Texte von Hugo Rupp

Zugehörigkeit

 

Er begann nach Hauseingängen zu suchen, nach einer bestimmten Tür zu einem bestimmten Hausflur… als ob er sich in diesem Hausflur auf einmal hätte selbst gegenübertreten können, als ob er sich darin hätte erkennen und stellen können, festhalten und nicht wieder aus den Augen lassen, so sehr er diesen Augenblick auch fürchten mußte… nach kurzer Zeit bezweifelte er wieder, daß er eine Straße auffinden könne, die er der Einfachheit halber stets die Friedhofsgasse genannt hatte.

Wolfgang Hilbig Er, nicht ich

Sie schwieg und machte ihre Augen zu. Sie schlief vor mir im Stehen. Tat so, als wäre sie gestorben, tot und nicht mehr da. Ich schau sie an, und sie schließt ihre Augen. Und atmet nicht und rührt sich nicht, bis ich zu schreien wage. Dann dreht sie sich. Wie eine Ballerina steif, wie eine Puppe.

Nichts, und ihre Zähne grinsten ihn an, alt gewordene Jungfrauen mit männlichen Oberkörpern, die in ihren Kinderwagen totenstille unbewegliche Kinder vor sich herschoben, oder Holzscheite anstelle von Kindern in den Kissen, oder dicke, mit unsauberem Fusel gefüllte Flaschen unter dem Deckzeug; oder Männer, die ihn anhielten, die flüsternd und heiser aus den schwammigen Gesichtern schrien, ebenfalls verwelkt, alt, mehr als alt – vierzig vielleicht -, dachte C. -, und sahen dennoch jugendlich aus, sie schoben ihm fast die defekten Fahrräder in die Beine, oder die Kinderwagen, und sie warfen, vertrauensselige Tränen in den naßschimmernden Visagen, die abgespreizten Daumen über die Schulter, auf den Fluß deutend, auf den trägen Fluß, der ihnen offenbar im Rücken lag und lautlos unter den gemauerten Ufern dahinzog. – Entrümpelung! Riefen sie.

Wolfgang Hilbig Er, nicht ich

Hör endlich auf zu weinen! Schau ganz genau jetzt hin. Begreif doch endlich, dass ich dich nicht haben will, wenn du so laut bist und so schreist. Kein Mensch will so ein Kind. Kein Mensch will einen Jungen haben, der sich so aufführt und so schreit. Dir muss man immer alles buchstabieren, bis du das endlich auch kapierst!

Dieser Fleck war es, dem er verbunden war wie sonst keinem zweiten Ort, dem er körperlich und atmosphärisch verbunden war, als sei er hier einst verwurzelt gewesen. Und ganz ohne Bewußtsein hatte er ihn vor Mittag aufgespürt: der Zufall – ein vergessener oder verlorener Schlüssel – hatte ihn geleitet und gedankenlos an diesen Platz geführt, den er vor langen, langen Jahren ebenso unbedacht verlassen hatte. – Ja, er hatte sich damals von hier davongemacht, weil er glaubte, eine Figur werden zu müssen, eine Rolle spielen zu können, – wahrscheinlich hatte er sich nicht so deutlich ausgedrückt, doch im Grunde war dies seine Absicht gewesen. Nun hatten ihn Erschöpfung und Überdruß die alte Stelle wiederfinden lassen, wo er ohne Bedenken müde sein durfte. Gedankenlos müde, wie er nicht mehr geglaubt hatte sein zu dürfen, seit ungezählten Jahren, und nicht mehr zu können, seit er seine Rolle für sich in Anspruch nahm: sie war eine Art Statistenrolle im Repertoiretheater des gesellschaftlichen Überbaus.

Wolfgang Hilbig Grünes grünes Grab

Was suchte ich? Ein Gegenüber. Und wie ich unter dieser Herrschaft litt. Wie ich mich mit der Sprache unterdrücken ließ. Wie ich mit Sprache unterdrücken lernte.

Ich wurde von ihr nur belohnt, wenn ich stumm blieb und nichts zu meinem Vater sagte, wenn er mich schlug. Dann wurde ich belohnt, für mich nicht wütend sein. Für nicht mehr wütend werden, wurde ich gelobt. Wenn ich allein sein konnte, wenn ich nicht nach ihr rief. Wenn ich verschwieg, was in mir vorging und rumorte, dann lobte sie mich.

Wie wir beim Essen traurig saßen. Und nichts an Freude wiederkam.

Wie siehst du denn schon wieder aus!?

Sie wischte mir mit ihrer Spucke meine Augen und den Mund. Und was behielt ich schließlich nur für mich? Wie bitter Spucke ist.

Was schreist du mich denn an? Ich hab dir nichts getan.

Wie immer wieder Krankheit kam und Unglück und Misere, wie sie mit allem Leid und Schmerz stumm ging und mit dem Tod nach außen hin, vollkommen gleichmütig, alles doch gleich erleiden lehrte. Was sie sich selbst einst beigebracht hatte, das brachte sie auch jedem andern bei. Sie brachte jedem stumm erleiden bei. Nur keinen Widerstand, kein Wort, nur keine Wut, nur keinerlei Verzweiflung, nichts Lebendiges, nur nichts nach außen sichtbar werden lassen. Nur keinerlei Beschäftigung mit der Geschichte ihrer Kindheit oder irgendwelcher Krankheiten.

Ihr zuzusehen beim Ertrinken und dabei stumm zu bleiben müssen. Ihr zuzusehen beim Ertrinken, stumm Untergehen, lehrte sie.

Der Junge, der im See ertrank, der einfach vor uns Kindern unterging. Und überall die Leute und Erwachsenen, wir spielten Wasserball. Und niemand schrie, als sie den toten Jungen auf den Boden legten, ins Gras. Dass niemand schrie, wir waren alle wie die Mutter.

Da lagen seine Hose und das Hemd und die Sandalen auf dem Rasen. Daneben stand der Freund des toten Jungen. Er trippelte von einem Bein aufs andere, und seine Hose hatte sich verfärbt, er zitterte und schwitzte; wir schauten zu und keiner von uns schrie. Wir haben alle unser Maul gehalten.

Wir ließen uns nichts anmerken. Wir merkten selbst nichts mehr davon.

Wie meine Mutter immer wieder wörtlich sagte: Ich will darüber jetzt nicht reden. Ich will davon jetzt nichts mehr hören. Ich will nicht darauf angesprochen werden. Ich will, dass du dir das jetzt endlich merkst. Ich weiß nicht, was du von mir willst. Ich kann dir auch nichts anderes jetzt sagen. Ich weiß nie, was du von mir willst. Ich kann dir nicht bei deinen Fragen helfen. Du musst allein damit zurechtkommen.

Als würde man am eignen Untergang auch gar nichts finden oder merken. Als würde einen selbst der eigne Untergang nicht mal betrüben und betreffen.

Der Wunsch Gregors, die Mutter zu sehen, ging bald in Erfüllung. Während des Tages wollte Gregor schon aus Rücksicht auf seine Eltern sich nicht beim Fenster zeigen, kriechen konnte er aber auf den paar Quadratmetern des Fußbodens auch nicht viel, das ruhige Liegen ertrug er schon während der Nacht schwer, das Essen machte ihm bald nicht mehr das geringste Vergnügen, und so nahm er zur Zerstreuung die Gewohnheit an, kreuz und quer über Wände und Plafond zu kriechen. Besonders oben auf der Decke hing er gern; es war ganz anders, als das Liegen auf dem Fußboden; man atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper; und in der fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich Gregor dort oben befand, konnte es geschehen, daß er zu seiner eigenen Überraschung sich losließ und auf den Boden klatschte. Aber nun hatte er natürlich seinen Körper ganz anders in der Gewalt als früher und beschädigte sich selbst bei einem so großen Falle nicht. Die Schwester nun bemerkte sofort die neue Unterhaltung, die Gregor für sich gefunden hatte – er hinterließ ja auch beim Kriechen hie und da Spuren seines Klebstoffes –, und da setzte sie es sich in den Kopf, Gregor das Kriechen in größtem Ausmaße zu ermöglichen und die Möbel, die es verhinderten, also vor allem den Kasten und den Schreibtisch, wegzuschaffen. Nun war sie aber nicht imstande, dies allein zu tun; den Vater wagte sie nicht um Hilfe zu bitten; das Dienstmädchen hätte ihr ganz gewiß nicht geholfen, denn dieses etwa sechzehnjährige Mädchen harrte zwar tapfer seit Entlassung der früheren Köchin aus, hatte aber um die Vergünstigung gebeten, die Küche unaufhörlich versperrt halten zu dürfen und nur auf besonderen Anruf öffnen zu müssen; so blieb der Schwester also nichts übrig, als einmal in Abwesenheit des Vaters die Mutter zu holen. Mit Ausrufen erregter Freude kam die Mutter auch heran, verstummte aber an der Tür vor Gregors Zimmer. Zuerst sah natürlich die Schwester nach, ob alles im Zimmer in Ordnung war; dann erst ließ sie die Mutter eintreten. Gregor hatte in größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten gezogen, das Ganze sah wirklich nur wie ein zufällig über das Kanapee geworfenes Leintuch aus. Gregor unterließ auch diesmal, unter dem Leintuch zu spionieren; er verzichtete darauf, die Mutter schon diesmal zu sehen, und war nur froh, daß sie nun doch gekommen war.

Franz Kafka Die Verwandlung ff.

Heb dir nur keinen Bruch. Hörst du! Lass das gefälligst liegen. Mach dich nicht schmutzig. Hörst du mich. Dafür bist du noch viel zu klein.

Sie wollte immer auch, dass ich mich damit abfinde, was gut ist für mich und was schlecht. Dass sie allein das sagen und bestimmen kann. Nur sie alleine weiß, was ich nicht wagen kann, was sich nicht lohnt und was sich nicht gehört und was ich jetzt gefälligst lassen soll.

Verheb dich nicht. Vertu dich nicht.

Ich wurde schließlich immer selbstmüder, weil sie mir meine Freude nahm.

»Komm nur, man sieht ihn nicht«, sagte die Schwester, und offenbar führte sie die Mutter an der Hand. Gregor hörte nun, wie die zwei schwachen Frauen den immerhin schweren alten Kasten von seinem Platz rückten, und wie die Schwester immerfort den größten Teil der Arbeit für sich beanspruchte, ohne auf die Warnungen der Mutter zu hören, welche fürchtete, daß sie sich überanstrengen werde. Es dauerte sehr lange. Wohl nach schon viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter, man solle den Kasten doch lieber hier lassen, denn erstens sei er zu schwer, sie würden vor Ankunft des Vaters nicht fertig werden und mit dem Kasten in der Mitte des Zimmers Gregor jeden Weg verrammeln, zweitens aber sei es doch gar nicht sicher, daß Gregor mit der Entfernung der Möbel ein Gefallen geschehe. Ihr scheine das Gegenteil der Fall zu sein; ihr bedrücke der Anblick der leeren Wand geradezu das Herz; und warum solle nicht auch Gregor diese Empfindung haben, da er doch an die Zimmermöbel längst gewöhnt sei und sich deshalb im leeren Zimmer verlassen fühlen werde. »Und ist es dann nicht so«, schloß die Mutter ganz leise, wie sie überhaupt fast flüsterte, als wolle sie vermeiden, daß Gregor, dessen genauen Aufenthalt sie ja nicht kannte, auch nur den Klang der Stimme höre, denn daß er die Worte nicht verstand, davon war sie überzeugt, »und ist es nicht so, als ob wir durch die Entfernung der Möbel zeigten, daß wir jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und ihn rücksichtslos sich selbst überlassen? Ich glaube, es wäre das beste, wir suchen das Zimmer genau in dem Zustand zu erhalten, in dem es früher war, damit Gregor, wenn er wieder zu uns zurückkommt, alles unverändert findet und um so leichter die Zwischenzeit vergessen kann.«

Beim Anhören dieser Worte der Mutter erkannte Gregor, daß der Mangel jeder unmittelbaren menschlichen Ansprache, verbunden mit dem einförmigen Leben inmitten der Familie, im Laufe dieser zwei Monate seinen Verstand hatte verwirren müssen, denn anders konnte er es sich nicht erklären, daß er ernsthaft darnach hatte verlangen können, daß sein Zimmer ausgeleert würde. Hatte er wirklich Lust, das warme, mit ererbten Möbeln gemütlich ausgestattete Zimmer in eine Höhle verwandeln zu lassen, in der er dann freilich nach allen Richtungen ungestört würde kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem schnellen, gänzlichen Vergessen seiner menschlichen Vergangenheit? War er doch jetzt schon nahe daran, zu vergessen, und nur die seit langem nicht gehörte Stimme der Mutter hatte ihn aufgerüttelt. Nichts sollte entfernt werden; alles mußte bleiben; die guten Einwirkungen der Möbel auf seinen Zustand konnte er nicht entbehren; und wenn die Möbel ihn hinderten, das sinnlose Herumkriechen zu betreiben, so war es kein Schaden, sondern ein großer Vorteil. Aber die Schwester war leider anderer Meinung; sie hatte sich, allerdings nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Besprechung der Angelegenheiten Gregors als besonders Sachverständige gegenüber den Eltern aufzutreten, und so war auch jetzt der Rat der Mutter für die Schwester Grund genug, auf der Entfernung nicht nur des Kastens und des Schreibtisches, an die sie zuerst allein gedacht hatte, sondern auf der Entfernung sämtlicher Möbel, mit Ausnahme des unentbehrlichen Kanapees, zu bestehen. Es war natürlich nicht nur kindlicher Trotz und das in der letzten Zeit so unerwartet und schwer erworbene Selbstvertrauen, das sie zu dieser Forderung bestimmte; sie hatte doch auch tatsächlich beobachtet, daß Gregor viel Raum zum Kriechen brauchte, dagegen die Möbel, soweit man sehen konnte, nicht im geringsten benützte. Vielleicht aber spielte auch der schwärmerische Sinn der Mädchen ihres Alters mit, der bei jeder Gelegenheit seine Befriedigung sucht, und durch den Grete jetzt sich dazu verlocken ließ, die Lage Gregors noch schreckenerregender machen zu wollen, um dann noch mehr als bis jetzt für ihn leisten zu können. Denn in einen Raum, in dem Gregor ganz allein die leeren Wände beherrschte, würde wohl kein Mensch außer Grete jemals einzutreten sich getrauen.

Ich Muttersohn, der alles von ihr übernommen hatte, ohne zu wissen, was das war. Und deshalb konnte ich auch nichts verändern. Die Feigheit und die Heuchelei, die Lügen und ihr stummes dulden und ertragen müssen. Und ich verschwieg genau wie sie, was mich doch einst zur Weißglut brachte. Die Grausamkeit. Wenn sie mir weh tat und so tat, als wäre nichts gewesen. Ihr Abtöten von Freude und Lebendigkeit. Mit gleicher Art und heimgezahlt mit gleicher Münze, gleichem Geld. Mit bloßem abfinden sich in die Mutter zu verwandeln. Dabei war ich ihr guter Junge, wie sie schon gutes Mädchen ihrer Mutter einst gewesen war. In dieser Gegenüberstellung, wird endlich auch die Wut fruchtbar, die eigene Erscheinung und Verwandlung selbst endlich wahr zu nehmen.

Und so ließ sie sich von ihrem Entschlusse durch die Mutter nicht abbringen, die auch in diesem Zimmer vor lauter Unruhe unsicher schien, bald verstummte und der Schwester nach Kräften beim Hinausschaffen des Kastens half. Nun, den Kasten konnte Gregor im Notfall noch entbehren, aber schon der Schreibtisch mußte bleiben. Und kaum hatten die Frauen mit dem Kasten, an den sie sich ächzend drückten, das Zimmer verlassen, als Gregor den Kopf unter dem Kanapee hervorstieß, um zu sehen, wie er vorsichtig und möglichst rücksichtsvoll eingreifen könnte. Aber zum Unglück war es gerade die Mutter, welche zuerst zurückkehrte, während Grete im Nebenzimmer den Kasten umfangen hielt und ihn allein hin und her schwang, ohne ihn natürlich von der Stelle zu bringen. Die Mutter aber war Gregors Anblick nicht gewöhnt, er hätte sie krank machen können, und so eilte Gregor erschrocken im Rückwärtslauf bis an das andere Ende des Kanapees, konnte es aber nicht mehr verhindern, daß das Leintuch vorne ein wenig sich bewegte. Das genügte, um die Mutter aufmerksam zu machen. Sie stockte, stand einen Augenblick still und ging dann zu Grete zurück.

Trotzdem sich Gregor immer wieder sagte, daß ja nichts Außergewöhnliches geschehe, sondern nur ein paar Möbel umgestellt würden, wirkte doch, wie er sich bald eingestehen mußte, dieses Hin- und Hergehen der Frauen, ihre kleinen Zurufe, das Kratzen der Möbel auf dem Boden, wie ein großer, von allen Seiten genährter Trubel auf ihn, und er mußte sich, so fest er Kopf und Beine an sich zog und den Leib bis an den Boden drückte, unweigerlich sagen, daß er das Ganze nicht lange aushalten werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm alles, was ihm lieb war; den Kasten, in dem die Laubsäge und andere Werkzeuge lagen, hatten sie schon hinausgetragen; lockerten jetzt den schon im Boden fest eingegrabenen Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker, als Bürgerschüler, ja sogar schon als Volksschüler seine Aufgaben geschrieben hatte, – da hatte er wirklich keine Zeit mehr, die guten Absichten zu prüfen, welche die zwei Frauen hatten, deren Existenz er übrigens fast vergessen hatte, denn vor Erschöpfung arbeiteten sie schon stumm, und man hörte nur das schwere Tappen ihrer Füße.

Und so brach er denn hervor – die Frauen stützten sich gerade im Nebenzimmer an den Schreibtisch, um ein wenig zu verschnaufen –, wechselte viermal die Richtung des Laufes, er wußte wirklich nicht, was er zuerst retten sollte, da sah er an der im übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und preßte sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat. Dieses Bild wenigstens, das Gregor jetzt ganz verdeckte, würde nun gewiß niemand wegnehmen. Er verdrehte den Kopf nach der Tür des Wohnzimmers, um die Frauen bei ihrer Rückkehr zu beobachten.

Sie hatten sich nicht viel Ruhe gegönnt und kamen schon wieder; Grete hatte den Arm um die Mutter gelegt und trug sie fast. »Also was nehmen wir jetzt?« sagte Grete und sah sich um. Da kreuzten sich ihre Blicke mit denen Gregors an der Wand. Wohl nur infolge der Gegenwart der Mutter behielt sie ihre Fassung, beugte ihr Gesicht zur Mutter, um diese vom Herumschauen abzuhalten, und sagte, allerdings zitternd und unüberlegt: »Komm, wollen wir nicht lieber auf einen Augenblick noch ins Wohnzimmer zurückgehen?« Die Absicht Gretes war für Gregor klar, sie wollte die Mutter in Sicherheit bringen und dann ihn von der Wand hinunterjagen. Nun, sie konnte es ja immerhin versuchen! Er saß auf seinem Bild und gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht springen.

Wie mich das ärgerte, wie mich das wütend machte, mein unermüdlich eifersüchtig und gehässig sein, im Grunde gegen jeden sein, der sich noch freuen konnte, ganz einfach dabei glücklich war, lebendig und nicht müde wurde.

Aber Gretes Worte hatten die Mutter erst recht beunruhigt, sie trat zur Seite, erblickte den riesigen braunen Fleck auf der geblümten Tapete, rief, ehe ihr eigentlich zum Bewußtsein kam, daß das Gregor war, was sie sah, mit schreiender, rauher Stimme: »Ach Gott, ach Gott!« und fiel mit ausgebreiteten Armen, als gebe sie alles auf, über das Kanapee hin und rührte sich nicht. »Du, Gregor!« rief die Schwester mit erhobener Faust und eindringlichen Blicken. Es waren seit der Verwandlung die ersten Worte, die sie unmittelbar an ihn gerichtet hatte. Sie lief ins Nebenzimmer, um irgendeine Essenz zu holen, mit der sie die Mutter aus ihrer Ohnmacht wecken könnte; Gregor wollte auch helfen – zur Rettung des Bildes war noch Zeit –; er klebte aber fest an dem Glas und mußte sich mit Gewalt losreißen; er lief dann auch ins Nebenzimmer, als könne er der Schwester irgendeinen Rat geben, wie in früherer Zeit; mußte dann aber untätig hinter ihr stehen; während sie in verschiedenen Fläschchen kramte, erschreckte sie noch, als sie sich umdrehte; eine Flasche fiel auf den Boden und zerbrach; ein Splitter verletzte Gregor im Gesicht, irgendeine ätzende Medizin umfloß ihn; Grete nahm nun, ohne sich länger aufzuhalten, soviel Fläschchen, als sie nur halten konnte, und rannte mit ihnen zur Mutter hinein; die Tür schlug sie mit dem Fuße zu.

Wenn ich mit ihr beim Baden war am See, und Vater in der Werkstatt. Wir lagen da, vom Morgen an, den ganzen Tag, bis Vater uns am Abend wieder abholte. Wir lagen in der Sonne, zwischendurch im Schatten, Tag für Tag, den ganzen Sommer lang, die Ferien über. Um zu ermüden. Weil Vater nicht in einen Urlaub fuhr. Und ihre Wut auf ihn, die musste ich ertragen. Wie müde Feigheit machen kann. Und wie ermüdend, keinen Mut zu haben, ist.

Gregor war nun von der Mutter abgeschlossen, die durch seine Schuld vielleicht dem Tode nahe war; die Tür durfte er nicht öffnen, wollte er die Schwester, die bei der Mutter bleiben mußte, nicht verjagen; er hatte jetzt nichts zu tun, als zu warten; und von Selbstvorwürfen und Besorgnis bedrängt, begann er zu kriechen, überkroch alles, Wände, Möbel und Zimmerdecke und fiel endlich in seiner Verzweiflung, als sich das ganze Zimmer schon um ihn zu drehen anfing, mitten auf den großen Tisch.

Schick dich! Beeile dich!

Mein Vater schickte mich mit meiner Mutter überall nur hin. Er ging nie irgendwo mithin.

Schick dich! Jetzt mach schon endlich! Beeile dich und sei gefälligst pünktlich, sagt sie. Er war doch nie dabei. Er schickte immer nur die Mutter mit mir wohin. Er schickte sie mit mir zum Arzt, zum Elternsprechtag und zum Baden. Zum Schlittschuhlaufen und woandershin. Sie holte mich vom Kindergarten ab. Sie brachte mich am nächsten Tag auch wieder hin. Sie machte alles auf Befehl und ohne jede Freude. Sie hatte scheinbar keine Wahl. Ich hatte selbst so eine Angst vor ihm, dass mir die Feigheit gegenüber meinem Vater, so früh ganz selbstverständlich schien.

Dabei vergaß ich ihr Gesicht, das nur Verachtung für mich übrig hatte.

Jetzt los, beeile dich. Was hast du denn? Was ist denn jetzt schon wieder los!? Kannst du nicht einmal pünktlich sein! Kannst du nicht einmal ruhig sein. Kannst du nicht wenigstens einmal allein zurechtkommen? Du bist wie eine Klette. So wie du an mir hängst. So wie ein Parasit. Wie Ungeziefer und genau so lästig. Wie Unkraut immer wieder nur nachwächst, wenn man es nicht mit Stumpf und Stiel ausreißt. Wenn man das Ungeziefer nicht ausmerzt, kommt es nur immer wieder.

Ich war damit gemeint.

Jetzt schick dich endlich. Muss das denn immer so lang dauern.

Ich fürchtete mich später insgeheim davor, dass meine Gegenwart nicht Freude machen kann, dass niemand sich in meiner Gegenwart wohlfühlen würde, solange ich anwesend bin.

Dann verließen alle drei gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon seit Monaten nicht getan hatten, und fuhren mit der Elektrischen ins Freie vor die Stadt. Der Wagen, in dem sie allein saßen, war ganz von warmer Sonne durchschienen. Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich noch gar nicht ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später vielversprechend. Die größte augenblickliche Besserung der Lage mußte sich natürlich leicht durch einen Wohnungswechsel ergeben; sie wollten nun eine kleinere und billigere, aber besser gelegene und überhaupt praktischere Wohnung nehmen, als es die jetzige, noch von Gregor ausgesuchte war. Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.

Das waren meine Sonntage dann ohne sie. Sie machten einfach mit der Schwester dann alleine weiter.

Jetzt weiß ich auch, warum mir jede Art Familie, im Grunde jede Art menschlicher Bindung und Verbindlichkeit nur hassenswert erschien. Warum mir jede Art Zusammensein schließlich verachtenswert erschien. Wie jede Art Demonstration, wie jede Ansammlung von Menschen, mir ebenso verachtenswert erschien. Warum ich jede Art Verantwortung für jemand anderen grundsätzlich ablehnte. Ich hasste jede Art Verbindlichkeit. Ich hasste jede Art Entgegenkommen. Mir war Vertrauen doch zuwider. Ich hatte doch als Kind entgegenkommend sein müssen. Bereitwillig, selbst in der Nacht, der Mutter und dem Vater dienen.

Am Morgen wird er von Sonnenstrahlen geweckt, sie dringen durch die Vorhänge in sein Zimmer und bilden orange Flecken an der Wand. Zunächst ist es fast nichts, das Knirschen der Reifen auf dem Kies, ein Motorgeräusch, das sich entfernt, und du brauchst noch ein wenig Zeit, bevor dir klar wird, du bist allein im Haus.

Patrick Modiano Damit du dich im Viertel nicht verirrst

Ich riss mir Bein um Bein in meiner Einsamkeit für meine Eltern aus, um Wirklichkeit in Phantasie so zu verwandeln. Denn jede Art von Phantasie war leichter zu ertragen, für mich wie für die Mutter und den Vater. Das hatte ich gelernt. Kein Bein ausreißen, war doch faul. Und wer sich schinden ließ, der ließ sich seine Beine sogar gern ausreißen. Für meine Mutter und den Vater. So kam die Phantasie dann an die Macht. Und meine Kinderwirklichkeit erblindete. Nur in der Nacht, im tiefen Schlaf, kam sie in Träumen aus der Dunkelheit ans Licht. Doch niemand, den ich kannte, nahm Träume auch bei Tageslicht besehen ernst. Und niemand traute sich das sagen, dass seine Wut den Eltern galt, und ihrem immer wieder ein Kind Abschieben.

Die Phantasie, dass sich ein Kind in seiner Einsamkeit zurechtfindet, ist eine Deckerinnerung. Um Angst und Zorn nicht mehr zu wagen, um Wut auf jene zu vergessen können, die einen immer nur verraten haben.

Ich spürte doch sofort, wenn ich allein gelassen war. Nur sollte ich mir das nicht merken. Erst als ich aus der Einsamkeit erwachte, erwachte meine Wut, und ich verstand, warum ich mich nicht zugehörig fühlen konnte. Ich sollte mich doch nach der Mutter richten. Genauso grün vor Neid, auf jede Menschenseele werden, die sich zu jemand hingezogen fühlt. Von meiner Mutter lernte ich den Neid, auf alles was nach Zugehörigkeit ausschaute.

Warum mußte ich mich gerade mit denen identifizieren, die meinen Abscheu oder mein Mitleid erregten?

F. Scott Fitzgerald

Neidisch sein und Neid erwecken, stecken unter einer Decke. Mit Verachtung alles strafen müssen, was nach Freude aussah, lernte ich von meiner Mutter.