Ich sah das Unglück und sah wie alle nur das Unglück sahen, in mir und meinem Tun. Ich sah, wie ihre Augen mich ein Unglück nannten, wie ihre Augen mich verdammten. Ich sah, wie alle mich verließen, in meiner höchsten Not. Ich sah, wie alle vor mir standen und laut das Unglück in mir sahen.
Du kannst von Glück reden, dass deine Schwester noch am Leben ist.
Ich sah kein Glück und musste es für meine Mutter sehen.
Dein Vater hätte dich umgebracht.
Ich glaube meiner Mutter und kenne meinen Vater.
Ich schaue sie jetzt an und atme wie ein Hase, den seine Angst am Körper fasst. Ich zittere. Sie sieht mein Zittern nicht, sie hat es nie bemerkt. Sie hat die Schwester auf dem Arm, das kleine Mädchen, die Augen weinen leise, die Augen sehen furchtbar aus, die Adern sind geplatzt, die Augen schauen aus wie kleine Höhlen, die aus dem Boden wachsen. Ich sehe in die Augen meiner Schwester und sehe Glück, dass sie am Leben ist. Dass sie am Leben ist, das ist mein Glück.
Vor dem Zimmer ist ihr der Apfel aus dem Mund gefallen. Ihr Gesicht war blau. Wenn sie das nicht gemacht hätten, hat der Arzt gesagt, dann wäre ihre Tochter jetzt schon tot und erstickt.
Ich habe Glück. Ich habe Glück. Ich höre, was sie sagt und höre nichts. Ich höre, was sie sagt und höre nichts.
Ich habe sie gestürzt und bin mit ihr die Treppe runter gerannt und habe ihr immer hinten drauf geschlagen. Was hast du dir nur gedacht?
Ich sage nichts. Ich bin der Glückliche. Ich hatte Glück, dass meine Schwester nicht gestorben ist. Ich sehe ihre Augen. Sie kennen mich nicht mehr. Sie können meine Nähe nicht mehr sehen.
Was hast du dir nur dabei gedacht?
Ich wollte, sage ich.
Das reicht mir schon. Dich auch noch rauszureden. Ich muss das deinem Vater sagen, das weißt du doch. Was der mit dir anstellt, das kann ich dir nicht sagen. Ich kann dir jedenfalls nicht mehr helfen. Wenn ich früher für dich ein gutes Wort eingelegt habe. Hier kann ich das nicht mehr. Sieh dir nur ihre Augen an. Sieh dir nur ihre Augen an!
Ich sehe Augen, Augen, Punkte, die geplatzten Augenadern. Wo sie keine Luft mehr kriegte, kamen ihre Augen… Erst ersticken…
Sie, sage ich.
Was hast du dir dabei gedacht!?
Nicht, hat nicht mehr geatmet. Keine Luft bekommen, will ich sagen, aber sag es nicht. Wir haben nur gespielt. Ich reiche ihr das Apfelstück und sie nimmt das in den Mund und ich versuche das zu klauen. Ihr wieder aus dem Mund zu stehlen.
Ich sitze immer noch, seit einer halben Stunde schon, auf meiner Bettkante, ohne Unterbrechung, ohne dass ich mich bewegte.
Was hast du dir nur dabei gedacht, deiner Schwester in den Mund zu fassen?
Mutter schüttelt ihren Kopf.
Und du kannst von Glück sagen, dass ihr nichts bleibt. Wie viele behalten einen Gehirnschaden, wenn sie keine Luft bekommen. Wie viele Babys gibt es, die als Idioten auf die Welt kommen, weil sie keine Luft bekommen haben.
Ich versuche meine Stellung auf dem Bett nur ein wenig zu verändern, weil mir meine Beine eingeschlafen sind. Ich verstecke meine Hände und erwarte keine Hilfe.
Das scheint dich völlig kalt zu lassen. Was geht dir nur durch deinen Kopf. Du bist doch sonst so schlau.
Ich versuche nie mehr schlau zu sein. Nie mehr klug, auch nicht ein bisschen.
Geht ins Gymnasium und weiß nicht, dass man seiner Schwester keinen Apfel in den Rachen steckt. Was bringen sie euch eigentlich bei.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was sie mir beibringen. Ich weiß es nicht, ich habe keine Antwort auf die Fragen meiner Mutter.
Du kannst von Glück sagen, dass das hier so ausgegangen ist und dass ich so geistesgegenwärtig war.
Ich sage, Danke. Danke, und schaue in den Boden. Ich versuche nicht erleichtert auszuatmen. Ich versuche keine Erleichterung zu zeigen. Mutter würde das nicht mögen, dass ich jetzt Erleichterung ihr zeige.
Du solltest dich schämen.
Ich schäme mich. Ich werde nie mehr etwas tun.
So was darfst du deiner Schwester nie mehr wieder antun.
Ich schaue und schaue. Ich schaue.
Hörst du!?
Sie schaut als wäre sie ertrunken. Ihre Augen sind aus Wasser und ihre Ränder sind aus Schilf. Ihre Augen sind aus Wasserfarben und die Seerosen sind aus ihren Augenrändern. Meine Schwester schaut wie eine Tote, wie ein Junge, den ich schon gesehen habe. Mit den aufgerissenen Augen. Meine Schwester hängt an meiner Mutter.
Ich muss das deinem Vater sagen. Das verstehst du doch. Ich kann dir dabei nicht helfen. Das geht nicht.
Ich nicke. Mein Unglück.
Zum Glück für dich, hat sie keine bleibenden Schäden.
Ich schaue. Ich schaue. Ich werde nie jemandem erzählen, dass ich gebetet habe, dass Gott meine Schwester leben lassen soll. Ich werde das nie jemandem verraten, dass ich Gott um Hilfe angefleht habe.
In allerletzter Sekunde.
Ich rede mit mir. Ich habe gerufen, Mama, Mama. Was wäre geschehen, wenn sie nicht da gewesen wäre? Ich kann nicht wegschauen. Ich werde mich nie mehr beklagen. Ich werde nichts mehr tun. Ich werde mich nie mehr beklagen. Ich will auch immer brav sein. Ich bete zu Gott. Ich bete zu Gott. Ich werde nichts mehr tun.
Ich werde mich nicht mehr beklagen.
Was hast du dir nur dabei gedacht!
Mutter schüttelt den Kopf und geht mit meiner Schwester auf dem Arm aus meinem Zimmer. Sie weint jetzt wieder und wird getröstet. Sie spricht mit ihr. Sie spricht mit ihr.
Ich stehe auf und gehe zum Fenster und schaue auf die Straße. Die Menschen sagen nichts. Sie gehen ohne mich. Sie wissen nichts von mir. Sie werden nichts erfahren. Niemand darf etwas erfahren. Niemand weiß, dass ich nicht mehr atmen wollte, dass ich auch die Luft anhalten wollte, bis sie wieder atmete. Dass ich mutig, ihre, meine Luft anhielt. Dass ich immer weiter betete, dass ich ihre Schritte hörte, dass ich ihre Tränen hörte, dass ich ihre Schritte hörte, dass ich da erst wieder atmete. Dass ich sie kommen hörte, dass ich mich nicht eher rührte, und auch dann nicht, als sie schon bei meinem Bett und vor mir standen. Dass ich nie mehr wieder etwas tue, das mit Lachen anfängt. Das mit Sterben endet. Das mit Unglück anfängt. Nie mehr wieder sterben. Ich werde mich nie mehr beklagen. Ich werde nie mehr klagen.
Ich möchte das jetzt los sein. Ich werde nichts mehr tun, was mich betrifft. Ich werde nichts mehr tun von mir aus. Ich höre alles an. Ich höre allem zu. Niemand wird mich hören, sehen.
Ich fürchte jeden Augenblick, vom Zeitpunkt ihres Schnappens an, nach Luft, nach Luft. Sie dreht den Kopf und schaut in meine Augen, und schaut in meine Augen, und dreht den Kopf und greift in mein Gesicht, und greift in mein Gesicht. Sie greift nach meiner Nase und ich suche ihren Mund, der vor mir ist, weit offen ist, weit offen ist, und finde ihn verschlossen, weil sie nicht schreit, nur in sich keucht, nur in sich keucht, und nicht die Luft, und nicht die Luft, und keine Luft bekommt. Ich schreie nach der Mutter, wie ich schon lang vergessen habe, dass ich nach meiner Mutter schreien kann, dass ich nach meiner Mutter schreie, das habe ich so lange nicht gewollt, dass ich nach meiner Mutter schreie. Sie rennt, ich achte jeden Augenblick auf jeden ihrer Töne, bis sie anfängt die Luft nicht zu erreichen, wie ihre Schritte sind, wie sie mir meine Schwester aus den Armen reißt und sie dann stürzt, mit dem Kopf voraus in den Boden schauend. Wie meine Schwester keine Luft bekommt, schaue ich, bis meine Schwester wieder Luft bekommt, schau ich aus keinem Fenster, vor mich schau ich, vor mich hin, schau ich, vor mich hin, da ist die Tür, die Mutter ist nicht weg, nicht weg gewesen, nicht weg gewesen, welch ein Glück, dass ich nicht hier allein, nicht ich allein, sonst müsste ich schon jetzt aus meinem Fenster springen, Glück habe ich, nur jetzt, und wenn die Schwester stirbt, dann muss ich aus dem Fenster springen, ich denke schon, dass ich das muss, weil niemand mich am Leben will, sie werden mich nie mehr betrachten, niemand wird mich jemals betrachten wollen. Ich sehe, ich sehe auf den Vater, und auf die Mutter sehe ich, ich sehe eine Dringlichkeit, die sich entscheiden muss, am Überleben meiner Schwester, das was ich tue, tue ich, nicht um zu überleben. Ich überlebe nicht, das ist nicht, was ich fühle, ich fühle meine Schuld, und meinen Vater kommen, ich fühle meine Mutter und den Vater. Ich fühle nichts von mir. Ich bin an meinen Vater angebunden und fühle nichts in mir. Ich bin an Mutter fest gebunden, an ihre Augen und die Art, wie sie mich ansieht nach der Schuld. Wie sie mich ansieht nach der Schuld, das ist mein Weiterleben, wie sie mich ansieht nach der Schuld, was ich zu sagen habe, was ich zu sagen habe, das ist nicht wahr. Nicht wahr, dass ich nicht war, dass ich nicht war, nicht war, nicht, nicht, nicht glaube, weiß, nicht weiß wie sie, wie sie, wie sie die Luft bekommen kann. Ich atme für sie, für sie, ich atme für sie, kann ich nur mehr atmen. Ich fürchte jeden Augenblick und bin dabei nicht hier, ich fürchte meinen Augenblick und atme nicht in mir. Ich atme aus dem Körper, ich atme aus und huste. Ich fühle nichts. Ich fühle nichts als Angst, ich habe keine eigne Seele. Ich habe keine Seele. Ich habe keine Seele. Ich warte auf die Seele. Ich warte auf die Seele, dass sie mir sagt, wie ich mich fühle. Ich warte auf die Seele. Ich warte auf ihr Kommen. Ich warte auf die Richter. Ich warte auf Verrat, ich warte auf Verrat. Ich warte auf Verraten, ich warte auf die Richtersprüche, ich werde nichts verraten, wer ich auch bin, ich werde nichts verraten. Ich werde mich nicht melden, mich nicht mehr melden. Ich werde nichts verleugnen, ich werde keine Widerworte sagen. Ich werde nichts mehr sagen. Ich bin in mir und niemand wird mich sehen.
Ich warte auf den Vater. Ich wäre gerne woanders. Ich wäre gern ein anderer. Ich warte leise. Ich bin so leise wie möglich, damit Vater mich nicht hört, bevor er zu mir kommt. Er soll mich nicht hören. Ich will mich nicht verraten. Ich werde auch nichts sagen.
Vater kommt.
Mein Herz ist ein Brummen und meine Brust tut weh. Ich würde gerne Husten, aber das traue ich mich nicht. Vater hasst Husten, wenn ich mit ihm rede.
Ich will nichts hören. Nichts was du zu sagen hast. Deine Mutter hat mir alles schon erzählt. Du brauchst dazu überhaupt nichts sagen.
Jetzt würde ich gerne etwas sagen, aber er will nichts hören.
Du kannst von Glück sagen, dass deine Mutter da gewesen ist.
Ich schaue.
Hast du gar nichts dazu zu sagen!?
Ich sage nichts.
Wie deine Schwester nur aussieht. Schau dir nur ihre Augen an!
Ich…, sage ich.
Ich will von dir nie wieder Klagen hören. Verrat mir nur eines. Was hast du dir dabei überhaupt gedacht? Deiner Schwester einen Apfel in den Schlund zu schieben? Soll das witzig sein? Ist das deine Art von Humor. Sollte das witzig sein? Wie würde es denn dir gefallen, wenn ich dir einen Apfel in den Rachen schiebe und du bekommst keine Luft mehr?
Ich schaue.
Dazu fällt dir nichts ein. Du hast doch sonst immer so eine große Klappe. Das Maul aufreißen und dann, wenn es darauf ankommt, nach der Mutter schreien. Wenn deine Mutter nicht gewesen wäre, wäre deine Schwester jetzt tot.
Ich schaue nicht in seine Augen. Ich bin schuld. Dass er mich nicht schlägt, macht mich ärmer als ich bin. Macht mich so allein, wie ich Mutter gegenüber bin.
Das könnte dir so passen.
Er sieht.
Du denkst, ich schlage dich.
Vater lacht.
Ich schnaufe, so dass er nicht hört, dass ich ausatme.
Du denkst zuviel. Das kommt davon, wenn man zuviel denkt. Du denkst immer, du bist schlauer als die anderen.
Ich darf nicht hassen, denke ich.
Ich weiß nicht, was ich mit dir noch machen soll. Wenn das so weiter geht, werden wir dich in ein Heim stecken müssen.
Ich will in kein Heim. Bitte in kein Heim. Ich sage nicht, bitte in kein Heim. Ich erbitte nichts. Ich flehe Vater nicht an. Ich bitte um nichts. Ich bitte um keine Gnade. Wenn Vater mich töten will, tut er das, aber ich bitte nicht um Gnade. Das gefällt Vater nicht. Um das Leben winseln, wie ein Hund. Das mag Vater nicht. Er mag aber auch nicht, wenn ich nichts sage. Er mag nicht, wenn Menschen nicht das tun, was er von ihnen will.
Ich weiß nicht, ob dir das eine Lehre sein wird. Ich hoffe es jedenfalls. Du kannst von Glück sagen, dass du so damit davon gekommen bist. Mein Vater hätte mich totgeschlagen.
Ich werde nichts mehr sagen. Nur mehr das nötigste. Schon etwas. Nicht nichts, denn das würde ihn nur wieder wütend machen, wenn ich keine Dankbarkeit zeige. Meine Dankbarkeit, dass ich danke sage, wenn er mir etwas gibt. Wenn er mir von sich aus etwas gibt, freiwillig, ohne dass ich einen Wunsch geäußert habe.
So jetzt habe genug von dir. Ich will dich heute nicht mehr sehen. Du bleibst in deinem Zimmer. Du kannst mit uns Essen. Fernsehen gibt es heute und die nächsten Tage keines.
Niemand wird etwas erfahren. Niemand wird mir anmerken. Niemand wird etwas merken. Ich will kein Glück, ich will kein Unglück.
Und hör auf so zu schauen, als wäre dir etwas geschehen. Du wärst nicht beinahe erstickt. Dir ist nichts geschehen.
Ich mache auch keinen Lärm mehr. Ich werde mich nicht mehr bemerkbar machen.
Hör gefälligst auf so weinerlich zu schauen.
Vater lacht. Ich muss mich freuen. Ich bin kein Opfer. Ich bin kein Opfer. Ich darf kein Opfer sein. Ich bin kein Opfer.
Ich muss von Glück reden, ich muss ans Glück denken. Ich muss von meinem Glück reden.
Ich darf keinen Schmerz zeigen, keine Regung des Schmerzes, keine Unglücksregung. Ich bin nicht der, der klagen könnte. Ich bedecke meine Wut mit Schuld. Ich begrabe meine Wut. Ich bedecke mich mit Schuld. Ich begrabe meine Wut. Ich begrabe mich mit Schuld. Schuld gräbt sich in mein Gedächtnis. Wut schaufelt sich sein eignes Grab. Ich begrabe meine Wut. Wut ist meine Schuld. Schuld ist meine Wut. Ich begrabe mich mit meiner Wut. Ich begrabe meine Hoffnung. Ich begrabe mich mit Wut. Ich begrabe mich. Wenn ich meine Wut verspüre, greift mein Finger in den Mund. Meine Schwester wird dann sichtbar, mit den Augen in der Erde, mit den Höhlenaugen, die mir in der Nacht erscheinen und mein Schrei erstickt. Wenn ich meine Wut ergreife, wird mein Schrei erstickt. Wenn ich meine Wut ergreife, stirbt die Wut von selbst. Wenn ich meine Schuld begreife, stirbt die Wut von selbst. Ich verrate keine Wut, ich verrate keine Schuld, ich verrate mich nie mehr. Ich verrate meine Wut, ich verrate mich nicht mehr. Niemand wird mich mehr verraten, morgen bin ich ohne Wut.
Es tat mir leid, schrecklich leid und ich hatte Angst, und niemand wollte das sehen, wie klein ich war und wie unscheinbar und wie unsichtbar schon. Mein Leid war für Mutter und Vater unsichtbar. Für meine Eltern gab es nie ein Gefühl von mir, scheinbar erwarteten sie auch keines. Sie ließen mir auch keine Zeit, während ihrer Anwesenheit, mich zu hören, mich etwas sagen zu lassen. Vater redete meine Gefühle in den Keller und redete immer nur von Schuld. Er wollte nichts von mir hören, nichts von mir vernehmen. Sein Interesse galt der Beschuldigung, mir, der eindeutigen, offensichtlichen Wahrheit, ohne Zweifel. Vater genoss seine Macht und meine Wenigkeit, ohne ein Mitgefühl für mich. Er sah, meine Mutter hatte sie eben sowenig gesehen, meine Seelennot nicht. Er wollte von mir keine Entschuldigung oder Anteilnahme. Er wollte kein Wort hören von mir.
Es interessiert mich nicht, was du zu sagen hast.
Es bin ich. Vater wollte eine vollkommene Kapitulation. Meine vollkommene Unterwerfung.
Vater schnauft beleidigt. Er will mit mir nichts zu tun haben. Er will von mir keine Äußerung hören und sehen. Überhaupt keine. Vater vereist und friert mich ein. Vater will mich still und ohne ein eigenes Wort. Er bedeutete mir, ich sollte gefälligst alles für mich behalten. Mein Vater, wie auch die still zuhörende Mutter im Nebenraum, die jedes Wort hörte, was mein Vater sprach, lehrte mich, verlangte, befahl, dass ich gefälligst mit mir, in mir allein zurecht kommen solle, allein und ohne einen Menschen, so wie er es, das wusste ich schon lange, auch einmal lernen hatte müssen vom Krieg und von zu Hause.
Ich lernte nichts von mir zu verraten, am allerwenigsten mich selbst zu verraten, sich selbst zu verraten, wie verzweifelt nötig ich einen Menschen gebraucht hätte, der sich um mich kümmerte. So ein Kind wie ich, verrät schließlich nicht einmal sich selbst, wie allein es ist. Das Kind kann sich das nicht verraten, weil es sonst nämlich wieder und wieder fühlen würde, wie allein gelassen und von seinen Eltern verraten dieses Kind von Anfang an gewesen ist.
Du sollst nicht merken, ist der größte und einzige Schutz, den dieses Kind noch hat, der einzige Rat, den seine Eltern ihm als Hilfestellung in der Not mitgegeben haben. Du sollst nicht fühlen, war schon immer der Rat und die Hilfe des Vaters und der Mutter gewesen.
Wenn das ehemalige Kind seinen Schmerz wieder erfährt, ohne die Wut auf die Eltern, bleibt es in seinem Schmerz wieder so kalt und allein wie ehedem. Dieses Kind braucht die berechtigte Wut wie nichts sonst. Etwas, das es nie haben durfte.
Di soidat ma vakehrt rum aufhänga, dann dad da dei Schreiarei allmählich scho vageh (Man sollte dich verkehrt herum aufhängen, dann würde dir deine Schreierei allmählich schon vergehen)
Die Wut richtet deine Augen auf deine Sinne, auf das Wesentliche, auf das Wesen selbst. Das wieder fühlende Kind, das aus der Kälte zu sich selbst zurückkehrt, kann erstmals das Eis und die Kälte der Eltern in ihm selbst fühlen. Es fühlt erstmals, wie die Kälte in sein Wesen gekommen ist. Mit der Wut kann das ehemalige Kind seiner Kälte begegnen und darauf erstmals seine Antwort geben und fühlen.
Du brauchst gar nicht so mitleidig zu schauen.
…
Und hör gefälligst mit deinen Fingern zu spielen auf.
…
Vater schüttelt den Kopf, enttäuscht, als hätte er mir mehr zugetraut, von etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist.
Vielleicht haben wir dich falsch erzogen und waren zu nachgiebig in vielen Sachen.
Er macht wieder eine Pause. Die Pausen sind furchtbar. Vater wartet eine Zeit lang.
Vielleicht hätten wir dich härter heran nehmen müssen. Was meinst du? Vielleicht haben wir dich einfach zu sehr verwöhnt!?
Ich schaue ihn an und wage zu atmen. Es ist etwas in mir, das ich schon immer mit mir trage, seit dem Tag, an dem er mir die Handschuhe ins Gesicht geschlagen hat. Eine Wut, die ich nicht zeigen darf. Vater kann das riechen und ich glaube, er sieht das auch. Es ist, als hätte ich einen zweiten Satz Zähne, der nur darauf wartet, sich nach vorne zu schieben um zuzubeißen.
Hoffentlich haben wir uns keinen Zuchthäusler herangezogen.
Ich wollte doch nicht…, sage ich.
So was Unverfrorenes. Bringt fast seine Schwester um und erwartet, dass man nachsichtig mit ihm ist. Du solltest dich schämen und wenigstens dazu stehen, zu dem, was du getan hast. Du bist schließlich fast 12 Jahre alt.
Das Kind von damals, das ich gewesen bin, sitzt heute noch einmal auf seiner Bettkante. Es wartet auf eine endgültige Entscheidung. Es hat sein Leben lang auf eine Entschuldigung gewartet, solange, bis es selbst vergessen hatte, was der Grund war, warum es sich nie von dieser Stelle lösen hatte können. Das Kind hat vergeblich auf die Entschuldigung und seine Vergebung gewartet, damit es wieder ohne Schuld sein kann. Es hat auf die Entschuldigung des Vaters in Worten und die der Mutter in Blicken gewartet. Wie sie das Kind beschuldigt haben mit Worten und Blicken, so wollte das Kind wieder ohne Schuld gemacht werden. Das hat es gelernt. Dass die Wut und die Schuld, die Erlösung und die Unschuld, ausschließlich von der Macht des Vaters und der Mutter abhängig sind. Dass jede Wut erst vom Vater berechtigt und dann von der Mutter bestätigt werden muss.
Das Kind wartet auf eine eindeutige Entscheidung zugunsten seines Gefühls.
Es gab niemanden, der an meine Unschuld glaubte. Deshalb ist die Wut so wichtig. Die Wut des Kindes bezeugt seine Unschuld, entgegen allen anderen. Die Wut zeigt dir die Unschuld für dich, weil die Wut eine Art Gerechtigkeitssinn für das Kind ist. Der einzige Sinn, der unabhängig von hören und sehen ist. Sie schützt den Sinn für dich. Deine Wahrheit. Sie schützt dein Gefühl für dich. Wer die Wut im Kind zerstört, zerstört seinen Gerechtigkeitssinn. Ohne Wut kannst du nicht eindeutig wissen, was dein Gefühl ist.
Wer seine Wut verhindert, verlässt sich zugunsten eines anderen. Das Kind musste sich und seine Wut verraten. Nur der Erwachsene kann dem Kind seine Wut wieder zugestehen und somit sein Gefühl im Grunde achten.
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