Texte von Hugo Rupp

Verstellung

 

Brüderchen, komm tanz mit mir! Beide Hände reich ich dir. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Mit dem Köpfchen nick, nick, nick! Mit dem Fingerchen tick, tick, tick! Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Ei, das hast du fein gemacht! Ei, das hätt ich nicht gedacht. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Mit den Händen klapp, klapp, klapp! Mit den Füßen trapp, trapp, trapp! Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Noch einmal das schöne Spiel. Weil es mir so gut gefiel. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Mit dem Köpfchen nick, nick, nick! Mit dem Fingerchen tick, tick, tick! Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer.

Was mir mein Zorn in Wirklichkeit beschreibt. Unfähigkeit zur Wut auf meine Mutter; nur verstellt.

Sie tat so, alles an ihr sagte das, dass sie sich immerzu für mich verstellte und verstellen müsste. Sie tat tatsächlich so, als müsste sie stark sein, als würde sie sich nur verstellen, um mir zu helfen, und dass sie mir mit ihrem Tun, etwas ersparte, mir immerzu etwas ersparen würde, wollte, etc.

Dass sie mir was erspart hätte, ein Leid, vielleicht auch Ungerechtigkeit, und was noch alles mehr.

Wie einen das verletzt und später immer wieder leidend machen kann, mit Menschen was zu tun zu haben, die immer nur verstellen üben.

Was ich als Kind niemals verstanden habe, dass die Verstellungen, nur Lügen sind und nie was anderes. Dass ich mit dem Verstellen, die Lügen meiner Mutter lernte. Als wären die Verstellungen aus einer Not heraus, die niemand sehen, fühlen und ertragen kann, geboren worden.

Dabei war ich in Not und meine Mutter spielte sich verstecken und verstellen.

Die Fähigkeit, die schlimmste Art Begabung eines Kindes, bleibt, solange sie mich lehrte, mich von Gefühlen und Empfindungen tatsächlich fernzuhalten. Als würde mir empfinden schaden.

Ich dachte später immer nur, empfinden würde mich von anderen fernhalten. Und alle müssten selbstverständlich vor mir fliehen, wenn ich tatsächlich einmal unverstellt und wirklich meine Angst und Wut und meinen Zorn herzeigen würde. Dass ich mich immer nur für meine Mutter so verstellen hatte müssen, das merkte ich nicht mal. Woher ich meine Fähigkeit zur Abwehr von Gefühlen und Empfindungen herhatte. Gefühle nicht zu hinterfragen. Sie ließ mich mit Empfindungen allein. Dass ich allein mit den Gefühlen war, nachdem ich was empfunden hatte. Davon bekam ich eine Heidenangst. Nur damit konnte ich die Mutter noch ertragen; ich durfte doch nicht wütend sein.

Du hast doch Angst vor deiner eigenen Courage, sagt Vater später immer wieder. Jetzt redest du so groß daher und später ziehst du deinen Schwanz dann ein, sagt er.

Ich hatte Angst vor meinem Mut!

Du hast doch Angst vor deiner eigenen Courage!

So eine Angst also. So viel und viel nur Zittern vor der eignen Wut. Im Schlaf, mein Beine schlagen, im Traum mit einem Zombie dann zu kämpfen, nur weg soll der: Jetzt hau schon ab! Nur nicht berühren soll der Tote mich, damit er mich nicht ansteckt, mit seinem Lächeln über alles Tote und Verletzte.

Ich träumte, dass die Mutter mit dem Finger auf mich zeigt und mich damit nicht mehr erreicht.

Taub sein und auch taub sein zu müssen, wenn alles schreit. Nicht mehr auf die Empfindung hören. Nicht mehr auf sich selbst hören dürfen. Nicht mehr selbst hören dürfen; was übrig bleibt. Für die Empfindung taub gemacht.

Willst du denn ewig Angst haben, sagt sie. Willst du dich ewig vor dem zu Bett gehen fürchten, fragt mich die Mutter doch tatsächlich. Nach über fünfzig Jahren fällt mir wieder ein, wie ich mich damals schämte, dass ich tatsächlich vor ihr stand, sie ansah und zu weinen anfing, nur noch für einen Augenblick, dann war die Äußerung auch schon vorbei. Willst du tatsächlich jeden Abend dich so aufführen, fragt sie. Kannst du nicht einmal nur zu Bett gehen!? Musst du mir jeden Abend auf die Nerven gehen!?

Ich schämte mich und nickte.

Willst du dich ewig davor drücken?

Sie waren mutig; schienen so. Sie konnten ganz alleine schlafen und zu Bett gehen. Das dachte ich, dazu gehörte Mut. Für mich schien dieser Mut unmöglich. Ich hatte Angst vor jeder Nacht und jedem Traum. Und riesengroß war meine Angst. Und meine Mutter fürchtete sich vor gar nichts. Da hatte ich die Mutter schon vergessen, wie sie voll Angst in meine Augen sah. Von Mut war nichts zu sehen gewesen. Ich schrie vor Wut und Zorn, und meine Mutter konnte mich nicht tragen. Nichts konnte sie mit mir, wenn ich in Rage war, mehr sagen oder zeigen. Mein Zorn und meine Wut machten der Mutter Angst. Sie war entsetzt an sich.

Dass ein Kind später das verstehen lernen kann, woher das kommt, vor sich selbst Angst zu haben. Vor sich selbst Angst zu haben müssen, vor dem, was durch Empfindung kommt. Vom Hass, von einer Wut und Zorn und auch von Freude, Liebe. Dass man sich erst durch sein Empfinden, von seiner Angst davor auch lösen kann. Dass man die Angst vor sich erlösen, und sich davon auch lösen kann.

Die Angst vor der Empfindung, sich zu lösen, von meiner Mutter; Mutterangst. Sich durch empfinden endlich von der Mutter lösen, die soviel Angst in mir hervorgerufen hatte.

Weil Mutter eine solche Angst gehabt hatte, ist Vater auch so groß geworden. Sie hatte ihn ja als Beschützer auserkoren. Mein Vater musste heilig sein, und größer noch als größer sein, und gottgleich werden.

Je größer meine Angst, je größer wurde meine Mutter. Je größer auch die Angst der Mutter vor dem Leben und Lebendigkeit, je größer musste Vater sein und desto größer, stärker, mutiger und unerschrockener musste mein Vater für uns alle werden. In meiner Mutter war gar keine Angst und keine Anteilnahme für mein Leben vorgesehen.

Mit meiner Wut bekleidet, betrete ich mein Kinderland.

Empfindung meiner Wut nachgebend, verfolge ich die Scham. Ihr scheinbar Eigenleben. Mit Scham hat Mutter mich von Anfang an geschlagen, damit ich mich für meinen Zorn selbst schämen hatte müssen.

Schämst du dich nicht, sagt sie.

Es war tatsächlich so, als würde Scham noch länger in mir leben, als mein Gefühl, nach Wut und nach Erlösung.

Verstellte Wut / Verstellte Scham

Wenn jemand meine Mutter angriff, für zu blöde hielt, sie ansprach oder auf was hinwies, wenn sie partout was nicht verstand, oder auch einfach nicht verstehen wollte, wenn sie so tat, als wäre sie schlicht heilig, unschuldig und nur naiv. Ich wurde dann anstelle meiner Mutter zornig, wütend und ausfallend. Dass ich dabei die alte Wut der Mutter gegen mich nur wieder blind nachstellte, wie sie auf Kleinigkeiten, Unachtsamkeiten, Fehler, Zufälle, auf mich dabei so wütend werden hatte können. Wenn ich sie nur ansprach, anstupste oder zärtlich war, schrie sie. Sie konnte mich für meine Zärtlichkeit anfauchen. Sie konnte böse sein, wenn ich verletzt da lag. Dass mein für meine Mutter später wütend werden, auf meine Angst vor ihr hinweist, die ich vor meiner Mutter haben musste, realisiere ich erst jetzt.

Sie konnte mich für Kleinigkeiten vierteilen, darüber später aber lächeln.

Das schmerzlichste dabei war dann für mich, wenn ich mich für die Mutter so ereifert hatte, dass sie dann doch verständnisvoll und freundlich lächelte und mich angriff.

Was regst du dich schon wieder auf!? Da muss man doch nicht wütend werden, sagt sie.

Sie nahm den Angreifer in Schutz und schämte sich für mich. Beschämte mich, verriet mich an den anderen. Beschämte meine Wut. Beschämte jede Wut in allen Anwesenden. Wie immer schon, doch merkte ich das nicht. Und meine Wut auf sie, verstellte schon die Scham, so wie ich das gelernt hatte.

So wird die Wut des Kindes ungeheuerlich, an Scham und Schuld gebunden. Ich wusste später nicht, dass meine Wut gegen die grenzenlose Feigheit meiner Mutter war. Wie feige sie doch immer war. Nur gegen mich, ein kleines Kind, konnte sie sich aufführen, verstellen, als wäre ihre blinde Wut, ihr Irrsinn unangreifbar. Sie konnte wie Medusa sein. Und vor mir konnte sie sich nicht nur so aufführen. Sie war für mich diejenige, die meine Wut als Kind in einen Stein verwandelt hatte.

Und wieder renne ich im Traum durch Häuser, Gänge, Räume, Hallen. Auf meiner Suche; suche. Ich renne Treppen auf und ab, verborgne Treppen rauf und runter. Öffne die Türen, klapp, und renne weiter, trapp trapp, trapp. Um mich dann wieder so zu fürchten. Jetzt sind die Koffer wieder weg. Sie standen doch am Eingang. Gleich hinter der geschlossnen Tür. Jetzt sind sie doch entfernt. Wo sind denn meine Koffer hin? Ich kann nicht ohne Koffer wandern. Ohne die Koffer komme ich nicht weg! Ich werde wieder aufgehalten? Es klingelt so in meinem Kopf. Nach Spielverderber. Ich höre, klopf, klopf, klopf. Und immer wieder klopf, klopf, klopf. Und immer wieder suche ich die Koffer. Jemand nimmt mir die Freude weg. Vorher, nachher und mittendrin. Versteller meiner Koffer. Der Spielverderber, klopf, klopf, klopf. Verdirbt mir meine Freude. Doch sehe ich ihn nicht im Traum. Nicht einmal seinen Schattenbruder. Bin hier doch ganz allein. Bin hier der Spielverderber! Bin hier doch ganz allein. Der sich verstellt, verstellt und plötzlich wieder alles ändert. Der rennt und flieht und um sich schaut; und nirgendwo ein Spiegel. Versteller, der verstellt. Wer schon? Doch wieder nur ich selbst. Lehrte mich schließlich fürchten vor mir selber, wie ich es von der Mutter lernen musste. Lehrte mich jede Art von Freude zu befürchten. Niemand tanzt mit dem Spielverderber. Niemand, nicht einmal ich allein.

Brüderchen, komm tanz mit mir! Beide Hände reich ich dir. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Mit dem Köpfchen nick, nick, nick! Mit dem Fingerchen tick, tick, tick! Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Ei, das hast du fein gemacht! Ei, das hätt ich nicht gedacht. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Mit den Händen klapp, klapp, klapp! Mit den Füßen trapp, trapp, trapp! Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Noch einmal das schöne Spiel. Weil es mir so gut gefiel. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Mit dem Köpfchen nick, nick, nick! Mit dem Fingerchen tick, tick, tick! Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer.

Ich spielte schon im Kindergarten so, als würde ich mich freuen können, dabei erwartete ich immer nur, die Mutter würde kommen. Ich spielte schon, mich zu verstellen, und vorsorglich mir meine Freude zu verderben. Weil ich nicht wütend werden konnte.

Die Wut des kleinen Kindes aber, bewahrte einen Wunsch in mir, den ich vor meiner Mutter niemals offenbaren hatte können, den nur mein Körper kennt, von dem mein Träumen ununterbrochen handelt. Ich möchte niemals wieder mich mit einem Menschen einlassen, der meine Wut nicht haben will. Ich möchte niemals wieder mich mit einem Menschen abgeben, der doch nur eines zu erreichen wünscht, dass ich mich über mein Verhalten immer nur selbst ärgere.

Ich muss mich nie wieder auf jemanden einlassen, der nur die Wut in mir erweckt und sich dann gleich vor mir versteckt, indem er sich selbst nur verstellt.