten meiner Mutter möglich ist und für mich Wirklichkeit doch wird, die Liebe auch noch möglich ist. Wenn ich doch immer daran dachte, dass mich die Eltern lieben würden. Ich musste doch wie jedes Kind, an meine Liebe glauben. Ich konnte nicht als kleines Kind, die Wahrheit selbst erfühlen. Ich konnte doch nicht für mich merken, dass keine Liebe da war, wo ich lebte.

Ich hielt am schwarzen Mann selbst fest, ich musste das, denn wenn ich ihn verloren hätte, als Phantasie, als Schreckensmann aus den Erzählungen, dann wäre wieder meine Mutter selbst sichtbar geworden. Sie, hinter den Geschichten, als Urheberin. Diejenige, die mich in Angst und Schrecken erst versetzte. Kein Schwarzer Mann. Kein dunkler Ritter. Kein Rächer und kein stummer Gast an meiner Seite. Kein Unheil, das mit Schattenschleiern fliegt und sich auf meine Erde senkt, mein Bett bedeckt, in dem ich schlafe. Kein Unheil, das ich mit eignen Augen nicht erkennen kann.

Der schwarze Mann war meine Mutter und sie verbindet jedes Tun, verkabelt und schließt kurz, verbindet mein Gehirn mit ihrer Angst. Ich hing mit Mitleid an der Mutter, und sie vernetzte jeden Schritt mit Angst, Verlust und wieder Angst. Denn sie verknüpfte jede meiner Taten mit ihrem Verschwinden. Wie sollte ich wütend werden, ich hatte viel zu viel Angst um sie, für mich. Ich hatte immer viel zuviel Angst vor ihr, um wütend zu sein. Ich hatte Angst vor ihr. Sie verbindet meinen Atem, meinen Atemzug mit ihrer Angst, jeden Ton mit Angst vor Schlimmerem; zu Hause bin ich angreifbar, jeden Augenblick. Ich hörte sie, wie sie vor allem Angst hatte, wie sie mir vor allem Angst machte. Sie spielte später mit meiner Angst und war sich sicher um den Schmerz und dass ich Mitleid, Mitgefühl ihr gegenüber zeigen musste. Sie spielte mit mir Spiele, in denen sie verschwand, unsichtbar wurde, selbst zum Gespenst. Sie rief, gab Laute von sich, trampelte, sie führte mich mit Tönen, Lauten, an der Nase herum, und ließ mich nach ihr suchen. Ich suchte sie und fand ich sie, tat sie erschrocken und fing zu lachen an. Wenn sie erschrak, dann lachte sie, sie lächelte. Ich folgte ihr auf Schritt und Tritt und in Gedanken, damit ich ihre Spur nicht mehr verlieren würde. Sie quälte mich mit ihren, „Such die Mutter Spielen“, und hatte Spaß dabei und ihre Freude war besonders groß, wenn ich zum Schluss mich an sie klammern wollte und ihre Beine fasste. Dann lachte sie entzückt und wich doch aus, sofort, du kitzelst mich! Das kitzelt doch! Das sagte sie und ging und ließ mich stehen. Ich konnte ihr nicht näher kommen, weil sie das nicht erlaubte.

Ich hatte vor ihr Angst und ihren Spielen UND ohne sie. Ich hatte Angst vor ihrer Abwesenheit, wenn sie weg ging, weg war. Ich musste sie doch lieben, weil ich auch ohne sie Angst hatte, wie jedes Kind, allein gelassen.

Vor ihr und ohne sie.

Die Angst vor der Mutter, das ist die Angst um sie, das ist das Mitleid haben müssen, um zu überleben. So war auch meine Angst um den Vater, meine Sorge um sein Wohlergehen immer auch identisch mit meiner Angst vor ihm und seinen Schlägen, Richtersprüchen und Befehlen.

Die Sicht auf diese Art Verhalten, befreit das Kind von seiner „Schuld“. Es fühlt zum ersten Mal, dass es nichts damals ändern hätte können. Das Kind, ich Kind, wie jedes andere, wir haben nie versagt. Wir konnten gar nicht anders, als Mitleid haben, aus Angst vor unsren Eltern und Sorge voller Angst um sie. Sie hörte niemals auf, mir Angst zu machen, mit ihrer Art Verschwinden. Sie konnte sich da sicher sein, dass ich ihr niemals wirklich böse und wütend gegen sie sein würde. Ich konnte, voller Angst vor ihr, um sie, in Sorge um mich selbst nicht wütend sein. Sonst wäre ich allein und würde niemals wieder lachen. Dir wird das Lachen noch vergehen, war eine ernste Drohung.

Angst vor der Mutter ist für ein Kind gleichbedeutend mit der Angst um die Mutter. Es ist die natürliche Lebens und Überlebensreaktion, das Klammern an die Mutter. Ich musste Mitleid haben, kein Kind kann etwas anderes empfinden. Ich musste gleichzeitig Angst um sie auch haben, dass sie in Wirklichkeit verschwinden könnte. Sie spielte mit der Angst, die ich vor ihr und um sie hatte.

Angst vor der Mutter, ist Angst um die Mutter. Als Kind konnte ich den Unterschied nicht fühlen, weil das Gefühl identisch war. Die Angst für mich. Ich konnte das nicht trennen und unterscheiden, weil es sich für mich identisch anfühlte.

Erst als Erwachsener kann ich mich sehen und unterscheiden. Wie schrecklich ich gefangen und verfangen war in dem Dilemma Angst. Wie ohne eine Möglichkeit ein Kind doch ist, wenn es nie ohne Angst sein darf, weil sich nur immer wieder seine Angst als Angst dazu, um seine Mutter, damit erneuerte. Das Kind trifft keine Schuld. Das ist die Unschuld doch, dass ein Kind lieben muss, aus Angst um seine Eltern, die aus der Liebe um sich selbst, aus seiner Sorge um sein Leben, geboren ist. Es kann nicht anders, als zu lieben.