Texte von Hugo Rupp

Nachsicht

 

In allem, was Sie geschrieben haben, wird das Kind verraten, sein Vertrauen und seine Liebe. Wenn der Erwachsene später realisiert, was ihm angetan wurde, ist das in meinen Augen kein Verrat an den Eltern, sondern die Entdeckung der Wahrheit und eine große Befreiung. Aber es stimmt, die Erziehung, wie sie noch heute praktiziert wird, verlangt vom Kind, die Untaten der Eltern niemandem zu verraten.

Alice Miller, Antwort auf einen Leserbrief, 21.12.2009

Es ist ganz schwierig, zu verstehen, wie Menschen aus innerer Not zum Raubtier werden können. Wenn ein Mensch in seiner Kindheit emotional zu kurz kommt, kämpft er später wie ein Raubtier um emotionale Nahrung. Meine Mutter kämpfte stets um emotionale Zuwendung. Wenn sie sie nicht bekam, hat sie Menschen abserviert. Solches Verhalten ist heute vielfach verbreitet.

Martin Miller, in einem Interview mit der Berner Zeitung

Ein Kind das seine Mutter sucht, wird seine Mutter niemals finden, solang die Mutter sich vor ihrem Kind versteckt.

Ich parfümierte meinen Hals und Richtung Brust darunter auch, dann manchmal parfümierte ich die Stelle, wo meine Nackenwirbel in den Kopf langen. Dann stäubte ich den Hals an beiden Seiten ein.

Ich rieb mein Hemd an meinem Hals, dann roch der Stoff danach. Und wenn ich dann ein Hemd weglegte und ein paar Tage später wieder anzog, dann war da immer noch der Duft nach dem Parfüm. Ich parfümierte meinen Hals und der Geruch zog hoch. Ich roch den fremden Duft. Nicht mich, nicht meinen Vater, der nach Rasierwasser so stank. Am Sonntag in der früh rasierte er sich ausgiebig, dann duschte er und vor dem Weggehen, da warf er sich Rasierwasser in sein Gesicht, das Kölnisch Wasser, mit dem türkisfarbenen Aufkleber. Ich suchte nicht nach meinem Vater. Ich suchte doch von Anfang an nach meiner Mutter. Nach ihr, und sie versteckte sich vor mir. Wie weit vergeblich suchen geht.

Die Pfauenbilder. Ich auf dem Prinzenwagen, bewundert und beklatscht, mit blauem Umhang, drunter silberfarben, wie ein Prinz aus Märchenfilmen oder Märchenbüchern. Ich lächle und ich lächle, und meine Mutter ist so stolz auf mich, weil ich nichts andres tu, als mich mit ihrem, für mich genähten Kostüm, zur Schau zu stellen, ohne ein Murren. Obwohl mich alles zwickt, schau ich und lächle immer wieder. Ich werfe auch Bonbons, und wie die Zuschauer mich anschauen. Ich bin so glücklich, wenn sie glücklich sind. Nur dann muss ich die Mutter nicht mehr suchen.

Ich huste und ich huste. Ich huste um die Mutter. Ich huste, um den Geruch der Mutter aufzuspüren. Ich huste den Gestank hinweg. Ich huste, wenn ich schlafen gehe, bevor ich meine Augen schließe. Ich huste, weil ich den Geruch der Mutter nicht mehr finde. Ich rieche nichts, was meiner Mutter ähnlich wäre. Ich rieche und ich huste. Ich huste und vertreibe meine Mutter, denke ich, mit meinem Husten. Ich mag die Frau nicht, wenn sie riecht. Die fremde Mutter kann ich überhaupt nicht leiden. Ich dachte immer nur, es liegt an mir. Die Mutter kann mich nicht mehr finden. Die Mutter findet mich nicht mehr. Die Mutter kann mich nicht mehr finden. Dabei war sie nicht da. Ich konnte sie nicht riechen und aufspüren. Ich hatte keine Witterung von ihr.

Ich kann dich nicht mehr riechen, heißt später immer nur, ich mag dich nicht, ich kann dich nicht mehr mögen. Als Vorwurf und Verteidigung.

Ich rieche keine Anteilnahme. Ich schreibe und beschreibe meine Mutter. Ich zeichne und ich male sie. Doch ist da kein Geruch. Da ist nicht einmal mehr Gestank, nach ihren zig Parfümen und Duftwässern. Da ist nichts mehr, was an ihr hängt. Ich hänge nicht an ihr. Mein Husten, meine Geisterrufe. Mein Schreien, wenn ich noch in der Nacht dann bellte. Beim nicht Finden, dann später immer wieder von ihr ausgelacht.

Die Suche nach der Nahrung. Die Suche nach Empfindungen, nach einer wahren ersten Liebe, die es doch niemals für mich gab; beendet, endlich aus. Die Suche nach dem Essen. Ein Hungerkünstler, der die wahre Nahrung sucht, versucht sich immer nur vergeblich, weil es die wahre Nahrung niemals gab. Den Trost und Liebe in der Kindheit. Von meiner Mutter gab es nur die Not und die blieb mir erhalten. Die Suche nach der wahren Liebe, die lernte ich von ihr. Ich lernte sie zu suchen, weil meine Mutter sich von Anfang an versteckt hatte. Nach Liebe suchen, suchen, suchen. Emotionale Wiederkehr. Der Heißhunger nach jeder Form von Liebe, Zuwendung und nach Nähe. Niemals ein Ende finden, also daher.

Ob du deinen Husten jemals los wirst!?

Es hat sie niemals interessiert, wieso ich unaufhörlich hustete. Warum ich nicht mit meinem Husten aufhören konnte. Ich musste doch von Anfang an nach meiner Mutter und der Liebe suchen. Ich wusste nicht wieso. Ich musste einfach danach husten.

Wie groß, wie unbändig stark muß Kafkas Hunger nach einem zuhörenden Menschen in seiner Kindheit gewesen sein, nach einem wahrhaftigen Menschen, der ohne Drohungen und ohne Ängstlichkeit seine Fragen, Ängste und Zweifel aufgenommen, seine Interessen geteilt, seine Gefühle mitgespürt und nicht verspottet hätte. Wie groß mußte seine Sehnsucht nach einer Mutter gewesen sein, die seiner inneren Welt mit Teilnahme und Respekt begegnet wäre. Diesen Respekt kann man aber nur dann einem Kind geben, wenn man gelernt hat, auch sich selbst als Person ernstzunehmen.

Alice Miller, Du sollst nicht merken

Wenn meine Mutter mich aus meinem Bettchen nahm, dann sollte ich mich an ihr festhalten. Sie zog nicht fest, ich sollte mich an ihren Fingern aus meinem Bettchen selber ziehen. Sie hielt mich nie ganz fest. Es konnte sein, dass ich ihr aus den Fingern rutschte. Dabei hielt sie mich niemals fest. Das Fallen und das wieder in mein Bett zurückfallen, sollte doch immer mein Versagen sein und mein Versagen bleiben. Ich sollte ausschließlich der Dumme und der Schwache sein. Ich sollte selbst beim mich Aufrichten nur der Dumme sein. Sie griff ausschließlich zu, wenn sie mich in der Nähe haben wollte. Da durfte ich nicht weg. Ich durfte niemals frei entscheiden. Beim Zugriff immer zu versagen. Ich sollte meine Mutter nicht erreichen. Und sie hielt mich nur fest, damit sie jemand in der Nähe hatte, wenn sie mich in der Nähe haben wollte, wenn sie bedürftig war; nie sonst. Wenn ich bedürftig war, dann musste ich versagen und meine Not allein ertragen. Ich sollte zugreifen und mich an ihren Daumen aus meinem Bettchen ziehen, doch sie behielt darüber immer die Kontrolle. Das macht ein Kind verrückt, wenn es niemals sich selbst gewinnen kann. Ich konnte meiner Mutter niemals nahe kommen. Das machte mich schier wahnsinnig. Nur immer zu versagen und zu versagen müssen, erzeugt in einem Kind die Angst davor, nichts mehr zu wagen, was seiner Mutter nicht gefällt.

In jeder ausweglosen Situation wird Angst frei und auch gleichzeitig als Schutz begriffen. Die Angst, die ohne Ausweglosigkeit, das ehemalige Opfer stets daran hindert, wieder in Freiheit, seine Freiheit auch als Freiheit zu empfinden. Die Freiheit wird für ein traumatisiertes Kind als Ausnahme empfunden. Als ein Gefühl, das auf einen neuerlichen Zugriff schon wieder hinzudeuten scheint. Die Freiheit wird zu einer Art Bedrohung. Als würde Freiheit jemanden bedrohen können. Als würde frei sein jemanden erschrecken.

Man spielt nicht mit der Freiheit, wurde mir niemals gesagt. Dabei verboten mir die Eltern alles, was ich aus freien Stücken gerne tat. Man spielt nicht mit dem Essen. Nur Juden wetten, und so weiter.

Die Mutter spielte nicht mit meiner Freiheit, sie machte mich damit verrückt. Sie zeigte mir doch immer scheinbar einen Ausweg, wenn sie mir ihre Daumen zum Festhalten hinhielt. Sie zeigte mir dann später auch beim Halma spielen ihre Wege, doch niemals um mir Möglichkeiten zu eröffnen, auch wirklich von ihr wegzukommen. Ich sollte mich nicht wirklich frei fühlen. Ich konnte nicht frei mit ihr spielen. Ich war nicht frei. Das sollte ich bei meiner Mutter niemals sein. Das konnte ich von meiner Mutter niemals lernen.

Wer auf dem Friedhof von St. Rémy de Provence, wo meine Mutter bis zu ihrem selbst gewählten Tod am 14.April 2010 gelebt hat, nach ihrem Grab sucht, wird es nicht finden. Auch in Zürich, wo sie immerhin von 1946 bis 1985 lebte, wo ihre Karriere als weltberühmte Kindheitsforscherin begann, gibt es keine letzte Ruhestätte Alice Millers. Sie wurde verbrannt und ihre Asche wurde an dem kleinen Bergsee bei St. Rémy verstreut, an dessen Ufern sitzend sie oft ihre Texte in ein Diktafon gesprochen hat.

Martin Miller, Das wahre „Drama des begabten Kindes“

Was eingeschlossen wird von einem Kind, vor einer Mutter, die sich vor Nähe fürchtet, was eingeschlossen bleibt, ist Freiheit auch zu suchen, wenn alles nur nach Nähe schreit.

Ein Kind kann seine Mutter nicht verleugnen. Ein Kind kann seine Mutter nicht verlassen. Die Freiheit dazu hat kein Kind. Erst der Erwachsene kann Freiheit als Geschenk für seinen Mut für sich erhalten. Erst der Erwachsene kann sich befreien.

Der Hunger und mein Husten. Mein Atmen immer wieder. Mein Einsaugen, mein Luft holen, nach Luft ringen. Mein Krampf im Bein, mein treten und ausschlagen und austeilen. Mein Kampf um Aufmerksamkeit, nach Liebe und nach Trost. Mein Kinderelend auszurotten, um endlich aufzuhören können. Womit?

Das fühlt sich an, als würde alles in mir wie die Mutter schreien: Sei nicht so neugierig. Hör endlich damit auf! Fängst du schon wieder damit an. Frag nicht so blöd. Das kann ich dir nicht sagen. Da bist du noch zu klein dafür. Das geht dich gar nichts an. Was sollen diese blöden Fragen. Frag das doch deinen Vater, wenn du willst. Mich brauchst du so etwas gar nicht zu fragen. Ich habe damit nichts am Hut. Ich habe damit nichts zu schaffen. Denn das ist ganz alleine deine Schuld. Lass mich in Ruh. Das geht dich gar nichts an. Sei nicht so furchtbar aufgeregt. Wie kann man nur so neugierig sein. So eifersüchtig auf den andern. Das wird dir noch leid tun. Man soll nicht immer soviel fragen! Das ist nicht gesund, immer so neugierig zu sein.

Sie wollte meine Neugier nicht. Sie wollte meinen Hunger nicht. Sie konnte meinen Hunger nicht ertragen. Ich sollte nicht neugierig sein. Ich sollte nicht wie jedes Kind nach Wissen hungrig sein, sehnsüchtig etwas lernen wollen. Sie mochte meinen Hunger nicht. Und jetzt verstehe ich auch die Verbindung zwischen Hunger, Neugier, Aufmerksamkeit und Sehnsucht und meinem Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit, wider Willen. Die Freude, meine Wissbegier, die Neugier konnte meine Mutter nicht ertragen. Das war es, was sie ihr als Kind zerstört hatten. Das gleiche und dasselbe immer wieder. Die Neugier eines Kindes ausschalten, damit es niemals unabhängig wird. Damit es hängen bleibt und seinen Eltern hilft.

Wie wütend und wie zornig ein Kind werden kann, wenn seine Neugier immer nur gelenkt und abgelenkt und überwacht wird. Dem Schutz der Mutter dienen. Wie Wissensdurst missbraucht und kontrolliert und überwacht und ausgebeutet werden.

Dass ich mich nur für meine Mutter interessieren sollte. Das war es also, was ich damals fühlte und nicht verstand. Warum ich bei Mutters Auftauchen im Kindergarten zu weinen anfing und nicht mehr aufhören wollte. Jetzt macht sie wieder alles kaputt. Jetzt muss ich wieder nur für sie und ihr Ansehen spielen. Jetzt muss ich wieder für sie da sein.

Was meine Mutter mir beibrachte, war Unnachgiebigkeit und nicht entgegenkommen können. Ich musste alles für sie stehen, liegen lassen. Selbst abserviert, lernte ich abservieren.

Und der Haifisch, der hat Zähne


Und die trägt er im Gesicht


Und Macheath, der hat ein Messer


Doch das Messer sieht man nicht.

Ach, es sind des Haifischs Flossen

rot, wenn dieser Blut vergießt.

Mackie Messer trägt ’nen Handschuh

drauf man keine Untat liest.

Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper

Ich konnte später gegenüber anderen auch keine Nachsicht üben oder zeigen. Weil ich nicht wusste, was das ist.

Denn die einen sind im Dunkeln


Und die andern sind im Licht.


Und man siehet die im Lichte


Die im Dunkeln sieht man nicht.

Bertolt Brecht, Schlussstrophe für die Filmfassung, Die Dreigroschenoper

Ich musste augenblicklich für die Mutter Augen haben, ich musste augenblicklich als Kind für sie da sein. Ich sollte insgeheim nachsichtig und entgegenkommend gegenüber meiner Mutter sein.

Ich wusste aber nicht, was Nachsicht ist. Ich wusste nicht, wie man sie zeigt. Ich wusste nicht, was Nachsicht heißt. Ich konnte später keine Nachsicht üben, ich wusste nicht wie man sie zeigt.