Texte von Hugo Rupp

Verneinung

 

Mit Bildern der Vermeidung und Verleugnung und Verkleinerung. Kultur in einem selbst. Traumbilder. Die keine Wut zulassen zeigen.

Du gehst jetzt endlich in dein Zimmer. Du bleibst jetzt dort. Du bleibst gefälligst jetzt allein. Du bist jetzt still, denn sonst passiert dir was. Du bist jetzt endlich still. Du bist jetzt still, sonst sperre ich dich ein. Du hörst jetzt endlich dein Geheule auf, sonst geh ich weg. Du bist jetzt still, sonst gibt es was auf deinen Hintern. Gibst du jetzt endlich Ruh!

Der Traum, in dem ich nicht mehr von der Stelle kam.

Die Tür bleibt zu. Ich dreh den Schlüssel zweimal rum. Ich lasse dich nicht eher raus, bevor du dich nicht ganz beruhigt hast.

Folge Verspottung und Verachtung alles Kindlichen. Folge der Minderwertigkeit. Ich nahm mich selbst und alles andere aus meiner Perspektive wahr, mit Minderwertigkeit auf Minderwertigkeit zu achten. Mein Minderwertigkeitsgefühl: Geh weg! Geh in dein Bett! Hau ab!

Ich schob mich selbst jetzt ab. Ich sperrte mich schon selber ein.

Unzählige Inuit wurden erst nach Europa und später auch nach Nordamerika verschleppt, um dort vorgeführt zu werden oder schlicht, um als Geschenke für die Geldgeber der Forschungsexpeditionen und andere Honoratioren zu dienen. Die meisten Inuit starben innerhalb weniger Monate an westlichen Krankheiten, und ihre Familien mussten oft verhungern. Es wurde so schlimm, dass diverse europäische Staaten sich genötigt fühlten, dieses Vorgehen zu verbieten. Als Edie fertig war, meldete Pauloosie Allakarialak sich zu Wort:

Wieso haben sie die Männer von ihren Familien weggenommen?“

Was glaubst du?“

Pauloosie zögerte kurz, ehe er es wagte: „Weil sie es konnten?“

Edie lächelte. Seit acht Jahren war er jetzt an dieser Schule, und endlich drang sie zu ihm durch.

Melanie McGrath Im Eis

Die Unterwerfung, wie das von Anfang an begann. Dass meine Mutter, ganz egal wie schlau, wie dumm, wie nachlässig, wie unfähig sie für sich selber war, die Macht besaß, dass mir nichts anderes mehr übrig blieb, als mich zu unterwerfen.

Sonst gibt es Schläge auf den Hintern und den Kopf.

Nun endlich sind wir nicht mehr gut.

Wenn du mal groß bist, wirst du das verstehen!

Das Schwierigste für mich, war zu verstehen, dass es das Kind, das niederträchtig und gehässig, geizig, eifersüchtig, neidisch und gewöhnlich, dumm, und arrogant und ungehorsam und et cetera, nie wirklich gab. Dass es das dreckige, das schmutzige und böse Kind, das eine Mutter zu was zwingen muss, nie wirklich gibt. Dass ich so nie in Wirklichkeit von Anfang an gewesen bin, wie meine Mutter mich geschimpft hatte. Dass ich anfänglich gar nicht unterwürfig war. Dass ich erst unterwürfig wurde. Dass man ein Kind nur mittels seiner Unterwerfung, auch zum Gehorsam zwingen kann. So weit, dass es dann später die Verbrechen und Grausamkeiten, an seinem Leib begangen, auch verschweigt, für sich und jeden anderen. Selbst mit Gehorsam Unterwerfung unterdrücken.

Wie Glaube überspringt.

Sei still, bevor ich mich vergesse. Denn du trägst ganz allein die Schuld, sagt sie.

Dass ich nicht merkte, wie das wirklich war, wie meine Lebensumstände zuhause mich tagtäglich formten und verbogen. Wie feindselig. Wie feindlich meine Mutter war. Und immer im Verborgenen. So fand ich selber keinen Ausweg mehr aus mir.

Bestraft mit Selbstvergessenheit.

Die Mutter tat mir gegenüber immer später so, wenn ich nur ansatzweise etwas aus der Kindheit für mich Schreckliches erwähnte, dass sie sich daran wirklich nicht erinnern würde, oder das nicht mehr könnte. Die Selbstvergessenheit als Schutz.

Wenn man sich selbstvergessen immer wieder widerspricht. So wie ich das von meiner Mutter lernte. Erfahrung widersprechen und die Erinnerung daran verleugnen und vergessen.

Mein Selbsthass speiste sich aus dem Erleben, dass meine Mutter immerzu nach Möglichkeiten suchte, wie sie mir weh tun konnte, ohne dass ich mir davon etwas merkte, als ich so klein war wie ein Hund. Bewusst schien davon nichts mehr später in mir übrig. Nur Hinweise, die mir Jahrzehnte später meine Träume gaben, auf ein Geschehen und Begebenheiten hin, die längst Vergangenheit auch waren.

Wenn ich mit Worten andere angriff und sie aus heitrem Himmel attackierte, solange bis sie wütend wurden, mich verließen. Feindselig sein, um die Gefühle zu verletzen.

Das sollte ich nicht merken.

Ich musste zittern, wenn ich meiner Mutter näher kam.

Selbsthass / Annäherung

Nicht lieben zu können ist eine große Tragik, aber keine Schuld.

Alice Miller Du sollst nicht merken

Selbsthass zulegen. Denn für ein Kind fühlt sich Unfähigkeit zu lieben an wie Hass.

Ich lag ja neben ihr und ihrem Hass. Ich kam dem Hass und nicht der Liebe näher. Deshalb war ich im Eis. Ich fror und zitterte, wenn meine Mutter näher kam. Da lag gar keine Liebe, Wärme, in meiner Nähe.

Und jetzt verstehe ich auch jene Blicke, wenn sie sich abwandte, wenn sie sich unverhohlen so benahm, als hätte sie auf ihrer Zunge Dreck oder was ähnlich scheußliches in ihrem Mund geschmeckt. Wie ich die Blicke in mir spürte, so voller Hass. Wie ich die Blicke selber auf mir spürte, wenn ich auch so empfand. Wie ich dann ihre Blicke wiedergab. Wie ich so später selber reagierte, mit Abscheu und mit Ekel und mit Hass. Verachtung, um mich abzuwenden. Wie ich auch andere mit meinem Blick bedachte. Mit selbstvergessenem Hass.

Vor diesen Blicken hatte ich mich so gefürchtet. Vor dieser Abschätzung und Nichtzugänglichkeit.

Wenn Gott wirklich existierte, müsste man ihn beseitigen.

Michail Alexandrowitsch Bakunin Gott und der Staat

Wie meine Mutter nach mir sah, wenn sie schnell um die Ecke kam. Wie ich nur dasaß und was spielte. Sie überraschte mich. Das also hatte ich vergessen. Dass immer wenn sie so auftauchte, die Augen schlechtes von mir dachten. Sie schaute so, sie sah mich an, als hätte ich etwas verbrochen. Nur schlechtes an mir sehen und erkennen und erwarten. Das kommt also daher. Es steckte hinter ihren Augen noch etwas. Es lag Absicht in ihrem Blick, wenn sie nur schlechtes, immer wieder schlechtes an mir sah. Das also war die Form von Hass, die ich so früh erleben hatte müssen, und von ihr lernen sollte. Nichts anderes als schlechtes von mir denken und erwarten lernen.

Vollkommen selbstvergessen sperrte sie mich ein. Und selbstvergessen grub ich mich dann später selber ein. Voll Selbsthass und voll Ekel und Verachtung. Folge der Unterwerfung. Ich fand nicht mehr heraus. Weil ich nie wieder schuldig werden wollte; so dachte ich. Wie meine Mutter mich ansah, wenn ich beim Spielen war und nichts, rein gar nichts Schuldiges doch an mir hatte; beim Spielen doch nur bei mir war, was mich so freute.

Schau! Mach mal. Mach so, sage ich. Mit meiner Mutter spielen. Sie schaut mich an und sagt: Das ist mir viel zu blöd.

So selbstverständlich machte mir die Mutter meine Freude hin und war dabei gleichgültig, dass ich gar nicht auf den Gedanken kam, das müsste sie doch merken, oder spüren. Das müsste sie doch einfach reuen und verändern.

Was ich als Kind so übersah. Die größte Waffe meiner Mutter war, mir gegenüber Selbstvergessenheit auch vorzutäuschen. Ich lernte Selbstbetrug und Selbsttäuschung. Mich selbst und andere zu täuschen. Ich konnte ihre Spiele nie als Kind für mich entschlüsseln. Auch nicht verstehen und erkennen, wie sie von Anfang an mich hinters Licht geführt hatte. Mich anzulügen und zu täuschen lehrte. Mir vorzutäuschen, dass sie sich doch um alles kümmern würde. Dass sie sich immer sorgen würde. So sei doch schließlich eine Mutter. Und jede Mutter liebt ihr Kind.

Sie täuschte sich und mich.

Nicht lieben zu können ist eine große Tragik, aber keine Schuld. Wenn du mal groß bist, wirst du das verstehen!

Ich täuschte mich mit meiner Kindersicht. Wie ich die Mutter zeichnete. Als wäre ihr Gesicht auf meines aufgetragen, durch einen Schleier noch geschützt. Und ihre Blicke in mein rechtes und mein linkes Auge eingeätzt. Samt ihrer Worte in mich eingeschrieben, in mein Gehirn gesetzt. Und alle Bilder von der Sonne ausgeschossen. Was ich so übersehen musste, und nicht wahrnahm. Ich sah nicht, was sie war. Sie war nicht interessiert an meiner Wirklichkeit. Das nahm ich wahr und dabei übersah ich sie. Sie selbst kam dabei gar nicht vor. Denn sie vergaß sich selber immer wieder. Sie interessierte sich für beide Welten nicht. Sie war an meiner und an ihrer Wirklichkeit nicht interessiert. Sie war an keiner Wirklichkeit mehr interessiert. Sie war an ihrer eignen Sicht nicht interessiert. Sie nahm sich selbst nicht einmal wahr, wenn ganze Tage lang das Radio lief oder der Fernseher, wenn sie auch in der Nacht so schlief, dass immer dabei etwas lief. Sie wollte nicht mehr von der Wirklichkeit geweckt werden.

Als ich allein in meinem Zimmer lag, und sie vor ihrem Fernseher. Der Spalt, die Lücke zwischen Tür und Türrahmen. Sie lag. Ihr Buch war zugeklappt. Sie war dabei und war vollkommen teilnahmslos.

Wie ich dann Jahre später, mich nur durch Kunst und Künstlichkeit und als Objekt, erschaffen von der Mutter und von meinem Vater, wahrnehmen hatte können; und nicht als ein Subjekt. Mich selbst vor einer Wirklichkeit verbarg, die mich zutiefst erschreckt hatte.

Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

Der Mann:

Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße

und diese Reihe ist zerfallene Brust.

Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.

Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,

das war einst irgendeinem Mann groß

und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.

Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?

Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.

Kein Mensch hat soviel Blut.

Hier dieser schnitt man

erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen

sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags

für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken

sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal

wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.

Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort,

Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

Gottfried Benn

Genau so teilnahmslos wollte ich sein. Gegen ein Leid, gegen den Tod und gegen Not ganz allgemein. Genauso teilnahmslos gegen mein eignes Leid sollte ich für die Mutter und dann auch später für meinen Vater sein. Auch wenn ich in mir zitterte und meine Stimme mir versagte. Obwohl ich Angst hatte und mir die Furcht vor nächster Angst schier unerträglich war.

Sei tapfer, sagt die Stimme meiner Mutter. In Wirklichkeit meint sie: Sei teilnahmslos! Hör endlich auf mit deinem Widerstand, sagt meine Stimme, toter Vater. Nur Teilnahmslosigkeit bedeutete ihr wirklich was. So konnte sie ihr Leben aushalten. Das einzige, was wirklich half, war alles mit sich machen und geschehen lassen. Nur das konnte die Stimmung meiner Mutter bessern, sie wohlgesinnter für mich stimmen.

Nicht lieben zu können ist eine große Tragik, aber keine Schuld. Wenn du mal groß bist, wirst du das verstehen!

Genau so wurde ich als Kind von meiner Mutter immer wieder umgestimmt. Erst jetzt verstehe ich mich richtig und meine Sympathie für alles Feindselige und Rebellische. Ich habe niemals das erlebt, dass sich wer mit mir in der Kindheit wirklich auseinandergesetzt hatte. Antipathie war alles was ich lernte. Vollkommen teilnahmslos mich meiner Mutter gegenüber auch verhalten. Egal wie feindselig, wie teilnahmslos, wie selbstvergessen, traurig oder tragisch sie agierte. Wenn ich nur ansetzte zu einer Art Gespräch, war sie schon weg. Sie wollte sich weder mit mir, noch mit dem Vater, noch mit sich selbst, sie wollte sich mit gar keinem tatsächlich auseinandersetzen.

Das Leid blieb angestaubt. Kein Fingerabdruck der die Spuren einer Auseinandersetzung oder Berührung mit der Wirklichkeit noch angedeutet hätte.

Ich konnte mich mit niemand wirklich auseinandersetzen, weil ich das nicht gelernt hatte. Kein Interesse zeigen, hatte ich gelernt. Antipathie und grundsätzliche Ablehnung.

Wenn man sich mit sich selbst nicht auseinandersetzen kann, muss man auch jeden anderen als fremd und feindselig wahrnehmen.