Texte von Hugo Rupp

Leiden lassen

 

Als er ein Kind war, sind fünf Kerle über ihn hergefallen. Sie haben ihm den Bauch aufgeschlitzt und die Kopfhaut zerfetzt.

Ja und?

Diese Kerle kamen aus meinem Heimatdorf. Und er weiß es. Er hat so getan, als würde er es gerade erst herausfinden, dabei wusste er es sehr wohl, längst bevor er zu uns kam. Und wenn sie meine Meinung hören wollen, überhaupt nur deshalb ist er hier.

Wieso?

Er sucht nach Erinnerungen, Danglard.

Aus: Die Dritte Jungfrau, Fred Vargas

Sie hat sich immer ahnungslos gegeben. Nach jedem ihrer Wutausbrüche, war eine Stille da, in der sie selbst gar keine Ahnung hatte, warum sie mich zum Beispiel angeschrien hatte. Die Ahnungslosigkeit war immer da bei ihr. Als hätte sie tatsächlich keine Ahnung, was passiert war und was auch noch passieren würde, wenn ich mit ihr allein zuhause war.

Sie lächelte und redete und plötzlich sagte sie kein Wort mehr. Dann schaute sie betreten auf mich runter, als hätte ich schon wieder was getan, von dem ich nicht mal wusste, was das war, was das gewesen hätte sein können. Ich war tatsächlich ahnungslos, was meine Mutter immer von mir wollte, wenn sie in meine Augen sah und meinen Mund anstarrte, bevor sie losschrie und mich und alles wegen mir verfluchte.

Ihr Mund

ihr Auge

öffnen

eine Tür.

Ich schaute sie erschrocken an, dann zuckte sie mit ihrer rechten Schulter, zog ihren Mund ganz schmal und funkelte ganz kurz mit einem Auge. Das eine Auge zugekniffen, alt, das andere geöffnet. Als würde sie von einer Sonne nur geblendet sein. Sie drehte ihren Kopf, pfiff aus dem Mund und ging. Sie sagte nichts und ließ mich ahnungslos zurück.

Sie war so unheimlich für mich und so entsetzlich, weil sie sich immer nur nach einem Ausbruch ihrer Wut und Angst, hinter der Ahnungslosigkeit versteckte.

Die Mutter sah Gespenster.

Sie gab deswegen keinerlei Erklärung ab, weil sie sich nie erklärte, warum sie so und so und so gewesen war.

Das war für mich so unheimlich, weil das Erschrecken und erschreckt werden für meine Mutter selbst vollkommen unerklärlich schien.

Wie Strafe funktioniert.

Wir hatten keine Ahnung. Wir wussten nichts davon. Wir haben das auch nicht geahnt. Auch das Verschwinden nicht. Das ist mir heute noch ein Rätsel. Dass niemand etwas davon wusste. Dass wirklich niemand was davon bemerkte, als dann so viele Menschen plötzlich weg waren.

Ich hatte das Gefühl, ich könnte was verlieren, mir würde plötzlich etwas fehlen und abhanden kommen können. Mir könnte jeder einfach etwas stehlen und wegnehmen. Es könnte etwas weg sein und spurlos auch verschwinden.

Nichts hörst du! Still. Was du nur immer wieder hast. Da ist nichts.

Dabei ließ ihre Furcht nie nach.

Du musst dich nicht erschrecken, hörst du.

Dabei zitterten ihre Hände.

Aus Angst und Wut.

Sie war nicht neugierig, warum sie immerzu beim kleinsten Laut vor Angst die Hände zur Beruhigung anfasste, mit ihren Fingern spielte und dann auf ihre Lippen biss.

Was schaust du mich so an. Du hast doch sicher wieder etwas ausgefressen.

Die Panik, die mich dann ergriff, ich hätte etwas ausgefressen, ich könnte, ohne das zu wissen, etwas begangen und verbrochen haben. Ich könnte etwas tun, an das ich mich nicht einmal selbst erinnern würde können.

Was hatte ich dann später Filmrisse, nach Räuschen und nach Alkohol. Ich konnte mich nach dem Aufwachen partout nicht mehr erinnern, wo ich in Nächten vorher nur gewesen war. Das unheimliche Gefühl, es könnte doch etwas geschehen sein, doch konnte ich mich wirklich nicht erinnern, löste auch augenblicklich Panik aus. Mit Drogen und Tabletten, Alkohol kann man die Panik wieder zudecken. Und das Gefühl darunter, das aus der Kindheit stammt, bleibt im verborgen.

Ahnung, ein vages Gefühl von einem bevorstehenden (unangenehmen) Ereignis ≈ Vorgefühl, Vermutung, eine böse, dunkle, düstere Ahnung; eine Ahnung befällt, überkommt jemanden: Meine Ahnungen haben nicht getrogen (= waren richtig)

(von etwas) eine Ahnung haben etwas wissen (weil man es mitgeteilt bekam od. selbst erlebt hat) od. sich etwas vorstellen können, von etwas nicht die entfernteste, geringste, leiseste, mindeste Ahnung haben: Hast du eine Ahnung, dass er längst tot war?; Habt ihr eine Ahnung, wie der Unfall passiert ist?

(von etwas) eine Ahnung haben in einem bestimmten Bereich Kenntnisse haben, die man durch Lernen erworben hat ≈ sich (in etwas) auskennen, von etwas nicht die geringste, leiseste Ahnung haben: Er hat von Technik absolut keine Ahnung.

Aus: TheFreeDictionary

Ich musste immer nur verderben und entzweien, Streit anfangen und mich zerstreiten. Verkrachen, selbst ahnungslos mich geben und tot stellen.

Vollendet war die Furcht in mir. Befürchtung und Bedrohung, die Menschen könnten alles mit mir tun und sich dann ahnungslos abwenden, unschuldig lächeln und so tun, als wäre nichts gewesen. Sie ließen mich mit dem Gefühl zurück, ich hätte keine Ahnung. Verlust fühlt sich so an. Ein Kind kann gegen diese Art nicht aufbegehren. Ein Kind kann ahnungslos gemacht, Verlust und Schmerz auch nicht verstehen. Es muss zwangsläufig sein Bewusstsein davon abziehen.

Ich musste für was büßen, das für die Eltern unerklärlich schien. Ich musste auch für meine Neugier büßen.

Deswegen musst du doch nicht traurig sein!

Ich sollte mich besiegen lernen.

Wer hat denn jetzt schon wieder Angst. Ich bin gleich wieder da!

Ich sollte keine Angst und keine Ahnung haben. Mir das Gefühl versagen, das mich bei ihrem Anblick später immer wieder packte. Dem Vater ins Gesicht zu schlagen und mich für Mutter tot stellen.

Der Junge freut sich auf zu Hause, und sie versteckt sich dann vor ihm, sagt Vater irgendwann zu meiner Schwester.

Warum hat der den Jungen niemals angerufen, sagt meine Mutter irgendwann zu meiner Schwester.

Es herrschte Ahnungslosigkeit. Da waren sie sich beide, unabhängig voneinander, einig. In vollem Einverständnis über ihr Versagen. Das war ihr Freibrief. Den sie sich selbst ausstellten. Zustimmung, Billigung und Absegnung der Wunden, die für sie unempfindlich blieben. Sie hatte keine Ahnung von mir.

Sie konnte und sie wollte gar nichts von mir wissen.

Sie schrie in mein Gesicht, damit ich endlich still sein sollte. Sie ängstigte mich so zu Tode und fluchte immer weiter. Ich schwieg dann irgendwann, bis obenhin mit Angst erfüllt. Mit ihrer Weißglut heißem Eisen. Sie kühlte ihren Zorn an mir. Ich konnte später nur unter Ängsten apportieren und in der Schule etwas lernen. Sie war in meinem Hinterkopf mit ihrer Wut. Und ich gehorchte immer ängstlich. Das war es also, was ich immer in ihr sah, weswegen ich den Blick vor ihr auch immer etwas senkte. Denn in mir war das Wissen über sie, wie sie zu mir so früh gewesen war. Ein schiefer Blick, ein momentaner Schwindel, Taubheit in meinem kleinen rechten Finger, das Zucken meines rechten Auges, ein Räuspern und ein Husten, ein leichtes Zittern in mir drin. Ich rieb mir meine Finger, Hände, mit einem leichten Seufzer, nickte ich für mich. Denn so verbarg ich später meine Angst vor ihr und meinen ungeheuren Hass und Zorn auf diese Frau, die mich mit ihren Worten, Flüchen und Verwünschungen, so sehr verängstigt hatte, dass ich Jahrzehnte später noch, mich nicht richtig freuen konnte. Weil ich doch immer, ganz egal was auch geschah, ein Unheil kommen sah und ahnungslos darauf auch warten musste. Dass dieses Unheil meine Mutter einmal wirklich und tatsächlich war, das wusste ich nicht mehr. Dass ihre Ahnungslosigkeit in mir die Weißglut weckte. Wenn sie Gespenster sah, wenn sich die Geister ihrer Kindheit meldeten, und sie vollkommen ahnungslos mir ihre Angst mit ihrer blinden Wut zuschob und die Verantwortung über den Schrecken. Ich war für sie der Geist und das Gespenst, der ihre Angst und ihre Wut entfachen konnte. Denn ich war da. Ich war verfügbar für ihren Wahnsinn. Ich war mit ihr allein.

Ich war ihr Geist und auch Gespenst und ich erfüllte diese Rolle. Die Weißglut war versteckt.

Wer kann schon ein Kind gern haben, das unentwegt nur Fragen stellt? Das seine Mutter immer nur so löchert. Man muss nicht immer alles hinterfragen. Man muss auch einmal zuhören und seinen Mund auch halten können. Pass nur schön auf, dass du dir nicht einmal mit deinen Fragen deine Zunge verbrennst, oder an deiner Neugier noch erstickst!

Sie bestrafte meine Neugier immer wieder. Ich wollte etwas neues wissen, und sie bestrafte mich dafür. Sie hielt mir meine Neugier vor. Wie ich das später dann auch machte. Ich bestrafte mich dann selbst, indem ich die Gefühle manipulierte, wenn etwas neues sich auftat, wenn sich was öffnete, wenn jemand in mein Leben trat, dann schloss ich immer gleich die Tür. Denn meine Angst hielt alles neue doch für ausgeschlossen. Sie hatte meine Freude immer nur bestraft, so strafte ich mich auch dafür. Ich hielt mich nicht neugierig aus. Ich musste meine Neugier festbinden und in mir fesseln, so wie sie das von Anfang an getan hatte.

Die Weißglut widersetzt sich dieser Folter, aus Strafe und aus Selbstbestrafung. Die Weißglut gegen die Person, die jede Form von Kommunikation, Kontaktaufnahme, näher kommen, kennenlernen wollen, wünschen, freuen, lieben, traurig sein und wütend werden, immer nur abwürgen hatte müssen. Die bei der Mutter so zerstörerisch gewesen ist, weil sie selbst kleinste Neugier ausradierte, indem sie immer nur: Sei still! Jetzt schlaf, sonst kommt der schwarze Mann, gesagt, dann weggegangen war und mich allein gelassen hatte. Mit dem Gefühl der Angst. Ich schämte mich dann später zu neugierig zu sein.

Die Neugier hatte meiner Mutter Angst gemacht, deshalb bestrafte sie mich augenblicklich dafür, sie schloss das kleine Kind mit seinem Hunger immer wieder ein, das sie so auch einmal gewesen war. Vollkommen ahnungslos dabei, wie grausam sie mir gegenüber war.