Texte von Hugo Rupp

Verteidigung der Liebe

 

Er saß mit kalter Resignation im Wagen, wie sie das Tal hervor nach Westen fuhren. Es war ihm einerlei, wohin man ihn führte. Mehrmals, wo der Wagen bei dem schlechten Wege in Gefahr geriet, blieb er ganz ruhig sitzen; er war vollkommen gleichgültig. In diesem Zustand legte er den Weg durchs Gebirg zurück. Gegen Abend waren sie im Rheintale. Sie entfernten sich allmählich vom Gebirg, das nun wie eine tiefblaue Kristallwelle sich in das Abendrot hob, und auf deren warmer Flut die roten Strahlen des Abends spielten; über die Ebene hin am Fuße des Gebirgs lag ein schimmerndes, bläuliches Gespinst. Es wurde finster, je mehr sie sich Straßburg näherten; hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie; die Erde war wie ein goldner Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Mondes liefen. Lenz starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang; nur wuchs eine dumpfe Angst in ihm, je mehr die Gegenstände sich in der Finsternis verloren. Sie mußten einkehren. Da machte er wieder mehrere Versuche, Hand an sich zu legen, war aber zu scharf bewacht.

Am folgenden Morgen, bei trübem, regnerischem Wetter, trat er in Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten. Er tat alles, wie es die andern taten; es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last. –

So lebte er hin …

Georg Büchner Lenz

Sie pappten mir als Baby meine Ohren an den Kopf mit Leukoplast.

Ich verlange von dir, dass du mir zuhörst. Das ist doch nicht zuviel verlangt! Oder?

Ich drücke meine Hände an den Handgelenken und vermeide meiner Mutter Blick. Ich will auch nicht auf meinen Vater schauen. Was ich als Kind nicht wissen konnte, war, dass in mir Zorn anwachsen kann.

Verzeihen musste ich, Unfreundlichkeit, Feindseligkeit, in einem Maße, dass ich das gar nicht fassen kann, wenn ich das heute realisiere, wie viel davon ich klaglos hinnehmen konnte. Wenn Mutter schrie und sie mich alle Augenblicke nur verhöhnte. Wie sie so angewidert war und mich das immer wieder spüren ließ. Dabei war das so eine schlimme Zeit, in der ich dachte, dass ich verantwortlich für diese Launenhaftigkeit und ganz besonders für die Unfreundlichkeit, und dieses angefressen sein der Eltern sein würde. Dass ich verantwortlich für ihre schlechte Laune sei. Sie schlugen mich so mit Verachtung. Sie schlugen mir so immerzu mich selbst als Sünder, Sündenbock nur vor, dass ich ausschließlich in der Lage wäre, sie zu betrüben, zu beschämen, mit meiner Niedrigkeit und Unverschämtheit, Dreckigkeit, mit meiner Existenz.

Soviel unfreundlich sein, brachten mir beide bei, dass ich vergaß, wie freundlich ein Kind ist. Wie freundlich und zuvorkommend, da es doch keinerlei bewusste Absicht kennt, noch etwas zu verstecken weiß, was aus ihm drängt, zum Vorschein kommen mag.

Die Ungeduld

Du hast es aber wieder gnädig, sagte sie.

Ich war ihr viel zu ungeduldig. Mit einem Mal war ich für sie ungnädig. Unfassbar was ich an Ungeduld von ihr ertragen hatte müssen. Jetzt schimpfte sie mich aus und warf mir vor, dass ich sie zu was drängen würde. Vollkommen aberwitzig. Der Mensch, der niemals Zeit hatte für mich, der mich nur immer weglegte, wegschob und in der Einsamkeit verkommen ließ, beschuldigt mich, beschämt mich damit, dass ich zu ungeduldig sei; und lacht darüber noch.

Beeil dich endlich, sonst können wir auch gleich zu Hause bleiben.

Kein Mensch möchte fühlen, wie schrecklich wir als ganz winzige Kinder unsere jungen Eltern fürchten mussten, wenn diese in Wut ausgerastet sind und uns angeschrieen, geschlagen und noch für ihre Wut beschuldigt haben. Aber dass es so war, kann doch der Erwachsene überall feststellen. Es genügt, sich auf der Straße umzuschauen. Nur fehlen uns meistens die dazugehörigen Gefühle (Erinnerungen).

Alice Miller, aus der Antwort auf den Leserbrief, Die Angst vor der Angst, vom 1. Juni 2006

Dass ich nicht Mitleid mit der Mutter hatte, sondern mich immer schuldig fühlen musste, wenn sie mir ihren Zorn und ihre Wut entgegenschleuderte. Weil ich doch eine solche Angst bekam vor ihr, dass ich nicht länger wütend sein konnte. Sie hatte gar kein Schuldgefühl mir gegenüber; nie. Sie konnte prächtig in mir Schuldgefühle wecken, indem sie mich verließ, und meine Angst schwoll an und machte mich zum kleinsten Tier, das von sich auch nur eines weiß, dass es allein nicht überleben kann. Das fühlte ich, wenn meine Mutter mich anblaffte, mich schüttelte, festhielt, mit beiden Händen drückte sie meine Arme fest, wie mich das heute noch entsetzt, wenn ich das gleiche heute jemand tun sehe, schrie ich! Schrie ich? Wenn ihr Mund eine Höhle vor mir wurde.

Ich fühlte Angst und Schuld und deshalb keinen Zorn. Ich hatte kein Mitleid. Das kann kein Kind haben, das seine Mutter immer wieder sterben sehen muss und untergehen und verzweifelt schreien hört, und dann wieder vor Angst erzittern und erschaudern sieht, wie diese Mutter schreit, als hätte sie den Teufel selbst erfunden.

Die größte Angst war doch, es würde niemals anders sein und ihr Erschrecken und Verlassen und erdrückt werden, würde nur ewig weiter dauern. Deshalb versuchte ich Gefühle zu vermeiden. Immense Wut, gigantischen Zorn, auf diese Wahnsinnige mit ihren funkelnden Augen.

Ich dachte doch, ich würde diese Frau zum Vorschein bringen. Ich würde das bezwecken. Ich würde das aus Mutter machen. Das wäre meine Schuld, was sie erbricht und wie sie wird. Weil ich das aus ihr machen würde, mit meiner Wut und meinem Zorn. Als würde ich der Satansbraten für die Mutter sein, ein Kind von ein paar Monaten. Als würde das tatsächlich möglich sein, dass ein Kind Sohn des Teufels sein könnte. Und wer war dann die Mutter? Der Schwachsinn von Jahrhunderten, das böse Kind. Das Märchen der Erwachsenen, die ihre Kindheit vollständig verleugneten.

Im Gegenteil

Ich musste lernen, dass Mitgefühl nichts ändern kann. Weil ich bei meiner Mutter nichts damit erreichte. Da war nichts in ihr, das auf mich und mein Verlangen nach Anteilnahme reagierte. Kein Wiedersehen und Erkennen. Schwarz, tot, der Spiegel ihrer Augen. Das machte mich so rasend also, dass sie auf mich feindselig reagiert hatte, als ich in Not, die Liebe und die Anteilnahme und den Trost, dringend gebraucht hatte. Und das hat sie mir später immer eingeredet. Mit den Geschichten, Märchen und Erzählungen, belog sie mich und pflanzte mir die Lüge ein, dass jede Mutter ihr Kind lieben würde, ohne Ausnahme.

Sie machte meine Wut kaputt, zerstörte meine Freude und meinen Zorn und nannte das dann Liebe.

Das fühlt sich so verkommen an, dass ich das erst nicht fasse, dass so was auch tatsächlich funktionierte. Dass man als Kind an Liebe glaubt, wo keine Liebe ist. Mit dieser Lüge, hat sie den Zorn nur immer wieder umgelenkt.

Du böses, böses Kind!

Sie hat gelehrt, dass mein Zorn sie beschädigt, und meine Wunden unerheblich sind. Ein solches Kind wie ich, kann ohne Zorn die Liebe für sich nicht begreifen. Es kann sich ohne Zorn gar nicht verlieben. Ich konnte nur den Irrsinn meiner Mutter wiederholen. Ich konnte ohne Zorn gar nicht begreifen, dass ich nie wirklich Mitleid mit der Mutter haben konnte. Und dass das keine Schuld bedeutet.

Sie zeigte mir, sie lehrte mich das unter Schmerzen, dass es nichts wichtigeres für ein Kind geben muss, als seine Mutter so zu lieben, wie sie sich das vorstellt. Als Vorbedingung und Bestimmung eines jeden Kindes. Den Vater und die Mutter lieben, bis an ihr Lebensende und darüber hinaus.

Deshalb gibt es die Schuld für Kinder schon von Geburt an in den Religionen, damit der Zorn des Kindes nie berechtigt wird, der doch wie kein anderes Gefühl, sich gegen Ungerechtigkeit, Lieblosigkeit, Feindseligkeit, Gewalt und Schmerzen wendet. Kindlicher Zorn brandmarkt doch alles böse, das für ein Kind so schrecklich ist, wenn es im Grunde nur mehr schreien kann.

Ich konnte irgendwann nichts mehr von dem behalten, was ich empfand. Ich wollte gar nichts mehr behalten. Denn nichts von alledem, was ich erfuhr, konnte etwas für mich bewirken. Es war und sollte nichts und niemand für mich sein.

Nichts sollte wirklich mir gehören.

Ich habe nichts, da ist nichts, was ich auch behalten will. Sie nehmen mir ja alles weg. Der Vater und die Mutter können mir doch alles immer wieder wegnehmen. Und ich kann nichts dagegen tun und ausrichten. Ein Kind, das nach der Strafe betteln würde, das war für meine Eltern ideal. Als würde es das wirklich geben. Als hätte ich meine Mutter dazu gebracht, mit meinem Schreien aufgefordert, mich abzulegen und allein zu schreien lassen.

Lass ihn allein. Wenn er allein sein will, dann lass ihn ruhig auch alleine schreien. Dann kann er sehen, was das bringt, was er davon dann haben wird. Dann sieht er gleich, was das ihm bringt, wenn er so weiter schreit. So kann er gleich am eignen Leib erfahren, dass das nichts bringt, wenn man sich aufregt, wegen nichts und wieder nichts.

Das Nichts für meine Mutter und den Vater, war für mich schmerzensreich. Die Not, in Not allein zu sein. Allein die Schmerzen in der Kindheit zu verteidigen.

Ich litt unter der Abwesenheit von Liebe und von Trost. Ich hatte keinen Schutz und keinerlei Bestätigung für die Gefühle, besonders nicht für meiner Mutter Feindseligkeit. Wie jedes Kind wollte ich merken dürfen, dass mein Empfinden etwas bedeuten kann und damit etwas aussagen, über den Zustand meiner Seele. Ich wollte nicht einsam sein und deshalb schrie ich so. Weil ich bei meinen Eltern und ganz besonders bei meiner Mutter fror. Ich schrie aus Wut und Zorn, weil ich so einsam und alleine war im Beisein meiner kalten Mutter. Ich litt in ihrer Nähe. Ich konnte diese Kälte nicht ertragen. Die Kälte ihrer blinden Wut.

Immer wieder versuchte ich später der Mutter und dem Vater etwas zu sagen und zu erklären, von dem ich selbst nicht wusste, was es war. Ich suchte und versuchte das auch anderen zu sagen. Doch alle schauten mich nur an und lächelten, wenn ich nicht weiter kam und mich verzweifelt mühte. Erst jetzt weiß ich, warum das nicht ankam, warum ich selbst mich immerzu verhedderte und schließlich nicht mehr weiter wusste. Die Liebe ist nicht ohne Selbstschutz möglich. Und ich versuchte sie als Kind, wie jedes Kind, verzweifelt zu verteidigen. Die Liebe kann sich von allein nicht durchsetzen, wenn ein Kind ohne Zorn sein muss, wenn es für sich allein nach Liebe sucht. Ein Kind kann ohne Zorn die Liebe in sich selbst gar nicht verteidigen.

Verbrannte

Der Eltern Hass auf alles unschuldige und naive, kindliche. Der Hass der Mutter und des Vaters auf mich, auf ein verletztes Kind. Ich schrie aus Leibeskräften. Verbrannt zu werden, und voll Angst lebendig zu verbrennen müssen. Sie brannten mir die Liebe aus. Lebendig wurde ich verbrannt. Ich schreie fürchterlich deswegen, und meine Eltern hassen mich dafür. Mich und die Schmerzen hassen sie. Vom Schmerz verbrannt zu werden. Und meine Eltern hassen meine Schmerzensschreie. Die Brandnarben in meinem Hirn, an meinem Bein. Sie brennen und verbrühen mich mit ihrem Zorn und ihrer blinden Wut, und lassen mich dann ganz allein.

Der Hass auf alle Liebenden, auf Liebe und auf Glück. Sie hassten meine Liebe und dass ich dafür kämpfte, mit meinem Zorn auf ihren Hass.

Die Liebe wird zur Strafe ausgebrannt. Sie brennen und verbrennen mich mit ihren Strafen. Mit Einsamkeit, anschreien, schlagen, ohne Essen sein, mit vollen Windeln ablegen, erkalten und erkalten lassen, dann auslachen, verspotten und beschämen und erniedrigen, demütigen, verletzen und verletzen. In Dunkelheit, allein sich überlassen, begreift ein Kind sich überhaupt nicht mehr. Nur mehr mit seinem Schmerz allein. Sie brannten meine Wut und meinen Zorn mit allen Mitteln aus. So rottet man die Liebe aus. Nichts machte meine Eltern zorniger und noch blinder. Mein Zorn, der eines kleinen Kindes. Gebranntes Kind scheut doch wie nichts das Feuer. Sie brannten alles in mir immer wieder nieder, was sie an Liebe noch erinnern konnte. An ihr verbranntes, längst vergessenes, verleugnetes Dasein. Sie selbst, auch einmal Opfer der Verbrennung.

Mit Zorn gegen die lebenden und toten Eltern. Mit der Verteidigung der Liebe, begreift das ehemalige Kind, zum ersten Mal vielleicht, dass alles endlich ist. Dass Kindheit wirklich enden kann und auch die Wunden daher. Und dass es sich nie wieder täuschen kann mit den Gefühlen, weil es notfalls doch zornig werden kann. Dass mir die Eltern nie mehr schaden können und nie mehr weh tun werden, für kein Gefühl, was immer ich auch habe.