Ich habe dieses Tagebuch in zwei Heften in den blauen Schränken von Neauphle-le-Château wiedergefunden. Ich habe keine Erinnerung daran, es geschrieben zu haben. Ich weiß, daß ich es getan habe, daß ich es war, die es geschrieben hat, ich erkenne meine Schrift wieder und Einzelheiten dessen, was ich erzähle, ich sehe den Ort wieder vor mir, die Gare d’Orsay, die Wege und Strecken, doch ich sehe mich nicht beim Schreiben dieses Tagebuchs. Wann sollte ich es geschrieben haben, in welchem Jahr, um welche Tageszeit, in welchem Haus? Ich weiß nichts mehr. Sicher und einleuchtend ist nur, daß es mir undenkbar erscheint, daß ich diesen Text während meines Wartens auf Robert L. geschrieben habe. Wie habe ich diese Sache schreiben können, die ich noch nicht zu benennen vermag und die mich erschreckt, wenn ich sie wieder lese. Wie habe ich diesen Text jahrelang in diesem Landhaus liegen lassen können, das im Winter regelmäßig überschwemmt wird. Das erste Mal denke ich wieder an ihn, als mich die Zeitschrift Sorcière um einen Jugendtext bittet. Der Schmerz ist eines der wichtigsten Dinge in meinem Leben. Das Wort >Schrift< wäre nicht zutreffend. Ich stand vor Seiten, die gleichmäßig voll waren von einer außergewöhnlich gleichmäßigen und ruhigen kleinen Handschrift. Ich stand vor einer phänomenalen Unordnung des Denkens und des Fühlens, an die ich nicht zu rühren wagte und der gegenüber ich die Literatur als beschämend empfand. Marguerite Duras Der Schmerz Ich hab von ihr geträumt, ich hätte mich mit ihr vertragen. Ich hätte mich sogar mit ihr versöhnt. Wir redeten über Verwandtschaft, über den Sohn ihrer Schwester Gretl, der so erfolgreich war als Autohändler, und dann in Untersuchungshaft gekommen ist, wegen Unterschlagung, Steuerhinterziehung und Betrug. Das hat er nun davon, sagt sie. Ich wartete, wann immer mir was fehlte, wann immer mir etwas passierte, wann immer jemandem was zustieß oder fehlte, auf eine schadenfrohe Art. Die Spanne zwischen meinen Schluchzern und wenn ich Atem holen musste und keine Luft bekam, und wenn sie sich von mir wegdrehte und ihren Kopf wegschüttelte, als wäre ich nicht da; als wäre nichts von meinem Leid tatsächlich wahr. Sie konnte mich schließlich mit einem Augenaufschlag so in Rage bringen, dass es mich schüttelte und rüttelte. Sie war das, die mich hochhielt und mir voller Abscheu ins Gesicht schrie und mich in hohem Bogen segeln ließ und auf das Bett warf, dass sich in meinem Kopf alles verdrehte. Ich mache doch nur Spaß! Noch sind sie still und nicht auf mich gerichtet, sobald ich aber etwas äußere, was sage oder nur andeute, wenn ich neugierig bin, dann schauen mich die Augen an und sind auf mich gerichtet. Nur tote Augen suchen mich. Im Traum hat sie mir an die linke Schulter Nadeln angeheftet, wie Schnittmuster für einen neuen Anzug. Die Schulterteile aus Papier, Einpackpapier. Mit Nadeln hat sie die einzelnen Papierstücke an meine Haut und an den Boden genagelt. Mit meiner freien rechten Hand versuche ich die Nadeln rauszuziehen. Dabei beiß ich mir auf die Lippen. Ich krieg die Nadeln nicht zu fassen. Immer wieder rutsche ich an den Nadelköpfen mit meinen Fingern ab. Ins Aufwachen mischt sich die Stimme meiner Mutter. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht mehr an deinen Fingernägeln kauen. Hab ich dir nicht gesagt, lass das?! Das hast du nun davon. Jetzt könnten dir die Fingernägel nützen. Aber du wolltest ja nicht hören. … Was schaust du mich so an?! Der Friedhof fällt mir ein. Mein Weglaufen vom Leichenschauhaus. Was ich gesehen habe, was meine Seele sah, im Angesicht des toten Jungen. Ich dachte irgendwann, die Seele quälte mich. Die eigene Seele würde mich quälen wollen. Und später dachte ich, von Vogelschreien aufgewacht, die Vögel machten mich verrückt. Die Vögel würden mich verrückt machen mit ihrem grausamen Gekreische. Sie hacken ein auf mein Gemüt mit ihren Schnäbeln. Jetzt schnäuz doch endlich mal, dass dir nicht andauernd der Dreck aus deiner Nase läuft. Das ist doch nicht zu fassen. So schwer kann das doch gar nicht sein. Jetzt schnäuz doch endlich einmal richtig. Wie ich Jahrzehnte später noch versucht habe, den ganzen Tag mich leer zu schnäuzen, ohne zu wissen, was ich tat. Wie ich mich aufblies und mich schnäuzen wollte, dass nichts an Rotz mehr kam, nur Schwindel und ein Zögern. Jetzt hast du mir den Rotz auf meine Hand gestrichen! Was ich mir immer wieder dachte und vordachte, dass Mutter mich bestrafen kommt, wenn ich ihr etwas ausrichte. Dass meine Mutter mich bestrafen kann, wenn ich nicht auf sie achte. Jetzt schrei nicht so herum, sonst trifft dich noch der Schlag. Wie Stromschläge. Die Worte meiner Mutter, ihr Geschimpfe. Wie Blitze, aufgeladene Luft. Brandmarken, unsichtbare Narben. Nur Schimpfen, Schimpfen, Schimpfen, mit dem sie meine Seele unaufhörlich schlug und malträtierte. Wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm greift, such ich verzweifelt nach der Schuld und Schuldigern und einem Schuldgefühl. Das wirst du mir noch büßen. Sie wollte mir weismachen, dass jedes Kind sie fürchten muss. Was du dir immer nur einbildest?! Mit jedem Laut, mit jedem Schmerz, mit jeder Äußerung nur lästig sein zu können, so wuchs ich bei ihr auf. Mit dem Gefühl nur destruktiv zu sein, nur jedem lästig sein zu können. Selbst wenn ich mich nur freute, was lachst du denn so dumm, nur lästig sein zu können. Ich ärgerte mich über meine Einsamkeit. So weit war ich gekommen, dass ich mich schließlich selbst von meiner eigenen Verlorenheit belästigt und beschämt, im Grunde von mir selbst nur ausgelacht, vorkam. Schau mich gefälligst an! Aus Schadenfreude bin ich zu dem toten Jungen hin. Um diesen Jungen auszulachen. Hab ich mir doch gedacht, ich finde dich. Hab ich mir doch gedacht, sag ich auf meinem Weg zu ihm, zum Leichenschauhaus hin, zum toten Jungen hin, hab ich mir doch gedacht, ich find dich hier. Hier bist du ja, hab ich mir das gedacht. Jetzt lach ich über dich. Jetzt lachst du nicht mehr über mich. Das hast du nun davon. Jetzt lach ich über dich. Hab ich es nicht gesagt, ich würde da nicht hingehen?! Hab ich es nicht gesagt. Ich schämte mich für ein Gefühl, das scheinbar älter ist als Liebe, mein Wunsch zu überleben. Jetzt lasse ich dich liegen! So wie ein Tier, ein junges Tier allein, nicht schreien kann, sonst macht es sich bemerkbar, sonst lockt es mit den Schreien Feinde an, nicht schreien kann. Geh du spinnst doch! Dass ich die Feinde anlockte, wenn ich mich mit der Angst und meiner Wut bemerkbar machte. Dass ich nur Feinde damit anlocken würde, wenn ich mich äußerte. Es waren gar nicht ihre Strafen, die mich verrückt gemacht hatten. Auch nicht die Unverrückbarkeit. Was mich in Wahrheit angegriffen hat, dass ich am liebsten gleich verschwunden wäre, wenn ich sie näher kommen sah und lächeln. Strafe muss sein. Du solltest dich was schämen. Nicht grausam sein, sondern nur wütend oder zornig sein, das konnte ich bei meiner Mutter nicht erfahren oder lernen. Weil sie stets grausam war und kränkend wurde, wenn sie etwas von meiner Wut und meinem Zorn erfuhr. Sei doch nicht gar so empfindlich! Sie hatte mich zum Schwarzen Mann geschickt. Im Traum bin ich in seinem Zimmer. Ich liege auf dem Boden. Er trampelt rum. Plötzlich begreife ich, dass er mich gar nicht sieht. Er sieht nicht auf den Boden, er schaut gar nicht herum. Er trampelt einfach rum. Dabei zeigt er gar keine Wut. Er ist auf mich nicht abgerichtet. Ich bin gar nicht sein Opfer. Er ist auf mich nicht böse. Er trampelt einfach rum. Und dann begreife ich, dass er mich gar nicht sieht. Dass er blind ist und stumm und ohne Licht in diesem Zimmer lebt und nur in meiner Phantasie. Und taub ist er und hörte also nie auf meine Mutter. Seit einiger Zeit wohnt in meiner Nachbarschaft eine Familie mit 3 kleinen Kindern, zwei Jungen (2 und 4 Jahre alt) und ein Mädchen (3 Jahre alt). Beinahe jeden Abend hörte ich einen der beiden Jungen schlimm weinen. Er rief immer wieder nach seiner Mama. Und dann hörte ich wie er von der Mutter abgewiesen wurde oder gar keine Antwort erhielt und wie er dann nach Luft ringend noch herzzerreißender weinte. Ihre Fenster standen ringsum immer sperrangelweit offen, sodass man es gut hören konnte. Als ich einmal am Haus vorbeikam, hörte ich plötzlich ein Poltern. Und dann hörte ich die Schreie. Die Haustür stand offen, und ich sah noch wie die Mutter den Kleinen hochhob. Er lag dort im Eingangsbereich vor der ersten Stufe. Offenbar war er von oben bis unten die Treppe heruntergefallen. Als die Mutter mich sah, machte sie die Tür zu. Einmal stand der Kleine barfuß und in Windeln mutterseelenallein mitten auf der Straße. Als ich einmal das Haus verließ, sah ich die Mutter auf der Treppe vorm Haus sitzen. Sie tippte auf ihrem Smartphone herum. Direkt daneben standen der Kleine und sein älterer Bruder. Der Kleine hatte ein Eimerchen in der Hand, und der Ältere versuchte es ihm zu entreißen. Mit einer Hand riß er am Eimer und mit der anderen drosch er auf den Kleinen ein. Der Kleine weinte ganz fürchterlich. Die Mutter blickte noch nicht einmal hoch, tippte weiter auf dem Smartphone herum. Dann ließ der Ältere von dem Kleinen ab und rannte mit der Schwester Richtung Straße. Der Kleine trottete noch etwas wacklig auf seinen Beinchen hinterher. Als sie gerade dabei waren um die Ecke des letzten Hauses vorne an der Straße zu verschwinden, rannte ich los. Ich schrie noch die Mutter an, dass ihre Kinder schon wieder auf die Strasse laufen, dass ich jetzt zum ich weiß nicht wievielten Male hinter ihnen her rennen muss, dass sie gefälligst auf ihre Kinder aufpassen soll, dass es mir jetzt reicht, dass jetzt Schluss ist und dass ich gleich die Polizei hole. Das tat ich dann am nächsten Abend. Einen Tag später rief ich das Jugendamt an. PS: Als ich der Dame vom Jugendamt sagte, dass ich beinahe jeden Abend die Kinder schlimm weinen und schreien höre, sagte sie, das müsse aber nicht bedeuten, dass die Kinder grün und blau geschlagen würden. So kleine Kinder würden halt viel weinen. Ja, das sagte mir diese Dame vom Jugendamt. K.S Dass ganz egal, wer mit mir spricht und wer mit mir verkehrt, mich kränken kann, und ich kann nichts dagegen unternehmen. Dass ganz egal, was ich auch tue oder sage, ich keinen Schutz vor einer Kränkung haben kann. Dass ich mich gar nicht wehren kann, dachte ich schließlich, wenn mich jemand beschuldigt und beschimpft, beleidigt und zum Teufel wünscht, oder zum Schwarzen Mann; wenn mich wer in der Not angreift, dann kann ich nichts dagegen tun, nur schlucken und begreifen, dass jede Träne nur vergebens sei, mein Weinen eine Schande, der Schmerz in meiner Seele nur beschämend. Ich tu doch nichts. Ich sag doch nichts. Ich hab doch nichts gesagt! Endlich komm ich an meine Stummheit ran. Ich habe als ich 13 war nur zugeschaut wie mein Freund Hans, von einem ausparkenden Auto, er lag am Boden, weil er mit seinen Skiern ausgerutscht war, beinah überfahren worden wäre, und ich hab nichts gesagt. Ich bin nicht zu dem Fahrer hingegangen. Ich habe nichts gesagt. Ich habe einfach zugeschaut. Ich hab darauf gewartet, dass was passiert. Und dabei habe ich gedacht, geschieht ihm recht, warum reißt er nur andauernd sein Maul auf. Geschieht ihm recht, schließlich hat er mich saublöd angeredet, nur wieder saudumm angemacht. Ich konnte später nicht mehr glauben, dass meine Mutter mir nur wehgetan hatte, wenn ich sie brauchte. Ich konnte das nicht glauben, obwohl es so gewesen war. Ich konnte das als Kind nicht glauben. Als meine Großmutter im Sterben lag, da war ich 10, bin ich nicht mehr zu ihr, obwohl sie sich das so gewünscht hatte. Was hast du denn?! Was ist denn los!? Sie las mir meine Not und meinen Wunsch nach Liebe von den Lippen ab. Solange ich mir was erhoffte. Solange ich mit meinen Tränen etwas hoffte, hat sie mir wehgetan. Sie murkste jede Seelenäusserung von Anfang an im Grunde ab. Und sehe ich mir meine Mutter heute in Gedanken an, dann steht sie nur am Fenster, schaut auf die Straße und wartet, dass jemand kommt, den sie beschimpfen kann und mutlos machen kann und wertlos. Abfällig allem gegenüber. So kam ich bei ihr an. Was die gekränkte Seele sah, was die gekränkte Seele sehen konnte. Und meine Seele brannte. Endlich verstehe ich, dass sie mir keine Angst gemacht hatte, noch niemals eine machen hatte wollen. Dass mir Gefühle und Empfindungen niemals geschadet hatten. Die Frau in einem See aus Blut, die Feuer fangen kann und untergehen, und meine Angst vor der Bestrafung, hat meine Wut auf meine Mutter ausgelöscht. Angst vor Bestrafung hatte meine Wut gelöscht. Sie lähmte, was ich mir im Wachen immer wieder träumte und erträumt hatte. Sie lähmte nämlich meinen Mut, zu schreien und zu weinen und zu fragen: was ist nur mit euch los, dass ihr nicht mal ein Kind ertragen könnt, das sich die Seele aus dem Leibe weint?! Meine Wohnung war kalt und still. Wie eine kleine Nacht in einer Ecke der großen, extra für mich allein. Von Zeit zu Zeit waren Schritte zu hören, ihr Echo drang immer lauter in mein Zimmer, dröhnte, verhallte … Stille. Ich schaute nochmal hinaus, ob möglicherweise gegenüber was vorging. Nein, nur in mir ging was vor, ich stellte mir immer dieselbe Frage. Endlich schlief ich über meiner Frage ein, in meiner eigenen Nacht, diesem Sarg, so müde war ich geworden, immer nur zu laufen, ohne was zu finden. Louis-Ferdinand Céline Reise ans Ende der Nacht Sie rührt sich nicht. Sie rührte sich nicht mehr. Mein Wunsch jemanden wegzujagen und zu verscheuchen, dass jemand weggeht und sich schleicht und abhaut, kommt also daher. Wie ich die Wut und meinen Schmerz verjagte. Was bildest du dir ein!? „Nein, Monsieur. Sie scheinen nicht zu wissen, was es heißt, aus diesem Zustand heraus zu wollen. Ich muß hierbleiben und die ganze Zeit mit aller Kraft daran denken, sonst weiß ich, daß ich es nicht schaffe.“ „Vielleicht weiß ich es wirklich nicht.“ „Sie können es nicht wissen, Monsieur, denn so wenig Sie auch sind, Sie sind trotzdem, auf ihre Art, Sie können also nicht wissen, was es heißt, nichts zu sein.“ Marguerite Duras Im Park Du machst dich doch damit nur selbst zum Affen! Hör endlich auf! Deswegen bin ich nicht verrückt geworden, nicht wegen meines Zorns. So bin ich als Kind nicht gewesen. Ich wär es wert gewesen, dass mich jemand liebte und nicht andauernd nur bestrafte. Ich war nie nichts. Ich bin nie nichts gewesen. Das hatte ich ihr niemals sagen können, und Vater auch nicht. Endlich begreife ich, ich war nie nichts. Ich war nie wirklich nichts gewesen. Sie hatte das gemacht. Sie hatte mir das immer wieder vorgemacht. Sie hatte mich nur immerzu entwertet. Es war gar keine Sache eines Glaubens. Sie hatte sich und mir Entwertung nicht nur vorgemacht. Sie hatte mich entwertet für mein Leben; ununterbrochen. Ich sollte nicht nur gar nichts anderes erleben. Ich konnte bei ihr gar nichts anderes erleben. Endlich begreife ich mein Glück, dass ich tatsächlich immer wieder Menschen traf, die mich nicht gleich entwerteten, die mich nicht gleich bestraften, für etwas das ich sagte oder tat. Sie lebte mir nur die Entwertung vor. Nur wie man andere entwertete. Sie lebte mir ununterbrochen ihre eigene Entwertung vor, ohne zu wissen, was sie tat. Das war ja alles nur Entwertung, was sie mir vorgemacht hatte. Mit Flüchen und Beschimpfungen. Ich merkte nicht, dass meine Mutter mich von Anfang an wertlos gemacht hatte, indem sie mich angriff, wenn ich mich äußerte, aus Freude, Angst, etc. Es war ja immer ein, was ist denn jetzt schon wieder los, im Raum. Nicht Feigheit macht ein Kind wie mich verrückt vor Angst, sondern die unterdrückte Wut. Und meine Vorstellung davon, wenn sie zum Vorschein kommt, dass sie mich auffrisst und verschlingen wird. Nur wenn ich mich vergaß, nur wenn ich mich versteckte und versteckte und versteckte, nur wenn ich mich versteckte, hörte die Stimme meiner Wut mit mir zu sprechen auf, mir immer wieder vorzusagen: Ich halt das nicht aus! Ich halt das nicht mehr aus. Ich halt das nicht mehr aus! Wie meine Mutter immer wieder sagte: Du hast es in der Hand. Solang du schreist, bleibst du allein! Du hast es in der Hand. Du hast das Heft in deiner Hand. Als hätte ich es in der Hand gehabt, dass Mutter mich gequält hatte. Als hätte ich mich selbst schließlich mit meiner Wut gequält. Sie hat mich so verwirrt, mit ihren Lügen malträtiert und immer wieder aufgebracht, dass ich tatsächlich dachte, ich würde von der Wut bekämpft, ich müsste mich von ihr befreien und lossagen und weglaufen. Ich müsste von mir selbst und allem was ich fühlte, spürte und empfand, wegrennen. Dann hätte ich es in der Hand. Du bist doch ganz allein dran schuld. Hab ich es nicht gesagt!? Pass auf! Hab ich es nicht gesagt?! Ich wurde nicht von meiner Wut bekämpft, sondern von meiner Mutter und ihrem Wunsch mich zu beherrschen. Ich wurde nicht von meiner Wut beschimpft. Es war nicht mein Wunsch gewesen, meine Mutter zu beherrschen. Das musste ich nur glauben, dass ich als Kind so einen Wunsch gehabt hätte. So einen Wunsch, mit dem ich meine Mutter stets verdrängte und vertrieb. Anherrschen. Mich anherrschen, das machte sie den ganzen Tag, mit ihrer Stimme, ihren Augen und dem Mund. Mit ihren Füßen, mit denen sie aufstampfte. Sie herrschte mich ununterbrochen an. Anherrschen, bellen, schreien gegen sich und alle anderen Gefühle, das lernt ein Kind wie ich, wenn es die Wut vergisst. Pack deine sieben Sachen und verschwind. Ich kann dich nicht mehr sehen. Und komm nur ja nicht auf die Idee, dein Vater würde dir helfen können. Anherrschen, bellen, schreien gegen alle, selbst gegen mich, gegen Gefühle ankämpfen, und immer wieder gegen mich, was in mir brannte, das lernt ein Kind wie ich, und sich das nicht zu merken. Was ich mir nicht gefallen lassen wollte und mir trotzdem gefallen ließ. Unmöglich dachte ich, wenn ich mich nicht daran erinnern kann, dann ist es doch wie nicht geschehen. Wie Filmrisse. Wenn ich vergaß, wie ich besoffen, mich aufgeführt hatte, wie ich herumgeschrien hatte und getobt, wie ich die Leute angegriffen hatte, und mich am nächsten Tag an nichts erinnern hatte können. An nichts. Als wäre nichts von dem Geschehenen für mich selbst wahr. An was ich mich selbst nicht erinnern hatte wollen. Nur meine unterdrückte Seele, ein Rest davon, wollte mich doch daran erinnern, wie ich als kleines Kind behandelt worden war und wie ich deshalb schrie. Der Riss in mir ist da, wenn ich an meinen eigenen Gefühlen zweifle. Ich suchte, ohne das zu wissen, ununterbrochen nach Belastungsmaterial, für mich und gegen jeden. Ich suchte nach Belastendem, nur nach belastenden Verhaltensäußerungen. Ich suchte nach Belastungsmaterial. Ich suchte nur nach Fehlern, Fallen, Hintertüren, Krankheiten, nach Krankmachendem. Ich suchte nach Auffälligkeiten, nur nach Beschwerden; nicht nach Entschuldigung. Ich suchte nach Belastungsmaterial, ich suchte nach der Unterdrückung von Gefühlen. Ich kam gar nicht auf die Idee, nach etwas anderem zu suchen. Ich kam nicht mehr auf meine Wut, für ein Gefühl der Unschuld. Ich kam gar nicht mehr auf die Idee, dass die Gefühle und Empfindungen eines Kindes mit Schuld gar nichts zu tun haben, dass ich ganz klein naturgemäß nichts damit anfangen hatte können. Die Wut im Inneren hielt ich für Schuld. Mein Schuldgefühl, das mein ganzes Empfinden schließlich schuldig machte. Sie machte sich und mir nur immer wieder etwas vor, dass ich schuld bin, dass ich mich schuldig machte, dass ich mich schuldig machen würde, wenn ich mich äußerte, ohne Erlaubnis meiner Mutter. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich schuldig machte, bei allem, was ich dachte, was ich tat, wenn ich nicht die ausdrückliche Erlaubnis meiner Mutter dazu hatte. Nur Schadenfreude ließ ich ohne weiteres zu. Die Wut im Inneren, die nach Erlaubnis fragt, ist unterdrückte Wut. Die Wut im Inneren, die nach Befreiung fragt, braucht keinerlei Erlaubnis. Nur wer nach der Erlaubnis fragt, bezahlt die Wut des kleinen Kindes mit Unterdrückung; und zahlt sie später damit anderen heim. Es gibt keine Erlaubnis für Gefühle und Empfindungen. Es gab niemals was Unerlaubtes, das sich in der Empfindung niederschlug. Nur eine strafende, schreiende Mutter, die mir die Schuld an meinen Kopf hin schrie. So dachte ich, ich müsste um Erlaubnis fragen später, für die Gefühle und mein Empfinden. Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Die Bibel, Mt 19,13–15; Mk 10,13–16; Lk 18,15–17 Wut nach Erlaubnis und Zorn nach Vorschrift. Ein Kind, wie ich, das nach Erlaubnis fragen musste, braucht einen Grund, muss einen Grund für alles, hat einen Grund für alles anzugeben. Ich wurde niemals als Kind um Erlaubnis gefragt. Niemand fragte mich bei irgendetwas um Erlaubnis oder um meine Zustimmung. Wie ich das hasste, wie ich mich ärgerte, dass niemand mich für irgendetwas um Erlaubnis fragen wollte. Ich aber musste jeden Fehler selbst begründen und einräumen und zugestehen. Ich musste jeden Fehler büßen. Sonst würde ich mich ewig über mich und jeden Fehler ärgern. Jetzt gib halt zu, dass du das warst!? Gibs endlich zu! Jetzt putz dir deine Nase. Und schau mich an. Wie du nur wieder aussiehst. Du hast ja ganz verweinte Augen. So kann man dich doch nicht nach draußen schicken. Wenn du schon vorher weinst, wie wird das erst im Kindergarten! Wenn ich nicht mehr da bin!? Endlich begreife ich, dass das Gedächtnis meines Schmerzes, die Wut befreit, mit der ich meinen Schmerz begreifen lerne. Die Mutter, die mir meine Freiheit gibt und stiehlt, mir vorenthält, mir nimmt, ganz wie es ihr beliebt, dass es die Mutter, die mich ganz nach Belieben quälen kann, tatsächlich gab. Sie gab mir keine Freiheit ohne Schmerzen. Mir war gar nicht erlaubt, mich ohne einen Schmerz zu freuen. Endlich von meiner Mutter weg zu sein. Endlich von meiner Mutter wegzukommen, für diesen Wunsch, ließ sie mich büßen. Sie quälte mich für meinen Wunsch, den sie mir ansah und anmerkte, wie ungeduldig ich am Sonntag Abend wurde, weil Montags wieder Kindergarten war. Nie wieder wollte ich etwas von mir verraten, aus Wut und Zorn, aus unterdrückter Wut und unterdrücktem Zorn heraus. Die Wut im Inneren
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