Texte von Hugo Rupp

Wieder beleben

 

AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Sie fragen mit Recht: „Wie soll man beschreiben, was einem fehlt, wenn man es nie gesehen hat?“ Es ist genau das, was die meisten Menschen nicht tun können; ihr Leiden wurde ihnen sehr früh ausgeredet, und als Erwachsene haben sie keinen Zugang dazu. Das ist eine große Tragödie und die Wurzel von neuen Misshandlungen, denn Eltern, die nicht wissen, was ihnen in der Kindheit fehlte, können es ihren Kindern nicht geben; sie erwarten unbewusst, dass sie es von ihren Kindern bekommen: Aufmerksamkeit, Respekt, Zärtlichkeit und all das, was man als Liebe bezeichnet. Wenn sie es nicht bekommen, was sie ja für ihr Recht halten, werden viele gewalttätig und misshandeln ihre Kinder für ihre Frustration. Ich bin sehr froh, dass meine Bücher Ihnen helfen konnten zu verstehen, warum Sie als Kind unglücklich waren, und dass Sie dieses Kind jetzt entdecken können, um ihm Liebe zu geben, weil glücklich zu sein sein Geburtsrecht war.

Aus: Alice Miller, Leserpost, Der unsichtbare Mangel Donnerstag 23 November 2006

Mein Onkel und die Oma litten vorbildlich, sie ließen sich nichts anmerken. Die starben vorbildlich. Die Oma sagte nichts, sie klagte nicht, nicht einmal mit einem gebrochenen Arm. Mein Onkel klagte nicht vor mir. Mein lieber Onkel Martin wurde einfach still und leise. So leise wie es gar nicht geht, so stumm und starr und eingemauert wurde er und sein Gesicht verfiel und dennoch zwang er sich noch immer nichts von sich zu zeigen. Er schrie nie auf. Er klagte nicht. Er zeigte nichts von Wut und Zorn und nichts aus Hass. Er wurde einfach noch stummer und seine Hände zitterten. Sein ganzer Körper zitterte, dann wurde er so traurig im Gesicht und sagte nichts dazu. Ich wusste nie, was ich ihm sagen wollte. Mir fiel nichts ein.

Du hast die Beine deines Vaters, sagt sie. Mit kleinen Krampfadern. Die Beine deines Vaters und seine Haut, sagt sie. Du wirst ihm immer ähnlicher. Auch in der Art, wie du mit mir redest, sagt sie, wirst du ihm immer ähnlicher. Ihr seid euch ziemlich gleich, sagt sie, im Umgang mit dem schwächeren Geschlecht. Ihr lasst euch beide nichts von Frauen sagen, sagt sie. Da seid ihr beide gleich. Du und dein Vater seid euch ziemlich darin ähnlich, wie ihr mit Weibern umgeht und euch gebt. Nie in was nachgeben, sagt sie. Da bist du ganz wie dein Herr Vater. Der lässt sich gar nichts von mir sagen. Da bist du ihm ganz ähnlich. Das eine sag ich dir, du bist ihm jetzt schon ziemlich ähnlich. Ähnlich und ganz genau wie er. Da war der Onkel Martin anders. Der ist ganz anders als dein Vater.

Du wolltest, als du klein warst, was er anhatte, auch für dich haben. Du wolltest ganz genau den gleichen Schal. Genau so einen mit den Punkten, den er immer in der Oper trug. Genau denselben habe ich gemacht für dich. Genau den selben Schal. Du hast ihn auch getragen. Du wolltest gar nicht ohne ihn mehr sein. Ich musste ihn dir auch nach Mersburg mitnehmen. Wo ist mein Schal, hast du gefragt. Wo ist mein schöner Schal und hast mich dabei angeschaut. Du hast mich immer angeschaut, als würde ich dir etwas nehmen. Dabei war ich diejenige, die deinen Vater überredet hat, dich mitzunehmen. Sonst wärst du ganz allein zu Haus geblieben, sagt sie.

Ich habe nichts als Lügen von der Frau gehört, die meine Mutter war. Nur Lügen, gut verdeckte Vorwürfe, Anschuldigungen gegen meinen Vater, als könnte ich etwas dafür, was er der Mutter angetan hatte. Als hätte ich den Vater stets darin bestärkt, wie er mit Mutter umgegangen ist.

Du hast den gleichen Ton. Den Umgangston auch deines Vaters, sagt sie und schaut mich an.

Ich konnte mich dagegen niemals wirklich wehren, dass ich wie Vater war, wie Vater ständig sein sollte, wie er zu ihr.

Die Mutter hat den Vater immer widerlegt, egal was er mir antat oder tun wollte. Sie widerlegte seine Schuld. Sie nahm ihm die Verantwortung und seine Schuld gleich ab. Sie sprach ihn für mich unschuldig. Nur schuldig für sich selbst. Sie sprach ihn frei und mich auch dafür schuldig. Dass sie den Vater schützen müsste, auch gegen mein Gesicht. Was ziehst du nur wieder für ein Gesicht!, sagt sie. Das sagte sie, dass sie nicht für mich sein würde, weil das dem Vater Unrecht täte. Dem Vater schaden würde ich, das sagte sie zu mir. Ich würde meinem Vater schaden. Sie sagt: Du tust ihm wirklich Unrecht! Ich hasse diese Worte durch und durch. Sie stampften mich in Grund und Boden, ohne ein Recht für mich, war ich doch ganz allein. Das war, was meine Mutter immer tat. Sie nahm mir die Berechtigung, mich gegen Vaters Art zu wehren. Ich konnte niemals sicher sein, ob ich im Unrecht oder Recht wäre. Selbst wenn er mich verdrosch, war ich mir nicht mal sicher, ob ich dafür nicht eine Mitschuld tragen würde. Wie irrsinnig. Ein Kind, geschlagen und verraten, macht sich verantwortlich und schuldig noch an seinem Leiden, dass es nicht einmal das vermocht hatte, sich zu beruhigen. Nur ruhig sein, entschuldigte mich wieder bei den Eltern. Nur wenn du endlich still hältst, wird auch dein Vater wieder ruhig schlafen. Ich war an seinen Träumen, an seinem schlechten Schlaf auch schuld. Ich raubte ihm den wohlverdienten Schlaf. Ich raubte meinen Eltern ihre wohlverdiente Ruhe. Wie meine Welt im Grunde Kopf stand, die Wahrheit eine Lüge. Durch die Beschreibung meiner Eltern, nahm ich mir die Gefühle. Versagte mir ein Überlegen. Ich durfte nicht mal überlegen, was in mir vorging; überleben.

Sei wenigstens du ein wenig schlauer, sagt meine Mutter zu mir. Sei du doch wenigstens vernünftig. Denk wenigstens doch du daran, was dir passieren kann, wenn Vater dich enterbt.

Ein Kind verschwindet ohne eigne Worte für sich selbst. Es geht in fremden Reden unter.

Sie löschte mich mit ihrer Sprache, mit ihren Lügen aus. Sie gab mir die Verzweiflung immer wieder. Sie war mir haushoch überlegen. Sie machte mir kaputt, wonach ich immer Sehnsucht hatte: Sei bloß nicht so stolz. So schnell kann niemand sich schon wieder freuen. Freu dich nur nicht zu früh, sagt sie.

Die Mutter war die wahre Heuchlerin, die niemand scheinbar weh tun konnte. Sie wusste alles schon voraus, was aus mir wurde, werden, würde; und überhaupt. Ich wusste nie, was wirklich in ihr vorging. Der Irrsinn oder ihre Lügen. Wahrheit war völlig ausgeschlossen.

Als würde ich mich selbst damit verjagen und verletzen, wenn ich dem Vater widerspräche und mich nicht schämen und darunter leiden würde. Ich sollte eines wirklich von ihr glauben, dass wenn ich nicht auf meine Mutter hörte, mein Vater mir weh tun und noch mehr Schaden zufügen würde. Die Mutter, ihr Gesetz.

Ich sollte mich von meinem Vater nicht befreien. Das war es, das ist, was sie auch selbst niemals begriff. Dass Vater unser Mangel war, der alles rationierte und bestimmte und befahl, der allmächtig Regierende, dem niemand widersprach. Dem niemand widersprechen sollte. Nur ohne Widerrede blieb der Vater so; allwissend und allmächtig, ein Ideal von einem Mann.

Dass Vater meine Seele füttert, ist Mutters Glaube, Illusion, die sie mir immer wieder schmackhaft machte, indem sie mich anlog. Indem sie Vaters Macht beschrieb. Die Mutter fraß dem Vater aus der Hand. Das brachte sie mir also bei, dem Vater aus der Hand zu fressen. Die Sehnsucht nach dem guten Mann, die stammt von ihr. Solange er dich füttert, ist er gut.

Sie fraß dem Vater aus der Hand. Sie war ein zahmer Fisch, der nichts verriet von dieser Hand. Was diese Hand noch alles außer füttern konnte. Hauptsache war für meine Mutter seine Hand. Solange seine Hand sie füttert, solange taucht die Mutter mit ihrer Not, der ganzen Wahrheit, unter.

Die Hand, die einen füttert.

Man beißt nicht in die Hand, die einen füttert, sagt sie. Man widerspricht nicht seinem Vater.

Was ist das doch für eine Lüge, die ich als Wahrheit achten sollte. Dass Worte, Laute, Betragen eines kleinen Kindes, dem Vater auch gefährlich werden hätten können. Die Mutter ahndete tatsächlich jeden Widerstand, auch wenn ich nur anstatt zu ihr, auf einen Boden vor ihr schaute. Die kranke Gier, Aufmerksamkeit, für sich um jeden Preis, ließ ihren Mund andauernd auf und zuschnappen. Als würde ich an ihren Lippen hängen, hängen müssen und meine Augen wegen ihrer Worte zittern, tatsächlich zappeln lassen. Ich hing an ihren Lippen und meine Augen zitterten. Ununterbrochen hin und her. Wie meine Mutter redete, als gäbe es davon auch kein Entkommen. Sie fütterte mich unentwegt mit ihren falschen, mit Lügen ausgewaschenen Worten.

Man beißt die Hand nicht, die dich füttert!

Ich hörte zu und hing an ihren Lippen. Denn das war meine Seelennahrung, die einzige, die ich doch hatte. Mein Vater war nie da und wenn, dann redete er für mich unverständlich, von seiner Arbeit und von Kunden, von Menschen, die ich gar nicht kannte.

Ich kam auf den Gedanken nicht, die Mutter könnte selbst ohne die Worte untergehen, für sich deswegen untertauchen. Die Stille fraß sie nämlich auf, die Einsamkeit in ihrem Herzen, von der ich nichts bemerken konnte, da sie ja unaufhörlich mit mir redete. Ich merkte nicht, dass sie nur Selbstgespräche führte. Dass ich ihr Zuhörer nur war und gar nichts anderes auch sein sollte. Und wenn ich auch was sagen wollte, dann sagte sie: Jetzt ist gleich Schluss. Zuviel gequatscht. Schluss, aus und amen, gleich vorbei.

Sie ließ mich nicht mitreden. Ich hätte ihre Worte nur gestört. Die Selbstbetäubung meiner Mutter, ohne zu wissen, was sie antrieb. Was meine Mutter antrieb, nur zu reden und zu reden, um dann abrupt, für mich vollkommen unverständlich und ohne Widerrede, zu verschwinden, als hätte es sie vorher nie gegeben. Sie tauchte einfach ab. Erscheinung, Geist, Traumwesen und Gespenst.

Sie war deswegen so verheerend, weil ihre Worte, Lügen, eine Sehnsucht in mir wecken konnten, nach einer guten, andern Mutter. Nach einer, die es niemals gab. Die sich um meine Wunden vielleicht kümmern könnte. Die mich mit Liebe hätte füttern können. Das war es nämlich, was es niemals für mich gab. Die Liebe in der Nahrung meiner Mutter. Die Liebe hinter ihren Worten fehlte gänzlich.

Sie konnte meinen Vater nicht festhalten. Sie konnte nicht in seine Hand beißen. Sie konnte ihre Wut dem Vater gegenüber, nur mir beichten, und ohne dass ich das verstand. Sie hatte viel zu große Angst vor ihm. Sie konnte sich ihm nicht entgegenstellen. Sie konnte Vater nicht verraten. Sie konnte Vater nicht zur Rede stellen. Sie konnte ihn nicht fragen, warum er soviel schimpfte. Warum er alles haltlos hasste. Warum er seine Umwelt so verachtete. Sie durfte ihn nichts fragen. Niemals den Vater etwas fragen. Sie konnte ihn nicht beißen und angreifen. Sie konnte Vater keine Predigt halten. Sie biss ihn nicht. Sie biss nie seine Hand. Wenn er sie zog und sie bedrohte, wenn er vor ihr sein Hemd zerriss, das nicht genau gebügelt war, so wie er sich das vorgestellt hatte. Sie konnte seine blinde Wut nur unterwürfig und voller Reue selbst ertragen. Sie konnte sich an meinem Vater niemals rächen. Sie musste ihre Wünsche nur vertagen. Sie wartete auf ihn. Sie wartete auf seinen Segen. Auf die Erlaubnis, für ein Leben. Sie wartete darauf, dass seine Hand sich einmal öffnen würde. Nicht immer Faust, und Zorn und Hass an sich festhalten würde. Dass seine Hand noch Liebe würde geben können. Sie wartete darauf. Sie hatte viel zu große Angst vor dem verlassen werden. Sie hatte große Angst, allein zu sein.

Sie schuf sich einen Stellvertreter. Sie machte mich zu ihrem und zu meinem Vater. Sie machte das mit mir, was sie mit meinem Vater niemals hatte machen können. Ich sollte seine Sünden für sie büßen. Ich fürchtete mich sehr. Weil nichts die Mutter bremsen konnte. Ich lernte das von ihr. Solang die Wut, der Zorn, der Hass nicht richtig adressiert wurde, besteht das ehemalige Kind, aus einem Rachedenken, das Stellvertreterkriege sucht.

Ich war so klein. Ich hatte doch wie jedes Kind gar keine Ahnung von der Schuld und vor etwaigen Sünden. Deshalb verstand ich ihre Reden und Beschuldigungen nicht. Ich hatte keinen Schimmer Ahnung, wovon sie unentwegt nur redete, wenn sie von Schuld und Schämen redete.

Du solltest dich was schämen, sagt sie.

Ich konnte nichts daraufhin sagen.

Deshalb erfindet eine Religion eine Grundschuld. Deswegen macht eine Religion unschuldig geborene Kinder gleich von Geburt an schuldig. Damit niemand auf die Idee noch kommt, dass diese Religion nur Sündenböcke für den Glauben braucht. Die Angst vor einem Gott, die Furcht davor, mit Wut und Zorn und Hass ihm zu entgegnen, weil er selbst seinen Sohn für seine Stellvertreterkriege opfern musste. Ohne einen Funken Liebe. Vergebung wurde nie empfunden, sie soll empfunden werden, für die Verbrechen eines Vaters, damit die Sucht nach Sündenböcken, die Feigheit der Erwachsenen vor ihren eignen Eltern unsichtbar und verschwiegen bleibt.

Vergebung kann kein Kind, das noch was fühlen kann, begründen. Vergebung raubt einem Kind das Recht auf sein Gefühl. Die Mutter nahm mir die Berechtigung mich gegen meinen Vater aufzulehnen und so betäubte sie die eigne Not. Deswegen nahm sie mich als Geisel.

Was ein ehemaliges Kind dann wirklich für sich retten kann, ist seine Liebe für sich selbst, wenn die dann plötzlich möglich ist, als Beistand und Beweis, als die Berechtigung der Wut, des Zorns auf die Ungerechtigkeiten und Beschuldigungen hin. Vermeintlich sündhaft sein, Du solltest dich was schämen, bedeutet für ein Kind, dass es sich nicht mehr länger lieben kann. Doch wenn das möglich ist, sich selbst wieder zu zeigen und zu beschützen und zu begleiten, wird ein für alle mal auch klar und deutlich realisierbar, dass das gar keine Liebe war, was meine Eltern für mich übrig hatten.

Denn Liebe ist für Glück doch unabdingbar die Voraussetzung. Die Freude und die Liebe eines Kindes, ist doch das Fundament, ein Manifest für Glück.