Texte von Hugo Rupp

Null

 

Ich setzte mich auf den kalten Boden und ließ mich unter das Leere sinken. Weinte mich in den Schlaf, so wie ich’s gemacht habe, als ich selber noch ein Kind war.

Bevor sie mir beibrachten, dass keiner zuhört.

Andrew Vachss Tief im Abgrund

Da habe ich etwas verpasst! Da ist mir doch tatsächlich was entgangen. Da habe ich nicht richtig hingeschaut, sagt sie. Das ist mir gar nicht aufgefallen, dass dir das nahe geht. Das ist mir nicht ganz klar gewesen, sagt meine Mutter. Das war mir gar nicht klar. Da habe ich was falsch verstanden. Denn anders kann ich mir das nicht erklären. Das wusste ich gar nicht, sagt sie. Dass dir was wirklich nahe geht. Das wusste ich gar nicht. Warum hast du denn nichts gesagt? Jetzt ist es dafür viel zu spät. Jetzt kann man nichts mehr machen. Das haben wir wohl unterschätzt. Das hat dein Vater übersehen, sagt sie.

Was meine Schmerzen immer wieder nur von neuem anregte, dass ich mich mit dem Vater sah, dass ich mich mit dem Vater sehen musste, dass ich ihm folgen musste, folgen sollte, immer wieder. Dass ich nicht das konnte, was Vater immerzu nur tat, mir drohen und wegschauen. Mir drohen und dann einfach wegschauen. Wie er mich übersah. Dass er mich übersehen konnte. Was ich nicht tun konnte. Den Vater übersehen. Nicht hören, was er sagt. Ich konnte Vater doch nicht übergehen. Ich suchte seinen Blick. Ich suchte immerzu nach seinem Geist. Nach seinem Geist und seiner Ausstrahlung. Ich suchte nach dem Schutz, nach Sicherheit. Ich musste auf ihn hören. Ich musste mich um meinen Vater kümmern. Ich musste einfach sehen. Was Vater, Mutter niemals für mich taten. Sie schauten einfach weg. Sie schauten mich ganz einfach nicht mehr an.

Was ein Kind nicht tun kann. Die Eltern ignorieren. Identifikation, aus meiner Einsamkeit heraus. Ich musste mich dem Vater fügen, auch wenn er wegsah und mich ignorierte. Ich musste seine Blicke einfach finden. Ich musste seinen Blick einfangen. Das nicht zu tun, hatte ich nicht gekonnt.

Solange dieser Blick zum Vater ungebrochen scheint, gibt es kein Mitgefühl und keine Liebe für ein Kind. Solange ich nach meinem Vater schaue, auch heimlich in mir drin, verstecke ich mich vor mir selbst. Verstecke ich mein Kind.

Der Schmerz, dem Vater immer nachzuschauen müssen. Den Blick des Vaters und der Mutter einzufangen. Nur ja nicht ohne Blick zu sein, Nur ja nicht ohne Blickkontakt.

Ich musste Vater immer wieder suchen. Machte mich das verrückt. Dass ich den Eltern folgen musste. Mich mit der Mutter anfreunden. Mich immer wieder anfreunden, nur um nicht ganz allein zu sein. Mich immer wieder anfreunden, mit Vater, der mich schlägt. Mit Mutter immer wieder anfreunden, die mich allein lässt und auslacht. Mich immer wieder anfreunden. Sonst frisst mich Stille auf und Dunkelheit verbindet mein Gesicht. Verblendet bin ich ohnehin allein; und ohne Sicherheit. Im Zweifel bin ich immer auf der Suche. Im Zweifel bin ich nie zu Haus.

Ich musste meine Eltern suchen und war dabei allein. Ich musste meine Mutter rufen und blieb dabei allein. Ich hörte etwas, schaute dann und blickte hinterher, doch war da nichts. Ich schaute Schatten an der Wand. Und jeder Blick blieb immer leer. Ich schaute und versuchte meinen Vater aufzuspüren, doch blieb ich dabei leer. Bei meiner Suche blieb ich immer leer. Ich konnte Vater niemals wirklich finden.

Sie hatten sich vor mir versteckt. Sie hatten mich tatsächlich übersehen. Absichtlich sich vor mir versteckt. Absichtlich übersehen. Ein Kind absichtlich übersehen. Was ein Kind niemals kann. Absichtlich wegsehen. Die Eltern ignorieren.

Absichtlich stehen lassen, ganz allein. Das also blüht in mir. Das einfach übersehen. Absichtlich übersehen. Ich Kind in meiner Not, bin einfach übersehen worden. Nicht zufällig. Nein absichtlich ist Mutter weggegangen, und Vater singt. Der Vater pfiff und ging daneben. Und wieder war ich nur allein. Sie gingen, Vater pfiff und ließen mich allein.

Mich übersehen konnte ich gar nicht. Mich ganz alleine lassen. Wie sie das mit mir taten. Mich einfach ganz alleine lassen. Und einfach weggehen. Mich einfach liegen lassen. Mich übersehen wie als Kind. Mich selbst als etwas überblicken, das ruhig so verzweifeln kann. Ich musste für mich selbst sorgen. Deshalb versteckte ich die Wut. Deshalb verbarg ich meinen Zorn. Vor meinem Vater und der Mutter konnte ich nicht wütend werden. Ich folgte meinen Eltern. Auf Schritt und Tritt und auch ihm Wahn. Ich wäre in die Hölle auch marschiert, wenn Vater vorgegangen wäre. Vorausgegangen, wäre ich nachmarschiert. Egal wohin, in welches Drecksloch oder welche Katastrophe, ich wäre meinen Eltern nachgefolgt. Ich musste ihnen nachfolgen, ich musste doch gehorsam sein. Identifikation mit meinem Vater und mit meiner Mutter.

Mit ihren Blicken, Augenaufschlägen. Den Augen immer weiter folgend. Dass ich mich nicht verlieren kann, dass ich mich nicht verlieren würde können, dass ich mich nicht verlier; deshalb versuchte ich nicht zu entkommen. Deshalb blieb ich den Eltern treu.

Als ich so klein war wie ein Hund, da schreckte mich ein Klang, wenn Mutter wegging und verschwand, und Vater dazu lachte. Wenn sie mich beide übersahen. Als sie mich beide übersahen, da war ich so einsam, dass meine Seligkeit zerbrach. Ich war nur mehr allein. Nichts anderes blieb mehr verborgen, als diese erste Leere, ohne ein Wort und einen Blick zu sein.

Nur Wut zerstört das öde Land.

Ich konnte krank sein, fiebrig, aufgeregt, verloren und verwundet und verzweifelt, erfolgreich beim gesund werden und aufgeweckt. Ich konnte noch so schleimen, husten, mich verwundert winden und umdrehen und verbiegen, sie konnten trotzdem über mich hinwegsehen. Mich ignorieren und verzweifelt in der Not alleine lassen. Sie konnten mich absichtlich nicht mehr sehen.

Wie mir die Eltern das beibrachten. Ich musste über mein Gefühl entscheiden lernen, ob ich es haben wollte oder nicht. Das Kranke ist, eine Entscheidung dafür suchen und verzweifelt weiter suchen müssen, für etwas, das erscheinen kann und dennoch sich nicht äußern lässt. Etwas verhindern müssen. Etwas verhindern, lehrten meine Eltern mich. Dass ich mich selbst verhindern und verleugnen lehrte, das wusste ich doch nicht. Dass ich was Falsches für mich lernte; als ich mich mit den Eltern gleichsetzte. Als ich für meine Eltern endlich brav, gehorsam, unterwürfig wurde und voller Scham mich selbst verband. Ich sollte doch wie meine Mutter und mein Vater sein.

Ich sollte mich selbst übersehen lernen. Mit voller Absicht meine Leiden überwinden und ignorieren lernen. Ich sollte meine Schmerzen unterdrücken lernen. Mich ganz bewusst davon fern halten und mich dann weiter noch von dem Gefühl dabei entfernen. Ich wollte schließlich über mich hinwegsehen. Mich mit Gefühl selbst ignorieren. Ich wollte mich doch schließlich selbst verlieren und verlieren. Ich wollte schließlich wie mein Vater und die Mutter sein. So sicher, wie die beiden über mich entscheiden.

Mich immer wieder selbst zu opfern müssen, war das Gefühl in mir, und das doch nie verändern können. Niemals ein Schicksal selbst verändern können, wurde von meiner Mutter und dem Vater in mir eingepflanzt. Indem sie mir niemals die Wahl selbst überlassen wollten, mir selbst auf meine Fragen mit Gefühl zu antworten. Der Vater und die Mutter wollten alle Antworten für mich und für mein Leben mir mitteilen. Das war die Lüge. Dass es da jemand geben kann, der mehr weiß von mir selbst, wie ich.

Dass jede Wahrheit nur von innen kommt und das Gefühl betrifft, konnte ich später dann erst recht begreifen lernen.

Was Mutter, Vater, immer übersahen, war meine Fähigkeit, mit der doch jedes Kind geboren wird, mich selbst zu lieben und zu mögen und diese Fähigkeit auch auszuüben und auszutragen wollen. Die Fähigkeit zur Empathie. Die Fähigkeit, in sich die Wahrheit selbst zu fühlen. Und diese Fähigkeit versuchten meine Eltern zu verbieten.

Erst heute als Erwachsener muss ich mein Mitleid und mein Mitgefühl nicht mehr verhöhnen und verbieten. Ich muss mich nicht mehr notgedrungen gegen mich entscheiden.

Mit dieser Wahrheit fasst ein Kind doch Mut.

Hast du denn keinen Stolz in dir, sagt Vater irgendwann und Mutter hört andächtig zu.

Der Vorwurf, dass ein Kind, das sich nicht anders helfen kann, sich dazu zwingt, sich zu erniedrigen, ist die Verhöhnung eines Opfers, und Beifall für Gewalt. Mein Vater wollte doch im Grunde nur, dass ich ihn dafür loben, preisen, sollte, für die Verleugnung von Gefühlen und Empfindungen.

Identifikation

So zu verhöhnen wie mein Vater und die Mutter. Nur wenn ich voller Abscheu, Ekel und Verachtung war und andere damit verhöhnte, fühlte ich Sicherheit. Chemische Reinigung. Mit der Verachtung des Gefühls und meine Wut dabei, war für mich unbegreiflich.

Mutter hat mir das Weinen und die Wut und alles Fühlen abgewöhnt. Mein Vater hat dann alles immerzu bestätigt. Sie haben mir das Weinen abgewöhnt und meine Wut. Die gute Wut. Sie haben mir als Kind das wütend werden abgewöhnt, indem sie mich in meiner Not verhöhnten.

Ich konnte mich nicht länger hören. Ich konnte mich selbst nicht mehr hören. Ich hatte so auch kein Gefühl mehr schließlich für mich selbst. Ich hörte mich nicht mehr. Ich konnte mich in meiner Einsamkeit nicht länger spüren, weil alles in mir sich nach meinen Eltern sehnte; nach deren Einzigartigkeit. Ich konnte nicht mehr länger bei mir sein und bleiben.

Das also lernte ich, jetzt endlich habe ich das auch kapiert, dass ich auf jeden Fall mich um die Eltern kümmern musste; egal was auch passieren würde. Dass ich auf alles außer mir, mich konzentrieren musste. Ich sprang auf alles an, nur nicht mehr auf mich selbst. Mein Aufmerksamkeitsdefizit galt immer mir zuerst.

Ich konnte mich selbst nicht mehr hören. Die Mutter und der Vater hatten mir die Wut, mein Weinen für mich abgewöhnt.

Ich hatte doch gefühlt, da sei jemand. Dass ich das war, das wusste ich doch nicht. Dafür war ich zu klein. Als ich noch voller Inbrunst weinen konnte. Und meine Eltern brachten mir dann bei, da sei niemand, da ist niemand. Die Mutter und mein Vater haben mir das beigebracht, ausschließlich auf ihr Wort zu hören, weil sonst niemand mein Rufen und mein Schreien hörte.

Ich fühlte doch, da ist jemand, dass ich das war, das wusste ich doch nicht, als ich noch voller Inbrunst weinte. Und meine Eltern brachten mir das bei, da ist niemand, da sei niemand, als ich verzweifelt war und schrie und wütend war und voller Zorn.

Da ist niemand! Was schreist du denn!?

Ich bin doch da gewesen.