Texte von Hugo Rupp

Verführung

 

So treten wir als Nachwelt die Erbschaft der Eltern an, indem wir von der Begabung des Künstlers profitieren.

Alice Miller, Du sollst nicht merken

Dabei war ich so freundlich und ein so fröhliches Kind, und meine Mutter hat dennoch jede Möglichkeit genutzt, um mich zu ärgern.

Wann immer ich nach Hause kam, ich war nie sicher vor ihr. Was immer ich auch tat, was ich gerade dachte, wenn ich tatsächlich lächelte und die Figuren, meine Ritter oder Plastikindianer umstellte, es konnte sein, dass sie mich anschrie und zum Stillstand brachte. Im Umgang mit Figuren, Menschen, Tieren, ganz egal. Sie schrie mir Ruhe ins Gesicht.

Verdammt nochmal, ist endlich Schluss mit diesem Lärm!

Ich konnte schließlich augenblicklich Schluss machen. Dann später jede Art von Freundschaft gleich beenden.

Hör endlich auf mit deinem Lärm und diesem blöden Indianerspielen.

Dabei verstand ich nie, um was es ging. Daher kam meine tiefe Furcht, im Augenblick noch hier, im nächsten obdachlos und vor die Hunde gehen. Ich weiß nicht, wie es weiter geht, das kommt also daher. Dass nichts vor meiner Mutter Gültigkeit besaß, weder die Liebe, noch die Freundlichkeit, noch irgendetwas anderes von mir. Der Hass der Mutter höhlte alles aus. Dass sie mich unaufhörlich ärgerte, damit zerstörte sie auch jede Möglichkeit, dass ich daran was ändern hätte können.

Die Mutter, die zum Kindergarten schleicht und sich versteckt, damit sie heimlich sehen kann, wie ich mich dort benehme.

Dann später stellt sie mich zur Rede, und sagt darum, dass ich mich dort auch gut benehmen solle. Sie hörte niemals auf an meinen Einstellungen zu drehen, mich zu verändern. Sie hörte niemals damit auf, mich vor den anderen zu ärgern und zu beschämen.

Und später dachte ich: Jetzt ärgert mich mein Körper, meine Lunge, ausgerechnet jetzt der Rücken, nicht jetzt schon wieder. Jetzt ärgert mich mein Körper und ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

Das tust du mir zum Fleiß, sagt sie.

Das tat ich nie.

Sie nahm mein krank sein dafür her, dass ich mich dafür auch noch schämen sollte.

Als sie zu früh zum Kindergarten kam, da weinte ich für alle unverständlich. Ich sah sie kommen, sah sie an und fing zu weinen an. Jetzt weiß ich endlich, was ich fühlte.

Geärgert werden nur zum Fleiß.

Als wäre das ein Spiel, das ich niemals gewinnen würde können. Das Spiel des Lebens, unergründlich, ein Roman. Dramaturgie des Schmerzes, der Verzweiflung. Das alles war nur ausgedacht und angelernt. Mein Totentanz für die verrückte Mutter, die sich ihr Ärgern niemals nehmen ließ. Wie sie das immer auch genoss, mich zu verzweifeln, mich zur Verzweiflung bringen. Wenn ich dann stumm und stummer wurde und mich schlussendlich ganz abschloss.

Siehst du, jetzt hast du das kapiert, dass du dir selbst damit nur schadest; wenn du so schreist.

Die Augen meiner Mutter lächeln selig. Entrückt vor Liebenswürdigkeit und Nachsicht könnte jemand meinen.

Sie feierte sich selbst, die Kapitulation, die ich mit meinem Herzen fühlte. Der Schmerz, dass man nicht mehr gebraucht wird auf der Welt. Sie hatte mich so weit, sie hatte ihren Krieg gewonnen, mein Leid, mein Leben, meine Liebe, meine Wünsche, alles weg.

Kapituliert, bin ich mir selbst auch nicht mehr wichtig.

Sie war so stolz und endlich auch zufrieden mit sich selbst und ihrer ungewohnten Mutterrolle. Sie hatte mich dazu gebracht, mich selbst im Grunde umzubringen. Und jeder, der mich später sah, wie ich parierte, ängstlich schaute und mich vor Fragen fürchtete, nie ungefragt und unerlaubt was tat, noch anfasste, ermunterte mit seinem Beifall meine Eltern, und ganz besonders meine Mutter.

Wie schön der Junge schreibt! Wie aufrecht er schon sitzt! Wie er schon sauber mit der Gabel und dem Messer isst! Das ist doch wirklich allerhand. Da können sie stolz sein. Und klug ist er. Der wird bestimmt einmal ein Doktor.

Ich war nicht da. Ich war nicht einmal anwesend.

Wie schön der Junge sich schon schnäuzt!

Wer mich so sah, der lobte dafür meine Mutter und ihr Verhalten. Wer mich adrett und ohne Fehl und Tadel mochte und sich an meinem Schauspiel noch ergötzte, verstand gar nichts von mir. Der hatte keine Ahnung vom Gefühl, vom wahren Drama des begabten Kindes. Von seiner unterdrückten Wut und Angst. Vom unterdrückten Zorn und der Verzweiflung, jener Kraft, die ausschließlich das Überleben schafft, doch niemals eine Freude. Weil so ein Kind wie ich kein Echo fand, für die Verletzlichkeit und Würde seiner Seele. Ohne Gefühl für mich, Empfindungen nur unterdrücken und blind machen, verleugnen müssen lernen.

Festhalten und Befolgen.

Das Ideal.

Die Mutter wurde doch dafür bewundert, wie sie mich zweifelsfrei erzogen und ohne jeden Zweifel auch so hingerichtet hatte. Daher kommt das also. Bewunderung für meine Mutter und ihr Werk.

Am Ende stand ich da, selbst lächelnd über mein Betragen. Bewundernd waren alle Blicke, die mich trafen, und ich genoss und suchte später auch Bewunderung. Für die Vernichtung meiner Tränen, Verleugnung meines Kinderleids.

Hinter dem Ideal steckt die Vernichtung eines Kindes und die Bewunderung dafür, wenn es nicht dazu schreit.

Ich wartete im Grunde immer nur darauf, dass jemand zu mir kommt und sagt: Jetzt ist es doch vorbei. Jetzt ist doch alles wieder gut.

Dabei ist das genau das gleiche, was meine Mutter zu mir sagte, wenn ich erschöpft und mutlos und verzweifelt war. Jetzt sind wir wieder gut.

Ich musste mich bei ihr für alles schämen und wartete auf die Erlösung meiner „Sünden“.

Mit Schuld und Scham hielt ich an der Bewunderung dann fest.

Bewunderung für das Festhalten. Bewunderung für die Verleugnung. Und später dann Bewunderung für die Aufdeckung meiner eignen Kindheit. Bewunderung fürs Überleben. Das Überleben immer wieder selbst bewundern müssen und auch von anderen bewundern lassen. Bewunderung für Leid und Schmerz und Angst, für deren Überwindung; immer wieder überwinden müssen.

Bewunderung verhindert einen Schmerz, der ausschließlich ein Kind betrifft. Nicht mal geliebt zu werden, wenn man zerbricht. Geliebt zu werden und Bewunderung schließen sich aus. Was kein Kind wissen darf und kann, dass die Bewunderung niemals zur Liebe werden kann. Weil sich Empfindungen gegen Bewertung immer mit Verleugnung und dem Rückzug wehren. Man kann nicht lieben und bewundern. Das geht gar nicht. Die Last des kleinen Kindes bleibt, geliebt zu werden müssen, solange es nicht aufhört sich für nichts und wieder nichts zu schämen. Weil es unschuldig war in seiner Not und nichts dagegen tun konnte. Nicht damals und nicht später, nie nachträglich. Vom Schmerz des abgetötet worden seins als Kind, befreit sich niemand mit Bewunderung, denn die Bewunderung und das bewundert werden, öffnet die Wunde immer wieder.

Sich selbst bewundernd für die Überwindung seiner Schmerzen und seiner Angst und seines Leids, verleugnet sich ein ehemaliges Kind vor sich und seinen Eltern, und dieser Beifall, von den Eltern und deren Zeugen, verletzt ein traumatisiertes Kind dann folglich immer wieder nur von neuem. Weil an die spätere Bewunderung, doch immer auch die frühere Ermahnung angekoppelt bleibt. Ohne Ermahnung gäbe es Bewunderung gar nicht. Ohne die Angst vor der Beschämung und Erniedrigung durch meine Mutter beispielsweise, wenn ich nicht augenblicklich meine Art Gefühle abweise, verleugne. Bewunderung ist der Respekt für die Ablenkung von Gefühlen. Mit ihr versuchen wir, wie schon von Anfang an, die Eltern zu verstehen. Dabei vergessen wir uns selbst. Vergessen wieder unseren Zorn und unsre Wut.

Was das als Kind für mich bedeutet hat, wenn meine Mutter zu mir sprach, ich sollte mich benehmen, wie sie ganz leise fordernd in mich sprach und immer näher kam, je schwächer, leiser ich selbst wurde, wie sie mir immer wieder zugeflüstert hat, einschmeichelnd, sanft, sonor, mit ihren Engelszungen in mich drang: Gib endlich auf, hör endlich auf damit. Nun gib schon endlich auf!

Ich habe mich nach dieser leisen Stimme, diesem Einflüstern dann später immer wieder so gesehnt, als gäbe es etwas, das mich beruhigen, mich heilen und erlösen würde können; als würde schon ein Laut, der Bruchteil eines Wortes, davon genügen. Ich wusste nicht, dass meine Art Bewunderung für eine sanfte Stimme, der Kapitulation, der völligen Aufgabe meines Zorns und meiner Wut geschuldet war. Dass meine Mutter mich mit ihrer sanften Stimme auch nur verraten und belogen hatte. Doch konnte ich das nicht als Kind heraushören, die Wahrheit nicht für mich herausfiltern. Das hat mich also so verzweifelt und verrückt gemacht, weil die Empfindung in mir war, doch blind, deshalb fand ich dafür gar keine Äußerung; für die Verführung eines Kindes.

Bewunderung war immer schon Betrug. Bewunderung ist immer auch Verrat.

Verführung durch die Mutter lernte ich ertragen. Bewunderung für die Verführungskünste meiner Mutter. Dass sich mich mit ihrer sanften Art, nun endlich doch verfügbar für sich machen hatte können. Dass ich ihr schließlich so gehorchte, wenn sie mich anlog und verriet, missbrauchte und misshandelt hatte, dass ich sie dafür später noch loben und bewundern sollte.

Verführung, blind nur immer zu ertragen müssen, verwirrt, zerbricht ein Kind. ich lernte schamlos mir und anderen zu schaden. Ich fühlte mich dabei dann später immer schuldlos, genau wie früher meine Mutter bei mir.