Wie ich mich beneidete. Wie ich mich bewunderte, als ich auf die Toten nieder sah. Liegen sah ich sie unter goldenen Tüchern. Licht, alles war voll Licht. Keine Furcht, keine Warnung war in mir, als ich all die Toten wieder sah, in der früh, zwischen 3 und 4. Mich bewunderte ich dort. Meine Fähigkeit, jetzt so über Leichen schauen. Meine Freude dort, an der Unfallstelle. Endlich war das Leiden aus, endlich war das Unglück ohne Ende, endlich war der Unfall da, endlich wurden Vaters Zeichen Wirklichkeit. Vaters Welt war da, alles hell erleuchtet. Mutters Welt erschien, alles strahlte. Alles war erleuchtet. Ihre Welt, die sie mir beschrieben hatten, war erschienen. Auf der Erde, nicht im Himmel, hier auf dieser Straße, etwas außerhalb der Stadt, lagen tote Menschen unter goldnen Planen. Ihre Füße noch mit Schuhen, schauten unten raus. Feuerwehr war da. Sanitäter, Leichenwagen. Eine Insel voller Licht, ringsum Felder ohne Schatten, dunkel, ohne Wind, ohne eine Richtung. Wie auf hoher See war es hier, ist es hier gewesen für mich und mein Sehnen. Endlich war das Unglück da, endlich war es hier gelandet, endlich sahen auch die anderen, dass es Unglück gibt, dass es kommen kann, aus der Mitte unsres Herzens, aus der Freude, aus der Mitte eines Augenblicks, ohne einen Hinweis, ohne eine Reifenspur, ungebremst, war der Wagen gegen Pfosten, schleuderte und verfing sich zwischen Bäumen, überschlug sich mehrmals und die Menschen wurden aus dem Wrack geschleudert. Keine Menschen, Tote lagen unter Planen. Mich erschauderte die Sicht, dass es Menschen unter Toten gibt, dass es Tote unter Menschen gibt, dass es beides ohne eine Sehnsucht, ohne ein Verlangen, ohne einen Hinweis auf das Leben vorher gibt. Hier lag nun das Unglück, ohne ein Erinnern, bloßen Auges aller Anwesenden. Niemand fühlte sich verantwortlich. Schuld war nur bei diesen Toten. Ich versank in meinem Blick, wollte näher an die Toten hin, wollte diese Schuhe näher sehen. Hatte schon Erfahrung mit den Toten. Endlich war ich auch erfahren, endlich war die Welt und das Unglück auch auf meiner Seite. Endlich hatte ich die Scheu verloren, endlich war ich nicht allein. Hier war ich bewundert, meine Freude, die ich zeigte, über diesen Unglücksfall. Niemand spürte meine Kälte, niemand kam auf die Idee, dass ich ohne jede Ahnung war, für das Leben eines Toten, für das Leben dieser Menschen, noch lebendig noch vor einer Stunde. Ich kann mich nicht kitzeln, ich brauch mich nicht kneifen. Wenn ich über Leichen gehe, wenn ich über Leichen schweifen kann und nichts mehr mein Herz erreicht, wenn ich mich hier freuen kann, dass es etwas gibt, das ich in mir wieder finde, dass hier alles ist, alles was mein Herz begehrt. Dass die Toten meine Welt bestätigen, dass sich alles, was hier ist, wieder, wieder findet, ohne einen Zweifel, Widerspruch, ohne den Gedanken eines Fehlers. Hier im hellen Licht, war die Welt perfekt, meine, die ich immer schon erwartete. Hier war endlich etwas echtes, nicht mehr nur Gedachtes, Ausgedachtes und Erfundenes. Hier war meine Welt, die ich in mir trug, erschienen. Wie ein Raumschiff, mit den für mich wohlbekannten Fremden. Meine Außerirdischen. Feuerwehr und Tote. Endlich war das Unglück auch für andere da. Sichtbar wie ein Feuer, in der Nacht, ohne eine Trübung, ohne einen Schatten. Jene, die neben mir standen, wendeten sich ab, wollten nicht mehr länger bleiben. Ich blieb stehen, wollte länger bleiben. Wiedersehensfreude fühlte ich, mit dem Unglück und den Toten. Endlich war das Leid vorbei.
Seht, so ist das. Seht dort hin, wie die Schuhe sich verdrehten, wie das Bein gebrochen wurde. Seht die Dinge dort am Boden. Seht wie weit das alles fliegt. Seht doch endlich die Zerstörung. Seht doch endlich unser Schicksal. Seht doch endlich euren Tod. Seht doch endlich, was da steht, auf der Straße, ohne Worte, seht doch das Vermächtnis, seht, was Gewalt bedeutet, seht mit welcher Kraft alles sich zerstören kann, und nun auch für immer tot ist und vergessen. Seht, dass nichts geschieht, seht, dass niemand etwas tun kann jetzt. Seht doch endlich, was passiert, jetzt in dieser Stunde. Nichts. Keine Engel auf der Straße, keine Tränen, die vergossen werden. Keinerlei Gespür für die Überlebenden. Keinerlei Gespür für das Überleben. Ich erkannte alles wieder und nun war ich ohne Zweifel, dass die Welt erschaffen wurde, nur um dies hier zu begreifen, dass ich ohne Hoffnung bin, dass ich ohne Hoffnung war, dass es keine Hoffnung gibt, weil es nur uns gibt, weil es uns so gibt, wie ich das beschreibe, wie ich immer schon das sah, dass hier keiner war, der die Liebe kannte.
Ich ermahnte, ich verwarnte, ich beschwor mit meiner Freude über dieses Unglück und die Toten, wie mein Vater, wie die Mutter immer schon, das Gesetz der Rache, das Gesetz von Strafe, Ordnung und Gehorsam. Dass es dazu kommt, kommen muss, wenn man nicht gehorsam gegenüber der Natur des ewig schuldig seins, sich vorsichtig stets verhält. Ich erkannte nur Gewalt, ich begriff auch nur Gewalt. Ich erkannte meine Schöpfung, endlich einen Plan, eine Art Erfüllung, dass die Welt so ist, wie sie mir schon immer war. Ohne eine Rührung, ohne ein Bedauern über ihr Verschwinden. Ohne eine Widerrede. Nichts und niemand redete dagegen, keiner war hier, der Empörung zeigte. Was mich hier beglückte, war, dass ich keine Angst verspürte. Dass mich nichts hier schreckte. Meine Unglücksbilder waren alle hier vereint, lagen hier verstreut, auf dem Boden, hingen in den Büschen, lagen unter Planen. Alle meine Ängste waren anwesend. Endlich war die Ruhe da, die in mir vorherrschte, jene Einsamkeit und Stille, endlich war ich außerhalb. Denn hier war mein Ebenbild, alles was ich fühlte, alles war hier hingelegt und geordnet, ungeordnet. Archiviertes Grauen. Zufall und Notwendigkeit. Wie ein Traum, wie im Traum auch inszeniert. Dies war meine Seele. Was ich von den Menschen wusste, wie sie für mich waren. Hier war Zukunft und Vergangenheit. Hier war ich geborgen, endlich nicht allein, endlich ohne Sorgen. Hier ging alles unter. Hier erst schnitt ich mit dem Blick, den ich über alles legte, in das Fleisch der anderen, hier ergötzte ich mich meines Schmerzes, hier verlachte ich den Schmerz. Hier verließ ich mich, wie ich triumphierte über alles selbst Erlebte. Hier begrub ich meinen Zorn und auch meine Wut über alle Schmerzen. Hier verlachte ich das erste Mal auch die alten Fragen, die noch in mir waren, die ich stellen wollte, nach dem Grund, nach der Ursache, nach dem Sinn meiner Art Gefühle. Hier verlachte ich mich selbst, fand mich selbst zum Lachen. Hier verlachte ich das Leid. Hier begann ich endlich alles zu verachten, alles was sich selbst mehr als nichts bedeutete. Hier erschuf ich meine Rettung, triumphierend über diesen Ort, über diese Stelle, über alle Toten und die Lebenden. Hier ergriff ich endlich für mich Rache, dass die Strafe aller, nur am Unglück ihres Herzens liegt, Angst vor ihrem Tod zu haben. Angst vor ihren Schmerzen. Hier verließ ich meinen Tod, hier verließ ich meine Angst. Hier beschloss ich für mich selbst, ganz egal, was auch je passieren würde, nichts kann mich mehr schrecken. Ich bin jetzt immun. Ich bin nicht ergriffen, nie mehr bin ich für euch wirklich da, niemals werde ich euch wieder näher kommen. Ich will mich entfernen.
Ich begriff und lernte, intonierte jedes Wort, das ich hörte, ohne das zu wissen, in mir nun ein weiteres Mal und verwandelte mich selbst, ohne das zu fühlen; ohne Rührung sein und bleiben.
Was ich hier tat, was ich mir antat, ohne das zu wissen, auch ohne dass ich damals irgendeine Ahnung davon hatte. Ich tat das, was der Vater und die Mutter immer taten, wenn ich mich gegen meine Schmerzen wandte und gegen meine Eltern war, gegen ihre Art und Weise, wie sie mich behandelten: ich verlachte und beschämte meine Wut, meine gute Kinderwut, meine Reaktion auf die Schrecken und die Angst, auf den Zorn des Vaters, seine blinde Wut, auf die Heiligkeit und den Trübsinn meiner Mutter. Meine Wut hat mir geholfen, nur die Eltern wollten sie nicht sehen. Sie erklärten mich für lächerlich, lachten über mich und meine Schrecken, nahmen mich nicht ernst. Ich verlachte meinen Ernst, mein Gefühl des Grauens dort an der Unfallstelle, für die Menschen, alle die dort waren. Ich verlachte mich, mit den Mitteln meiner Eltern, ohne dass ich davon etwas wusste. Ich war, wie sie immer waren, nur zum Lachen fähig, nur zum Überlachen aller Schmerzen und Gefühle, die sich mir dort zeigen wollten. Ich verlachte meine Fähigkeit, ohne das zu wissen, für die anderen zu fühlen, ohne dass sie etwas auch für mich empfanden. Ich verlachte, wie sie das mit mir auch taten, meine Fähigkeit zur Empathie. So verschwand die Wut, so verschwindet jede Kinderwut, wenn sie nicht ertragen werden kann, wenn es keinen gibt, der sie sieht und stets als das erkennt, was sie ist, eine Macht für sich, reiner und vollkommen unschuldiger Selbsterhaltungstrieb. Ohne diese Fähigkeit kann ein Kind für sich nicht überleben.
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