Texte von Hugo Rupp

Wer mich empört

 

Der nachhaltigste, am längsten währende Schmerz war, da sich meine Mutter abwandte von mir, im Moment meiner höchsten Not, und mir somit zeigte, dass auch sie gehorsam war gegenüber den „Gesetzen“ meines Vaters. Den Gesetzen, die mein Vater aufstellte und nach denen er die Strafen richtete, an die Person, die er strafte, die er richtete, die er schlug, über die er Worte schüttete, in die er sich hinein schrie und verschimpfte, wie er mich in Angst und Schrecken so versetzte, mich als seinen Sohn.

So erbarmungslos, wie er sich antrieb, von inneren Maschinen, seinen Vorbildern angetrieben, war auch ich später angetrieben; blinder, gelehriger Sohn, blinder Wut und ungeteilter, ungerührter Anteilnahme meiner Mutter folgend. Ich lernte alles unter Schmerzen. Das Schmerzhafteste, die Lektion die mich am meisten verzweifelte, dass Strafe sein muss, ohne einen Grund, ohne wenn und aber, unter allen Umständen. Dass Strafe immer sein muss, dass auf jeden Fehler, auf jedes Versagen, auf jede Fehlbarkeit, auf jeden Irrtum, auf jedes Geschehen, jedes Tun, Strafe folgen kann, und auch irgendwann dann folgt. Dass nichts vergessen und verziehen wird im Universum meines Denkens, Fühlens.

Der Traum von der Einheit des Universums ist jener, in dem alles miteinander verbunden ist und zusammenhängt, unauflösbar, schuldhaft ist. Der Traum von der Schuld und allen Schuldigern und dass die Schuld bestraft wird, jetzt, oder später, auf jeden Fall irgendwann, mag es auch in fernster Zukunft sein. Ewiges Gedächtnis.

Egal weshalb, warum auch immer, dass keine Schuld jemals verfliegt und plötzlich aufhört, sich verneigt und geht, wie auf der Bühne. Nein, Schuld besteht, seitdem ich Strafen kennen lernen musste, in mir. Als wäre ich der Träger Schuld und müsste unaufhörlich auf Bestrafung warten.

Nur alleingelassen war ich nicht mehr schuldig. Weil ich hier die Schuld mit meiner Strafe Einsamkeit verbüßte, war ich einsam nicht mehr schuldig. Bis die nächste Schuld, wieder unter Menschen, kam. Mit dem nächsten Atemzug, mit dem nächsten Schritt, der den Eltern nicht gefiel, kam die nächste Schuld, kommt das Warten auf die Strafe.

Wenn du nicht gleich schlafen willst, kommt der schwarze Mann. Der nimmt dich dann mit.

Wenn du nicht gleich schlafen willst, geh ich weg, und komm nie mehr wieder!

Sehe ich den Blicken nach, sehe ich die Abneigung. Sehe ich in ihr Gesicht, sehe ich die Schuld auftauchen, für die Mutter, für Bestrafung wird sie sorgen, oder er, der Vater. Sie sagt alles, was sie will. Alle meine Sorgen, meine Art Vergehen meldet sie. Dann berät sich meine Mutter, mit sich selbst, dann beredet sie den Fall, vor mir, liege ich, schaut sie schmunzelnd über mein Vergehen, wütend über meinen Fall, meinen Sturz, mein Vergehen, dass ich sie erschrocken habe. Später über meine Liebe dann, zu der Krankenschwester, zu der Kindergärtnerin, und zum Arzt, der mir einmal auch zuhörte, zu der Lehrerin, die ich selten, wie nichts liebte.

Sie bestrafte mich mit Verlassen. War schon immer so. Habe ich niemals gesehen, konnte ich als Kind niemals so sehen. Dass Verlassen Strafe ist, dass ihr Gehen, Spiele als Verstorbene, Spiele, bei denen sie sich vor mir versteckte, wenn sie sagt, jetzt geht sie weg, kommt nie wieder, alles ihre Spiele, immer doch auch und vor allem Strafen waren. Ihre Strafen für Vergehen, die ich nicht verstand, die ich nicht verstehen konnte. Ich, musste später auch verlassen, nur verstand ich selbst doch nie warum. Unheil droht, Unheil kommt, immer aus dem Dunkel, fällt vom klaren ungetrübten Himmel, fällt von oben heiter nun auf mich. Ohne Vorwarnung. Wie der Treppensturz, den sie mit ansah, den sie doch beobachtete, als der Zuschauer, der den Vorfall mitverfolgt, ungerührt, keinen Daumen rührend, keinen Schritt zu mir, mir zu Hilfe eilend, mich kalt lächelnd in den Abgrund stürzen lassend. Dann erst ist sie gekommen, schweigend, wollte meine Tränen weder sehen, noch die Schreie hören. Wollte meine Schmerzen nicht.

Bist selbst schuld, sagte sie. Wer nicht hören will, muss fühlen. Wenn ich fühlte, war ich schuldig. Immer wenn ich fühlte, statt gehorchte, war ich für mich schuldig. Schmerzen wurden nun Anzeichen für die Schuld, für mein schuldig sein, für die Möglichkeit der Schuld. Wenn mir etwas weh tat, war ich für mich schuldig. Weh tun war die Strafe, für Vergehen, die ich schon als solche gar nicht mehr erkannte. Für die Sünde und noch mehr. Mir war von der Sünde nichts bekannt. Was soll eine Sünde sein, für ein kleines Kind? Was soll eine Sünde sein?

Doch die Schuld musste es doch geben, wenn ich Schmerzen hatte, krank war und im Bett mit Fieber lag, wenn ich schwitzte, mich nur übergab, wenn ich hustete, wenn ich schwach war wie ein müder Hund, nur so dalag, wie ein Teppich, ohne eine Tatkraft, ohne einen Mut, ohne eine Ahnung, was aus mir nur wird, was aus mir nur werden sollte. War ja schließlich auch egal. Soviel Schuld musste unter Räder kommen. Wer so viel Schuld in sich trägt, muss wohl unter Räder kommen.

Schmerz war schuldbedingt. Schuld war meine Schuld. Schmerzen waren darauf eine Antwort, auf die Schuld. Meine Strafe. Immer wurde ich bestraft. Immer folgte eine Strafe. Auf das Gehen, Stehen, Liegen, Schlafen, Reden, Essen, Spielen, Tun. Immer war etwas nicht richtig, immer folgte eine Predigt und ein Strafen.

Unheil senkt sich und versteckt sich selbst im kleinsten Apfelstückchen. Als ich meine Schwester dann beim Spiel fast erstickte, war es etwas anders. Hier erschrak die Mutter auch, auch der Vater schreckte sich. Sie erschraken beide. Und sie sahen meinen Schrecken nicht. Sie erschreckten mich noch mehr. Vater sprach mich mit der Kälte an, die mich noch mehr frösteln ließ und mich immer mehr vereiste. Kalte Strafe war in seinen Worten, klar und deutlich seine Rede. Wie ein Richter ohne Augen, Seele und Verstand, redete mein Vater. Ich verstand kein Wort, sah nur immer wieder seine Strafe, seine Strafe mich vereisend, mich abtrennend, mich ausweisend, mich ausstoßend, aus den Augen aus dem Sinn, mich austreibend, wie den bösen Geist aus dem Haus des Vaters. Mit Gedanken ohne Wärme machte er mich kleiner, ließ mich zitternd auch zurück, schloss die Tür, schloss mich aus der Anteilnahme. Schloss mich aus, stieß mich in Verbannung. Machte mich zum Unantastbaren. Ich war selbst tabu. Diese Strafe blieb.

Warum versteckte ich mich später hinter Holzstößen, hockte auch in Kellern, sonnte mich im Schatten, wo die wenigsten Menschen waren. Ich verkroch mich und versteckte mich vor der Strafe, vor der Möglichkeit der Strafe. Ich war selbst geblendet, ich der schuldhaft, ausgesetzte, mied die Sonne, mied den Vater, der die Schuld am Haaransatz erkannte. Vater sah selbst kleinste Schuld. Niemand sah mich, holte mich aus diesem Schatten, niemand sah, dass ich meine Schuld versteckte, dass ich mich mit meiner Schuld versteckte, schon von Anfang an. Niemals sah ich selbst, dass ich mich aus Angst vor ihren Strafen, vor der ganzen Welt versteckte. Ich versteckte mich vor allem Strafen. Meine Angst vor Strafe, Strafen und Bestrafen. Duckte mich auf der Straße, zog die Schultern ein. Zog die Mütze ins Gesicht, grub mich in mein Zimmer ein, blieb in mir zurück, leise atmend wie ein Fisch, unter Wasser auf die Sonnenspiegelungen achtend, auf den Himmel, was sich dort bewegte, was mir noch gefährlich werden könnte. Ich vereiste schließlich meinen See. Lebte unter Eis. Lebte dort mein Leben. Vater schlug mich vor der Mutter, vor der Schwester, neben ihr. Vater schlug mich vor den Zeugen. Vater schlug mich wegen nichts. Nichts was ich als Schuld, als Verschulden, Fehler noch verstehen hätte können. Vater schlug mich. Strafe muss sein. Strafe musste sein für ihn und meine Mutter und für meine Schwester. Vater spielte einen Rächer. Vater mochte sich. Vater wünschte sich Gehorsam; nichts so sehr. Vater liebte den Gehorsam. Seine Art von Liebe. Wer gehorsam war, tat was er befahl, liebte meinen Vater. Vater liebte den Gehorsam. Vater wollte, dass man ihn gehorsam liebte. Vater musste ich so lieben, wie die anderen. Wer gehorsam war, liebte ihn. Wer ihm gehorchte, der liebte ihn in seinen Augen. Wer sich quälen ließ und bestrafen, war gehorsam und gehorchte. Wer sich auch beschimpfen ließ und kein Widerwort erwähnte, liebte seine Art des Liebens. Liebte ihn gehorsamst. Wer gehorsam war, liebte seine Macht, ließ sie ungerührt geschehen, ließ sie über sich ergehen. Keine Widerworte, waren für den Vater die Gehorsamkeit, die an seiner Seele rührte. Strafe und Bestrafung waren Nahrung für die Seele meines Vaters. Strafe annehmen, nichts mehr sagen, nie mehr weinen, nur dem Vater folgen, war Gehorsamkeit. Wer dem Strafen folgte, war sein Allerliebster. Wer ihm selbst beim Strafen folgte und gehorsamst schaute, und sich ungerührt seinen Strafen beugte, ohne dass er einen Buckel machte, folgte seinem Wort. Wer sich nicht verbiegen ließ, ohne wenn und aber, folgte meinem Vater nicht.

Halte dich gerade, wenn ich mit dir rede, sagte er.

Wenn mein erster Schmerz nachgelassen hatte, kam die Mutter zu mir und empfahl mir meinen Schmerz zu vergessen und dem Vater zu verzeihen; sie empfahl mir das Gesetz zu würdigen, dass egal, was ich mir auch denken würde, der Vater doch immer zuerst gehört, angehört, werden müsste.

Ich sehe immer noch die Abneigung bei ihr, meiner Not gegenüber. Sie neigte sich ab und ließ die Strafe geschehen. Sie bestätigte die Strafe, die Prozedur, das Schlagen. Sie heiligte die Mittel, sie heiligte den Schmerz. Ich habe das nie verstanden, aber die Strafe, die Bestrafung, an mir verübt, war auch für sie eine Bestätigung, wie für jeden, der unter Gewalt aufwachsen musste. Jede Bestätigung ist auch für den Zeugen, der teilnahmslos, ungerührt die Strafe und die Exekution verfolgt, eine Bestätigung dafür, dass Strafe sein muss. Nur so kann sich der Zuschauer vor den eigenen Schmerzen in Schutz nehmen. Wenn er sie sehen würde, wenn er sie mitfühlend erkennen könnte, würde er sich einmischen, er müsste intervenieren. Es liegt in seiner Natur, es ist die Liebe zu sich, die den Schmerz erkennen und erfahren kann.

Dass der Zeuge der Strafe, der Ausübung von Gewalt hinnimmt, gestattet, dass alle diejenigen, die zusehen wie ein Kind, wenn ein Kind geschlagen wird, diese Strafe für das Kind bestätigen, entgegen seinem Gefühl für sich und seine Art Gerechtigkeit, dass all diejenigen, die Gewalt tatenlos passieren lassen, dem Bestraften, dem Opfer, das Gefühl bestätigen, dass es alleine ist. Dass niemand da ist, der sich erbarmt.

Dass die Zeugen, die Zuschauer, die einem Unrecht beiwohnen und vom Unrecht erzählen, wie sie von einem Schicksalsschlag ungerührt erzählen, wenn sie den Hergang, den Ablauf, die Anatomie eines Unglücks beschreiben, dass diejenigen, die sich unbeteiligt dem Geschehen unterordnen, indem sie das Geschehen wie von außen, neutral betrachtet, beschreiben und so auch hinnehmen, schildern, dass diese Zuschauer, Beobachter, ein Opfer der Gewalt, zum Objekt erst machen.

Dass der ungerührte Zeuge, der teilnahmslose Beobachter, der Zaungast, der Gast, der Reporter, der Nachrichtensprecher, der Besucher, durch seine Teilnahmslosigkeit dem Todeskandidaten, dem Opfer, dem Unglücklichen, dem Gefallenen, dem Hingefallenen, dem Leidenden, dem Weinenden, dem Kind in seiner Not, das Gefühl erst geben, dass es niemals aufgehoben sein wird, weil sein Leid nicht bestätigt wird, seine Not nicht bestätigt wurde, weil sein Schmerz ihm nicht gestattet worden ist, auf Grund der Gleichgültigkeit und Ignoranz der Anwesenden. Weil der ungerührte, unberührte Zeuge, der Zuseher, Zuschauer, der keinen Finger rührt, der zusieht, sich nicht einmischt, dem Opfer, dem Kind das Gefühl vermittelt, dass Strafen sein muss und dass ich, wie jeder andere auch, für seinen Schmerz und sein Leid und sein Unglück ganz alleine selbst verantwortlich sei. Dass es keine Möglichkeit gibt, den Schmerz ohne Schuld zu fühlen, weil der Schmerz die Schuld bestätigt und förmlich heiligt als Schuldanerkenntnis, wie auch die Mittel selbst geheiligt werden, um die Schuld für immer zu installieren.

Dass der Schmerz selbst ein Schuldanerkenntnis ist.

Dass wer Schmerzen hat, selbst Schuld hat und schuldig ist, schuld an seinen Schmerzen hat. Dass die Schuld sich durch den Schmerz bemerkbar macht, als Selbsterkenntnis, als Glaubensbekenntnis, als Schuld, ewig, ewig.

Das ist Ausweglosigkeit ohne gleichen. Für mich Kind gab es keinen Ausweg mehr. Je verzweifelter und auswegloser, desto schuldbeladener wurde ich und fühlte mich. Selbst schuldig an meiner Ausweglosigkeit und Verzweiflung darüber. Selbst schuld an meiner Wehrlosigkeit.

Ich lernte unter Schmerzen, teilnahmslos zu sein, mir selbst gegenüber und auch anderen. Ich lernte unerbittlich sein und strafen. Ich lernte strafen unter Eiseskälte. Ich lernte fühllos und gefühllos werden. Eis zu sein, für mich und andere. Und irgendwann vergaß ich, dass ich Eis war, wie ich wurde.

Ich wurde Hölle. Die Hölle selbst. Mein eigener Besucher. Im Eisesland, in mir. Im Spiegelsaal erfrorener Gesichter. Die Hölle ist nicht heiß. Eiskalt ist sie und ohne eine Rührung und ohne eine Möglichkeit sich zu bewegen, sich selbst zu reiben, seine Hände warm zu reiben. Ich konnte keine Wärme mehr erzeugen. Ich selbst in meiner Hölle, kann keine Wärme mehr erzeugen. Gesichter sehen nichts. Die Augen sind aus schwarzer Kohle. Ich zeuge nichts, ich bin nicht einmal mehr mein eigner Zeuge. Ich bin nur Eis und alle anderen für mich. Ich halte alles an, vereise jedes Leben. Vereise alles Lebendige. Die Strafe ist das Eis, selbst das vergesse ich. Die Rettung ist das Eis, auch das vergesse ich. Denn ich vergesse alles, was ich über Schmerzen weiß, was mir mein Körper sagen wollte. Ich bin vereist, ich fühle nichts. Ich schneide Zeichen in mein Fleisch und spüre keinen Schmerz.

Es ging mir darum, den Schmerz nie wieder so zu fühlen, wie er mir einst gewesen ist, in meiner Not allein zu sein, und ohne einen wahren Zeugen, der sich einmischt, ein Wort nur sagt in meine Augen, meine Richtung, der mich anblickt und mich bestätigt, der sich nicht abneigt und verschweigt, der nicht mich Kind verschwinden lässt, mit seiner Seelenruhe. Wer MICH empört, zerbricht das Eis vor SEINEN Augen. Der taut die Hölle auf.