Texte von Hugo Rupp

Schimpfen

 

Ich möchte niemandem absprechen, seine Eltern bedingungslos geliebt zu haben, auch wenn diese misshandelten, quälten und töteten. Ich möchte hiermit aber sagen, dass diese eingangs genannte Behauptung keinesfalls immer zutrifft und in manchen Fällen zur Verschleierung beitragen kann. Mir scheint sogar, dass es oft so geht, dass Menschen diesen Satz „Du hast geliebt“ aufsaugen, als Wahrheit anerkennen und dann in vermeintlicher Liebe zu/mit jemandem leben, weil sie nicht begriffen haben, dass das damals keineswegs Liebe gewesen sein muss – nicht nur nicht von Seiten der Eltern, sondern auch als eigenes Gefühl.

Aus Leserbrief: Nicht jedes Kind liebt seine Eltern Thursday 19 October 2006 © 2015 Alice Miller – all rights reserved

Aber der Schmerz war da, nicht geliebt zu sein. Nicht geliebt zu sein, war das Kinderleid. Größer ist es nie gewesen. Nicht geliebt zu sein.

Auf den Punkt gebracht. Auf die Füße. Wahrheit meiner Kindheit in den Beinen. Was ich Vater am Sportplatz zeigen wollte. Versehrtheit meines Herzens. Meine Seele, die sich widerspricht. Lieb ich dich vielleicht nicht richtig?

Nichts davon ging Vater etwas an.

Der Schmerz in meinem rechten Fuß. Jetzt muss ich wieder heim, mit meinem rechten Fuß zuerst. Jetzt muss ich wieder zu den Eltern rauf. Zu Mutter, die nur leidet, und Vater der davon nichts mitbekommt. Jetzt muss ich wieder heim. Die Treppe rauf und oben wartet meine Mutter und hinter ihr, den Gang entlang, sitzt Vater in der Kammer vor sich ein Kreuzworträtsel.

Wann muss ich endlich nicht mehr heim?

Wenn ich nicht augenblicklich funktionierte, dann war es aus. Dann drehte Mutter durch, und Vater wurde auf mich zornig. Und in der Schule konnte ich plötzlich nicht mehr rechnen. Ich wusste nicht mehr wie das geht. Und später fielen mir dann Worte nicht mehr ein. Die Namen waren weg, dann wieder da. Verschwunden blieben meine Bilder, von meiner Kindergärtnerin und allen Kindergartenkindern.

Ich ging in Vaters Richtung.

Ging Schritt für Schritt. Wie ich ihn in der Badewanne liegend hasste. Wie ich mir sein Gesicht beim Zähneputzen immer wieder vorstellte. Und wie er sich rasierte und seinen Rücken immer wieder mit den Knöcheln rieb. Wie ich mir jeden Handgriff merken hatte können, und nichts von dem Gefühl, ihr ausgesetzt zu sein, und ohne seine Hilfe.

Wenn ich nach Hause schaute und mich selbst zurückversetzte. Wie leise ich in meiner Kindheit war und immer so verloren.

Nicht lieben und nicht Anteilnehmen können. Nicht wütend werden dürfen. Da wo mich niemand mochte, da will ich doch nicht wieder hin. Mit einem Menschen wie der Mutter, will ich doch nicht verbunden sein. So jemand will ich doch nicht ewig schützen.

Doch welches Leben rette ich, das meine, oder das der Eltern?

Sie hörte mir ja gar nicht zu. Wenn ich was von der Freundin und von einem Freund erzählte. Sie hörte mir doch gar nicht zu. Sie fragte mich, was ihre Eltern machen würden.

Wie schreibt man diesen Namen? Das hört sich aber nicht Deutsch an.

Wie ich dann selbst nervös und ungeduldig werden konnte, wenn mir wer was von sich erzählen wollte. Ich war nicht frei, mir selbst dann später etwas anzuhören, was mir so früh mit Ablehnung verleidet worden war. Ich war nicht frei, mir etwas ohne Abneigung selbst anzuhören.

Hauptsache schön schreibst du, sagt sie. Und mach dich nicht so wichtig. Hörst du!?

Ich hörte sie.

Wenn ich nicht einfach was genießen kann als heutiger Erwachsener, dann heißt das doch, dass ich als Kind dazu erzogen worden bin. Mit Freude am Zerstören.

Was glaubst du, wer du bist, dass du hier solche Wünsche äußern kannst!? Was bildest du dir ein!? Du hast hier gar nichts einzufordern und zu sagen. Solang du deine Füße unter meinem Tisch hier hast.

Ich klopfte mit dem rechten Fuß lautlos in meinen Schuh. Nur meine Zehen waren widerspenstig. Ich schaute in den Tisch und Vater hielt dann während unsres Essen eine Rede. Die Niedertracht der beiden kann ich heute erst recht spüren, ohne die Luft zum Atmen zu verlieren. Das hörte einfach niemals auf. Deswegen atmete ich so beharrlich langsam, um nur nicht stark zu sein, um meine Wut und meinen Zorn doch irgendwie zu zügeln. Denn Vater hätte mich geschlagen und Mutter hätte zugeschaut.

Sie trinkt den Sekt und spuckt dann große Töne, und ich spuck Milch, weil mich der Alkohol verrückt machte. Ich spuckte bröckchenweise Milch und Schleim, und sie will mich nicht länger haben.

Die Ablehnung, die ich ihr niemals wirklich hatte zeigen können. Mein Schmerz. Die Feindschaft und nichts anderes. Wenn sie so mit mir spielte, als würden meine Interessen gar nicht zählen. Der Schmerz in mir sagt das: Sie machte meinen Überlebenswillen krank, selbst meinen Wunsch nach irgendeiner Art Veränderung verfolgte sie mit Scham. Selbst meine Blicke in den Boden strafte sie. Da war kein Ausweg von ihr weg. Nur diese tiefe Abneigung, die ich vor ihr und mir schließlich verbarg. Geschenk der Freiheit, Wut, dass ich nie wieder das erleben muss, was sie mir angetan hatte.

Was niemals Liebe war.

Das muss ich mir nicht nicht länger anhören!

Und jetzt verstehe ich, dass das schon immer so gewesen ist. Die Äußerung, mit der mich meine Mutter nie verschont hatte, Verweigerung und Ablehnung. So wie ein Automat. Auf alle Fragen und jede Art von Kommunikation und auch Annäherung, war in mir später ebenso Verweigerung. Ich musste mich verweigern lernen. Mich selbst missachten und missachten lernen.

Schau, deine Mutter hat es auch nicht immer leicht, sagt meine Tante. Dein Vater kann auch schwierig sein, weißt du!? Mein Onkel Martin schaute in die Suppe, und ich saß neben ihm und sah wie seine Finger zitterten.

Genauso wie die Mutter mit mir sprach. Wie sie sich ausschließlich nur vorwurfsvoll mir gegenüber äußerte. Wie sie sich über mich und meine Gegenwart beklagt hatte.

Nichts wird ertragen, wenn ich darauf schimpfe. Auf Schmerzen und Gefühle schimpfen, das lernte ich von ihr. Dagegen konnte ich nichts tun. Nur Schmerzen und die damit verbunden Gefühle zu beschimpfen, das hatte ich zu lernen. Mich selbst damit zu schimpfen.

Mit Schimpfen traf ich jeden Schmerz. Mit Lachen meine Trauer. Ich hatte keine andre Möglichkeit mehr zur Verfügung. Ich schimpfte auf Gefühle. Ich schimpfte wie ein Rohrspatz. So wurde Schimpfen auch zu meiner zweiten Haut. Zum Schutz vor den Gefühlen. Mit Schimpfen aber, missachtet man sich selbst und jeden anderen; verleugnet jede leise Regung.

Mut wollte mir die Mutter nehmen und meine Fähigkeit zu Wut und Zorn. Denn Mut hatte sie keinen. Mich drangsalieren konnte sie. Sie traute sich bei einem kleinen Kind. Wie Vater mich geschlagen hatte. Das hatten sie beherrscht. Wie Flüche einen zwingen können. Denn Flüche hatten sie beherrscht, mit Schimpfen, Mut und Wut zerstören.

Nicht Mut war bei den Eltern angesehen, Gehorsam war ihr Zauberwort gewesen. Mut fehlte meiner Mutter gänzlich. Ihr Lieblingswort war, brav. Ihr Lieblingssatz: Jetzt sei ein braves Kind. Sei still und halt jetzt deinen Rand.

Mut war ihr so zuwider, dass sie im Grunde immerzu nur Feigheit predigte. Sie lachte über jeden, der Freiheit wagte. Am meisten aber, verlachte sie mein Scheitern.

Hab ich dir das nicht gleich gesagt!?

Selbst feige, jeden Mut verachtend, erkannte sie sofort in anderen die Feigheit und machte sich darüber lustig. Sie lachte aus, beschämte, was ihr fehlte. So macht man ein Kind mürbe und unfähig, bis es verzweifelt an die Lösung denkt. Den Mut und Wut und Zorn, selbst aufzugeben.

Ich schimpfte mich ja selber schließlich aus. Beschämte mich für meine eigne Feigheit. Ich schämte mich, feige zu sein. Das hatte ich gelernt. Mein größter Kummer dabei war, dass ich stets dachte, ich wär der einzig feige Junge. Denn meine Mutter und mein Vater vergaben kein Gefühl von Feigheit und Mutlosigkeit. Sie waren selbst ganz feige Schweine.

Jetzt weiß ich auch, was ich in Bücherläden, Supermärkten suchte, wenn ich vor dem Regal scheinbar reglos nur stand, und wenn jemand vorüber kam, mich rempelte oder an meinen Platz wollte. Ich suchte nach Gelegenheiten, nach irgendeiner Möglichkeit jemand zu schimpfen.