Texte von Hugo Rupp

Vom Sinn des Schmerzes

 

Inmitten meines Schmerzes, inmitten meines Leids, ging sie, drehte sich angewidert von meinem Schmerzempfinden weg und ließ mich liegen.

Inmitten meines Leids war ich allein. Bis ich erschöpft vom Weinen, nicht mehr weiter weinte. Sie meinte immer, dass ich mich beruhigt hätte, dass ihr weg gehen mich beruhigt hätte, doch hat mich ihr weg gehen und alleine lassen, völlig verzweifelt. Meine Ruhe war die vollkommene Verzweiflung.

Ich habe das Weinen schließlich aufgehört, auch meine Wut habe ich aufgehört und meinen Zorn, weil ich irgendwann zu schwach dafür gewesen bin. Ich hatte mich tatsächlich ausgeweint, ich hatte meine Seele ausgeweint. Ich fühlte dort nichts mehr, wo Schmerzen einmal waren, ist nichts mehr gewesen, als Grausamkeit und wieder Grausamkeit. Ich fühlte später, beim Sehen irgendwelcher Grausamkeiten nichts, nicht eine Spur von Anteilnahme, ich fühlte keinen Schmerz, ich fühlte keine Gegenwart, auch keine Freude, nichts fühlte ich im Beisein Anderer, im Angesicht der Schmerzen anderer. Ich sah den Schmerz und fühlte nichts dabei. Ich wich nicht etwa aus, verschloss auch meine Augen nicht, ich spürte nichts dabei. Die Blindheit war nie äußerlich. Ich fühlte keinen Schmerz. Es war in mir auch keine Lüge und Verleugnen, es war auch keine Abkehr von den Schmerzen und vom Leiden anderer. Ich leugnete doch keinen Schmerz, ich sah mir Schmerzensleute immer wieder an, und begegnete niemals dem Schmerz, der mich verschlungen hatte. Mich hat die Leere aufgefressen, damals in meinem Zimmer, allein mit meinen Schmerzen und der Einsamkeit, bin ich für mich gefallen. Ich bin die Nacht und alle Nächte, die es für mich gab, nur immer wieder durchgefallen. Ich war allein auf leeren Plätzen, Orten. Die Hoffnung war nicht da. Denn ich wartete nicht. Ich war da und schaute in die Nacht. Ich sah in diesen Nächten nichts als Nacht, und Dunkelheit. Ich hatte keine Phantasie, mir Menschen zu erschaffen. Ich hatte keine Vorbilder. Ich bildete nur immer wieder meine Leere ab, nichts anderes. Die Leere war mein einziges, an das ich mich erinnern kann. Die Leere in mir, äußerlich und überall, und nichts dabei. Ich hatte keine Seite, ich kannte keine andre Seite meiner Existenz. Ich hatte nichts verloren. Ich war nicht einmal weg. Ich war für mich doch anwesend. Es ist das Grauen, das aufscheint, wenn ich die Menschen einsam gehen sehe, vereinzelt über Wiesen, Höfe, Plätze, dass sie sich nicht begegnen und berühren werden, auch wenn sie noch so oft und welche Wege sie auch gehen mögen, sie werden niemals eine Nähe finden. Sie suchen keine Nähe mehr. Ich suchte schließlich keine Nähe mehr.

Ich kenne keinen älteren Schmerz als nichts zu sein und immer wieder nichts, mit mir und meinen Schmerzen vollkommen nichts, allein, mir selbst und meinen Schmerzen unverständlich, allein und unverständlich mir. Ich weine und ich weiß nicht mal weshalb. Ich weine immer nur allein. Mein Weinen hörte auf, weil ich den Sinn nicht mehr verstand. Das Weinen, das ich in mir hatte, das hörte schließlich auf. Ich wusste nichts von einem Sinn des Weinens. Ich hörte meine Art von Weinen auf, weil sich mein Weinen selbst erledigte. Es hatte für mich keinen Sinn, nur immer weiter, nur selbst allein für mich zu weinen. Ich sah nie Tränen in den Augen meiner Eltern. Sie weinten nicht mit mir. Die Fähigkeit eines jeden Kindes, meine, mit den Tränen auch zu sprechen, verschwand mit mir im Nichts, in einer dieser Nächte damals. Mich rührten keine Tränen später, war ungerührt, wie meine Eltern meinen Tränen gegenüber waren, und rührte keinen Finger, im Angesicht der Tränen. Nur Hass und Abscheu manchmal, war meine Reaktion auf Tränen und das Weinen anderer. Hilflosigkeit erregte mich nicht. Ich fühlte dieses über Leichen gehen, ich hätte das gekonnt. Ich sah das Leid und konnte nichts dagegen tun. Ich konnte das, NICHTS dafür tun, dass sich in mir was regte. Ich konnte das, mich NICHT empören, gefühllos wie ein Amboss bleiben. Ich konnte NICHTS empfinden und konnte auch NICHTS anderes. Ich konnte nur, mich NICHT empfinden, es gab nie etwas anderes. Ich machte mich selbst sinnlos. Egal was ich auch immer machte, es war nur immer wieder sinnlos, gleich einem Stein für sich, in Ruhe und Gelassenheit. Ich war der sich Verlassende, der sich nur immer wieder selbst verlassen kann. Nur so verbarg sich meine Art Verlassenheit, vor einer Grausamkeit, vor jener, die mich immer wieder nur alleine ließ und lassen konnte. Verschwinden konnte ich nie selbst. Als Kind kann ich das nicht, mich selbst verabschieden, verschwinden und verschwunden bleiben.

Verschwind, ich kann dich nicht mehr sehen.

Ich kann dich nicht mehr hören. Mensch, hau bloß ab. Und geh mir aus den Augen!

Ich musste mich verstecken. Vor mir, mit meinem Leid. Ich sollte doch mein Weinen immer nur verstecken, für mich, und meinen Schmerz behalten. Bei mir, in mir. Ich konnte doch den Schmerz nicht fühlen, weil ich nicht einmal wusste, was ich verstecken hatte müssen, vor mir, in mir, vor meinen Eltern; die Fähigkeit zur Gegenwehr, mein Zorn, die Wut, vermischt mit meinen Tränen, Schmerzen. Ich konnte mich nicht lieben, ich konnte mich nur schützen im Verborgenen. Nur im Verborgenen, verschwunden, war ich vor meinen Schmerzen sicher. Ich drückte mich vor meinen Schmerzen, verschwand für sie und musste mich vor meiner Wut verstecken. Ausreißen meine Fähigkeit. Veröden und vereisen. Nun stimmen diese Bilder, Worte. Das, was sie sich einbilden und selbst für sich auch sind. In jeder doppelten Bedeutung. Groß, klein, für sich und mich genommen. Ich war der, der einst mit seinem Schmerz verschwinden musste. Ich musste doch mit meinem Schmerz und meiner Wut verschwinden. In mir, es gab doch keine andre Möglichkeit als zu verzweifeln und verschwinden.

Verschwinde, ich kann dich nicht mehr sehen, sagte sie.

Schau dir nur deine Finger an!

Wie du wieder aussiehst.

In vielen Träumen wartete ich auf Züge, später auch auf Flugzeuge und verpasste sie, ich irrte mich in den Abfahrtszeiten und verpasste alle Flüge. Ich sollte verschwinden und wollte doch nicht verschwinden. Ich musste und sollte verschwinden und konnte doch nicht verschwinden.

Als ich dem Vater abhaute und meine eignen Wege ging, als ich verschwand für nur fünf Minuten, schlug er mich das erste Mal ins Gesicht, weil ich verschwunden war, für ihn war ich verschwunden, für ihn war ich nicht mehr da, anwesend, hier, verfügbar für sein Dasein. Ich musste aber immer wieder weg sein und verschwinden, wenn er es wollte, wenn ich ihm aus den Augen gehen sollte, weg, nur verschwinden.

Was hast du bloß wieder angestellt.

Verschwind!

Nun sieh dir bloß wieder deine Hose an.

Die Art von Sauberkeit vertrieb mich, wünschte mich weg, befahl mir zu verschwinden. Wo hätte ich denn hin sollen. Sie stellten mich in Ecken, später in der Schule, ließen mich nachsitzen, sie sagten, nun halt den Mund, das ist doch wieder nichts, was du da sagst, sie wollten wieder nur, dass ich verschwinde.

Wenn du dich nicht richtig aufführst und benimmst, dann kannst du gleich verschwinden. Dann ist das auch gleich aus. Dann kannst du wieder gehen.

Verschwinden und verschwinden.

Ich rümpfte meine Nase, ich zeigte meine Abneigung, mein NICHT Gefallen.

Gefällt es dir nicht. Gefällt es dir anderswo besser? Gefällt es dir nicht mehr zu Hause. Hast du jetzt andere, bessere Eltern gefunden?

Nun hör schon auf! Gib her, das wird doch nichts!

Wie sollte ich verschwinden?

Verschwind und lass dich nicht mehr blicken!

Wie lange sollte ich mich nicht mehr blicken lassen? Wie lange sollte ich weg sein?

Nun sieh dir nur mein Kleid an, was du damit gemacht hast. Nun sieh dir bloß wieder an, was du mit deinen Fingern wieder gemacht hast?!

Wie oft war ich schon weg?

Wie oft ging ich schon weg?

Wie oft ging ich von anderen dann weg, wenn es mir noch gefiel? Wie oft verließ ich Orte, an denen ich mich wohl fühlte? Wie oft verließ ich Menschen, denen meine Nähe was bedeutete. Wie oft verließ ich scheinbar ohne einen Grund, den Ort, und Menschen, die ich mochte? Wie oft zerstörte ich Annäherung, wie oft hatte ich Angst, weggeschickt zu werden für nichts und wieder nichts? Wie oft schickte ich mich vorsorglich weg und ließ mich nicht zur Ruhe kommen? Wie oft ging ich Wege, die ich nicht mochte? Wie oft schlug ich Hände aus? Wie oft hielt ich an bekannten Händen fest, die mich dann doch los ließen. Wie oft erkannte ich die Ähnlichkeit der Hände nicht, mit denen meiner Mutter und denen meines Vaters? Wie oft erkannte ich die Augen nicht, die ich doch erkennen hätte müssen, wie sie mich anschauten, verschwinden lassen wollten, wegschickten, untergehen ließen. Wie oft erkannte ich die Augen nicht, vor denen ich mich einst so fürchtete?

Zu verschwinden ist für ein Kind etwas Unmögliches. Jeder Versuch dennoch zu verschwinden, vergrößert seine Verzweiflung und macht die Möglichkeit einer Hoffnung noch hoffnungsloser. Einige von uns sind dann doch verschwunden, in der Krankheit und den Krankenhäusern, auf den Straßen, auch in Wäldern, Seen und im Gebirge. Ohne einen Zeugen mussten sie verschwinden, weil kein Mensch sich ihnen zeigte, weil kein Mensch ihr Leid, die Qual erkennen konnte, wie es ist, nur immer wieder zu verschwinden, unaufhörlich sich nur wieder zu erneuern, scheinbar selbst erfinden zu müssen, immer wieder neue Masken zu ertragen, auf dem eigenen Gesicht und den Gesichtern anderer. Wie es ist immer wieder neu zu verschwinden, hinter Moden, Religionen und der Liebe in Gedanken. Immer wieder weg, immer wieder neu verschwinden hinter Wünschen, die nichts wissen von der Wut und vom Zorn. Zorn stellt immer klar, Wut hält sich selbst fest. Ohne deinen Zorn musst du immer wieder weiter wandern, immer weiter in Gedanken Kreise ziehen, unaufhörlich, endlos, Zügen eine Möglichkeit zusprechen, welche Züge, Dinge, niemals haben können. Ich sah den Zügen hinterher, wie sie auch für mich verschwanden.

Ohne eine Anteilnahme gibt es nur Verschwinden. Ohne eine Art Empörung gibt es keinen Halt.

Wer Verschwinden lernen musste, wer allein gelassen wurde und auch noch verschwinden musste, selbst im Schlaf und Einschlafen, wer sich selbst verflüchtigt hat, in Gedanken und Gedanken, immer wieder weiter gehen musste, ohne eine Ahnung eines Ziels, ohne einen Weg, ohne einen Führer und Begleiter, ohne einen Kompass, der ihm wenigstens die Richtung für die Rückkehr zeigen hätte können, wer sich selbst alleine lassen musste, was verschwinden ist, wer sich nicht mehr fühlen durfte, weil verschwinden nicht mehr hier sein heißt, wer sich selbst nicht sehen hatte dürfen, der verschwindet hinter seiner Vorstellung, hinter jener großen Lüge, Illusion, dass Verschwinden, dein Verschwinden, dir die Liebe bringen wird. Wenn du nur verschwindest, wird sie irgendwann doch wieder kommen, wird die Liebe wieder kommen, wird sie plötzlich hier sein und dich heilen. Von der Not und vom Mangel, den sie doch erschaffen hat. Das lernst du. Ich erschuf dann später meinen eignen Mangel.

Habe mich später immer weggeschickt. Habe mich immer suchen und verschwinden lassen. Und ich wollte immer, dass mich jemand mitnimmt und mit mir weg geht. Weg von diesem Ort des Grauens, wo ich mich verstecken musste, nur allein gelassen war und verschwinden hatte müssen, wo ich mich nur selbst verlassen sollte. Ich habe mich nur immer wieder selbst gefunden in den Menschen, die mich fanden, die ich notgedrungen finden musste, die mich schließlich ohne einen Anlass dann verließen, die ich ohne mit der Wimper zu zucken auch verlassen habe. Wie ich ihnen, so sie mir, musste ich auch sein. Bin nur immer zwischen Spiegeln hin und her gelaufen.

Hab mich nicht erkannt, hab mich nicht gesehen, weil ich niemals da war, nicht mal anwesend, keine Liebe, Nähe und Geborgenheit auch tatsächlich fühlte.

Woran hätte ich erkennen können, dass es Liebe gibt? Dass die Liebe möglich ist?

Am Geschmack des Zorns und der Wut im Bauch, die nicht mehr verschwinden muss, hinter meiner angelernten Angst, in der Einsamkeit zu sterben.

Heute muss ich nicht mehr sterben, nicht aus Einsamkeit und aus Angst davor. Heute muss ich nicht mehr meine Trauer fürchten, die etwas verloren gibt, das ich nie besessen habe und doch so vermisste. Plötzlich muss ich nicht mehr auf die Liebe warten. Was verschwindet ist die Illusion, meine Kindheit noch zu retten. Diese Art Idee, mich dahinter zu verstecken, mich mit meinem Schmerz. Damals musste ich mich doch verstecken, heute muss ich das nicht mehr.

Die nachfolgenden Sätze von Alice Miller habe ich immer als wahr empfunden. Ich wusste allerdings nicht nach dem erstmaligen lesen, wie viel Kinderleid sich hinter ihnen für mich versteckte. Ich meine, dass das immer wieder aufnehmen und ernst nehmen auch des scheinbar kleinsten Kinderschmerzes erst die Möglichkeit eröffnet, die Wahrheit des Kindes zu erfassen und zu verstehen. Ohne diese Sätze und die Zeugenschaft, die uns Alice Miller hinterlassen hat, wäre es mir unmöglich gewesen, mich als Kind und Ungeheuer wahr zu nehmen.

Die größte Grausamkeit, die man Kindern zufügt, besteht wohl darin, dass sie ihren Zorn und Schmerz nicht artikulieren dürfen, ohne Gefahr zu laufen, die Liebe und Zuwendung der Eltern zu verlieren.“ – Am Anfang war Erziehung

Der unbewusste Zwang, verdrängte Verletzungen zu rächen, ist stärker als jede Vernunft.“ – Abbruch der Schweigemauer

Die lebensrettende Funktion der Verdrängung in der Kindheit verwandelt sich später beim Erwachsenen in eine lebenszerstörende Macht.“ – Das verbannte Wissen