Texte von Hugo Rupp

Vor der Wut

 

Dass Sie es ist, die Nikolaus die Sachen sagt, die dieser weiß, das wusste ich doch nie. Wie Gott das alles weiß, mein Vater plötzlich weiß, was ich gesagt, getan habe, woher er das nun wieder weiß, das war für mich als Kind vollkommen rätselhaft. Ein dunkler Wald, in den man ruft und keine Stimme da, die was erwidert. Alles verschluckt der Wald. Wie Vater sagt, wie man in den Wald ruft, so schallt es einem dann entgegen. Und ich verstand kein Wort, was er mir damit sagen wollte. Ich wusste nie, was das bedeutet. Wie man in den Wald ruft, so schallt es einem entgegen. Ich habe nie in einen Wald gerufen.

Dass meine Mutter in diesem Wald als Geist lebt, als Seegeist und als Seeungeheuer, das mir nur immer Untergang vorspielt und prophezeit, das wusste nur mein Traum.

Sie sagte alles meinem Vater. Und der bestrafte mich. Doch ohne dass ich wusste, woher der Vater meine Worte, Widerworte und Gedanken hatte. Sie wusste alles nur von mir, und ich kam nie auf die Idee, dass sie das alles meinem Vater weiterreichen, übergeben und verraten würde. Der Nikolaus, der schwarze Mann, mein Gott, mein Vater, sie hatten alle eine Informantin, den Engel der Verkündigung, der nicht nur Vaters Wort verkündete, der ganz besonders auch mein Wort dem Vater zusteckte, ihm Sätze, Worte, alles wie sie es von mir gehört, und was ich nur so hinsagte, was ich andachte, was ich bemerkte, was ich in meiner Wut auch sagte, was ich dahersagte, leichthin, das alles, was sie für sich und meinen Vater wertvoll erachtete, das redete sie dann meinem Vater ein. Das brachte sie ihm näher. Sie brachte meine Worte meinem Vater bei, und der verriet Sie nie, dass er das von der Mutter wusste, das sagte er doch nicht. Dass das und das ihm so zu Ohr gekommen sei, woher, das fragte ich ihn dann, darauf er nur, nur so, das tut hier nichts zur Sache, woher ihm das zu Ohr gekommen sei, das fragte ich dann wieder, das tut hier nichts zur Sache, ob das denn stimme, ob ich tatsächlich das gesagt habe, das wolle er tatsächlich wissen, die Quelle tue nichts zur Sache, die Wahrheit interessiere ihn, das sagte er, ob ich jetzt endlich antworte, ihm seine Frage nun beantworte, ob ich das so gesagt habe, ja sagte ich, das sei doch eine Schweinerei, so über seinen Vater reden, so über seine Eltern herzuziehen. Das eine könne er mir gleich sagen, er lasse das nicht zu, so über ihn zu reden, in aller Öffentlichkeit, so etwas über ihn zu sagen, er sei kein gemeiner Mensch, er würde doch für alle sorgen.

Er schlug mich windelweich und meine Mutter weinte dabei leise. Ich weinte nicht.

Ich hatte Angst vor diesem Mann, der plötzlich vor mir stand in unserem Wohnzimmer, der ganz allein, nur wegen mir, zu mir gekommen war, der vor mir stand wie die Erscheinung eines Geistes und der mich anlächelte, der mich tatsächlich anlächelte, doch ich verstand sein Lächeln nicht, ich war der böse Junge. In diesem Raum mit Vater, Mutter, Nikolaus, war ich der böse Junge. Ich klein, zwei Jahre alt, war böser Junge, der sich die Sachen anhörte, die man nicht tut und lieber lässt. Ich glaubte an den Nikolaus, weil der doch Sachen wusste. Der wusste was von mir, der wusste, was ich gerne tat, was ich auch gerne hätte, dass ich doch endlich auch alleine schlafen sollte, das sagte er zu mir, das würde ihm gefallen, der wusste also, dass ich nicht gern alleine war, alleine schlafen wollte, der wusste von den Schnullern, der wusste dass ich Schnuller hatte, der wusste alles, was ich wusste. Der wusste alles nur von mir. Ich sah ihn an und wusste nichts, weil er doch alles wusste.

Ich wollte später nichts mehr wünschen, weil Wünschen mich verriet, weil meine Wünsche mich verraten hatten, das hatte ich geglaubt, dass meine Wünsche mich verraten haben, als meine Mutter mich gefragt hatte, was ich mir denn noch wünschen würde, da sagte ich ein schwarzes Pferd, ein schwarzes Pferd, wie das in diesem Schaufenster, da an der Straße, an der Ecke, da beim Friedhofsgang, da unter allen Spielsachen. Und Nikolaus der hatte das dabei, das schwarze Pferd, ein schwarzes Pferd, dem ich die Beine drehen konnte, ein schwarzes Pferd für mich.

Ich wusste nicht, dass immer wenn ich Wünsche äußerte im Beisein meiner Mutter, sie meine Wünsche weiterleitete, sie untersuchen ließ von meinem Vater. Ich wusste seit dem Nikolaus, dass jemand meine Wünsche las, wenn ich mir etwas wünschte, ich wusste nie, dass meine Mutter mich verriet, mit allem was ich wünschenswertes sagte. Sie war mein Engel der Verkündigung, Staatssicherheit des Geistes, mein Vater war, was er doch immer war für mich, die Polizei und Richter und Vollstrecker.

Er schlug mir meine Wünsche ins Gesicht zurück, er schlug mich für die Vorhaben, für das was ich nur dachte, er schlug mich für Gedanken, er schlug mich für die Phantasie, er schlug mich für das, was in mir war und was auf meiner Zunge lag. Er schlug mich für den Geist. Er schlug mich für meine Worte.

Ich dachte seit dem ersten Nikolaus, dass jemand mich verstehen würde, wenn ich mir Wünsche äußerte, dass mir tatsächlich dabei jemand zuhörte und meine Wünsche registrierte. Dass wenn ich Wünsche und Gefühle hatte, das doch bemerkt würde. Dass es da jemand gibt, der mir zuhört, als Reaktion auf meine Wünsche. Als gäbe es die Möglichkeit, dass wenn ich ganz besonders innig mir was wünschen würde, dass wenn ich ganz besonders fest mir etwas in Gedanken wünschen würde, dann das auch in Erfüllung gehen würde. Ich wusste nie, dass meine Wünsche mir gehörten, weil die Erfüllung meinen Eltern überlassen war.

Solange ich an meine Eltern glaubte, war die Versicherung in mir, dass irgendwer doch irgendwann die Wünsche, die ich hatte, auch später noch erfüllen würde können, vorausgesetzt ich würde meine Eltern achten. Dass diese Art von Religion nur auf Verrat basiert und auf der Lüge, dass jemand meine Wünsche und Gedanken lesen kann, das konnte ich nicht wissen. Ich wusste nicht, dass es auch schlechte Wünsche geben könnte, dass ich schon für den Wunsch an sich bestraft wurde.

Mein Vater schlug mich windelweich, weil ich gesagt hatte, dass ich mit einem Freund zum Kaffeetrinken nach Venedig fahren wollte. Das sei eine Idee, das sagte ich der Mutter lächelnd an diesem Nachmittag. Und sie erzählte es dem Vater.

Wie kann man sich nur so was wünschen, das schrie mir Vater ins Gesicht. Wie krank muss man da sein, dass man sich so was wünscht. Für soviel Geld, was sich ein anderer vom Mund abspart, nur einmal so dahin fahren. Nur einmal so dahin zu fahren wollen. Das sei doch eine Sauerei. Ich wusste nicht, warum mein Vater wütend war. Ich hatte nichts getan. Ich wusste nicht, warum er mich jetzt schlug. Ihr habt keinen Respekt, vor niemandem. Ihr habt keinen Respekt vor der Leistung eines anderen. Wofür manche von uns hart arbeiten müssen. Ich war mit deiner Mutter auf Hochzeitsreise in Venedig und habe mir jeden Pfennig vom Mund abgespart, um dort hinfahren zu können. Und du Dreckskerl willst nur dort hin um einen Kaffee zu trinken.

Mein Vater schlug mir meine Wünsche um die Ohren, er brachte mir das rechte wünschen bei, das mich verwünschen.

Ich hörte mit dem Wünschen auf, weil mich das in Gefahr brachte. Weil Wünsche mir gefährlich wurden. Ich hörte auf, auf sie zu hören.

Du brauchst jetzt nicht zu weinen.

Ich weinte nicht. Ich weinte nicht mehr in der Gegenwart der Eltern. Das war schließlich ihr erster Wunsch an mich, der größte meiner Mutter, ich möge endlich aufhören zu weinen, ich würde nur aus lauter Langeweile schreien, das sagte sie.

Dass Wünschen gleichbedeutend mit dem Fühlen eines Kindes ist, das konnte ich nicht wissen. Ich kannte nur den Schmerz, der in mir war, je öfter ich nicht wünschen und nicht fühlen sollte. Ich kannte nur den Schmerz, nicht seinen Hintergrund. Den Grund für meine Träume.

Ich bin der angefahrene Hund, dem sie das Rückgrad brachen. Ich bin das Reh, dem sie im hohen Gras mit einem Mähwerk seine Hinterläufe abmähten. Ich liege hinter einer Tür und bin vollkommen nass geschwitzt. Ich kann noch etwas kriechen, doch nicht viel mehr. Ich liege hier allein. Ich habe mich hier her gerettet, mit letzter Kraft. Ich bin in einer fremden Gegend. Ich liege hinter einer fremden Tür. Nur nicht nach Haus und weg von dieser Stadt und raus aus diesem Feld. Sonst werden sie mich kriegen.

Ein angefahrenes Reh muss man erschlagen. Dem Pferd, das sich ein Bein bricht, gibt man den Gnadenschuss. Man sollte dich wie einen Hund, der Tollwut hat, erschlagen. Das sagte mir mein Vater und meine Mutter hörte zu.

Ich weinte nicht. Ich blieb gleichgültig. Ich wurde meiner Mutter nur gerecht, ich blieb auch hier ihr liebenswerter Sohn. Ich wurde ihr gerecht, indem ich wehrlos blieb. Verharrte in Erstarrung. Ich ließ mich schlagen. Ich wurde dem gerecht, was sie mir beigebracht hatte, mich immer wieder lehrte, Gerechtigkeit um meines Vaters willen. Ich folgte dem Gesetz, gehorsam sein. Ich bin Kadaver. Ich mache meiner Mutter keinen Kummer, selbst wenn mein Vater mich totschlägt.

Ein ehemaliges Kind, das seine Wut und seinen Zorn auf seine Eltern wieder findet, braucht als Erwachsener keine Sündenböcke mehr. Das „Recht“ des Stärkeren hört endlich auf in ihm zu wirken. Denn es erkennt den Wahnsinn der Erziehung, dass es auf Schmerz mit falschen Mitteln reagieren musste, da es statt Wut auf fortgesetzten Schmerz und immer gleiche Pein, nur Ruhe zeigen konnte.

Ich musste mich als Kind mutlos verhalten, damit die Liebe auch erhalten blieb. Ein braves, gutes Kind war ich, selbst voller Hass nett lächelnd.

Der Klügere gibt nach, das sagte meine Mutter später, nachdem ich mich bei ihr beklagt hatte. Das war für mich nur ausweglos. Was sie mir sagte, zeigte, dass sie den Vater schützte, doch immer nur den Stärkeren und wieder nur den Klügeren vertrat, dass sie mir niemals helfen würde, solange ich der Schwache war. Ich lernte Schwäche zu verachten.