Texte von Hugo Rupp

In Wahrheit lieben

Ich füttere mich selbst, mit Regen und mit Vogellauten. Ton, Vogel, Singsang und dem Geruch von nassen Ziegelsteinen.

Ich schäme mich, wenn sie mich einwickelt. Ich schäme mich, nach ihr zu rufen. Ich schäme mich, dass ich sie nicht zu mir bewegen kann.

Ich tue so, als würde ich sie beide lieben. Für mich bedeutet Schuld, dass ich sie nicht liebe.

Ich hasse den Geruch, wenn sie sich schminkt und parfümiert. In seinen Armen muss ich schauen, wohin er will. Er mag, wenn ich mit meinen Augen seinen Blicken folge.

Ich schäme mich, dass ich in seinen Händen zittere. Dass ich erschrecke, wenn er den Mund aufmacht. Ich schäme mich, dass ich am liebsten schlafe, wenn er nach Hause kommt. Wenn er mich sehen will, dann stelle ich mich tot. Ich schäme mich, dass ich mich nicht auf meinen Vater freuen kann. Ich schäme mich, weil ich die Angst vor ihm nicht loswerde.

Ich kann ihm nicht vergeben.

Ich mag die Hand nicht länger halten, die er mir gibt. Ich bin ein böses Kind, das seine Liebe nicht verdient. Ich schäme mich, dass ich ihr Heim nicht liebe. Als wäre ich zu dumm dafür. Als stünde ich mir selbst im Weg. Als wäre alles meine Schuld. Das Unglück und Gewalt, Lieblosigkeit und Einsamkeit. Denn jeder ist doch seines Glückes Schmied. Das sagt er, wenn ich hilflos bin. Wenn du dir hilfst, dann hilft dir Gott, sagt er. Ich schäme mich, dass ich mir selbst nicht einmal helfen kann.

Ich habe keinen Mut.

Ich lege einen Schnuller auf meinen linken großen Zeh. Den anderen aufs rechte Auge. Den dritten habe ich im Mund. Der Mund. Die anderen Orte, an denen sie mich sanft berührt hat; sogar geküsst. Einmal, zweimal, nicht öfters. Stellen, an denen ich Zärtlichkeit erfuhr. Von meinem Vater gibt es an mir keine Stelle für eine Zärtlichkeit.

Lass deine Wut auf ihn nicht an mir aus, sagt sie.

Ich bin ihr Sündenbock für ihre Liebe, Sauberkeit. Nur sauber bin ich auch ihr lieber, braver Junge. Ich rühre sie nicht an. Ich bin ihr Ideal. Ihr Heilsbringer. Der alles heile macht. Ich soll für sie die Kindheit heilen.

Ich bin ihr Heilsbringer und Sündenbock, ihr ideales Opfer.

Ich darf jedoch für ihre Augen, als Opfer nicht erkennbar sein. Ich bin als Sündenbock und Heilsbringer nicht kenntlich. Ich muss für sie und ihren Glauben unsichtbar sein. Darf stumm und blind nur leiden.

Ich bin ein unbekanntes Tier. Ein namenloses Etwas.

Ich bin die Illusion der Eltern. Ihre Verkörperung. Ich muss der Körper für die Illusion meiner Eltern sein, dass Kindheit ohne Schmerzen ist und ohne Leid. Ich muss ohne Schmerzen sein und ohne Leid. Ich bin dafür verfügbar. Ich bin ihr Beweis, indem ich meine Kindheit überlebe und ohne Klagen bin, vollkommen stumm, dass Eltern ihren Kindern niemals wirklich schaden.

Lass deine Wut auf deinen Vater nicht an mir aus! sagt sie.

Ich war ihr Opfer und ihr Schuldiger.

Ein Schuldiger ist einer, der sich schuldig macht.

Vergib uns unsre Schuld und unseren Schuldigern.

Als wäre ich ein Schuldiger. Als hätte ich mich schuldig gemacht. Als würde ich den Eltern etwas schuldig sein und bleiben, solange ich ihnen nicht vergebe. Das soll meine Schuld sein. Dass ich noch nicht vergeben habe. Dass ich meinen Eltern Vergebung schulde und schuldig bin. Dass ich vergeben muss, sonst wird mir nie vergeben.

Solange ich vergeben musste, den wirklich Schuldigen, solange konnte ich nicht fühlen, was ich als Kind doch in mir spürte. Wut gegenüber meinen Schuldigern. Ich fühlte keinerlei Vergebung. Weil nichts in mir und meinem Körper je verstand, wie sich das anfühlt, ohne Schrecken. Die Lehre vom Vergeben müssen, schützt ausschließlich die Täter.

Ich war mit meiner Scham, dass ich mich schämen musste, mit meiner Schuld und Schuldigkeit, ihr Prügelknabe/Sündenbock und Heilsbringer. Ich war, wie jedes Kind, ein ideales Opfer. Ich konnte mich nicht wehren.

Wie Ödipus für Freud. Er durfte sich nicht gegen seinen Schöpfer wehren. Er musste für seinen Vater, Urheber des Komplexes, sein Täter sein und bleiben. Er durfte nie sich unschuldig als Kind beweisen.

Sie kommt mitten in der Nacht und legt sich neben mich, weil ich so huste, wie sie sagt. Ich will sie etwas fragen, doch sie sagt schnell:

Sei still!

und

Pscht!

Ist nichts gewesen!

Sie dreht sich um. Ich höre wie sie schnauft und schnieft. Sie weint ganz leise. Ich rutsche noch im Bett herum und stoße sie leicht an. Doch sie erwidert nichts.

Ich wache auf, wenn sie aufsteht und für den Vater Frühstück zubereitet.

Dein Vater kann das nicht verstehen, sagt sie. Er versteht nicht, dass ich auch einmal meine Ruhe brauche.

Manchmal kommt sie, wenn ich im Schlaf huste. Manchmal nicht. Wenn sie kommt, dann verflucht am nächsten Tag mein Vater meinen Husten.

Hustet der noch immer, sagt er am Abend, wenn ich huste. Musst du den ganzen Tag nur husten!? Du und deine Erkältungen.

Ich starre ihn an.

Was ist? Warum starrst du mich an?

Ich sage nichts.

Starrt mich an!

Ich schaue weg und schnaufe.

Da brauchst du nicht zu schnaufen!

Ich schüttle den Kopf und lächle.

Was ist daran so komisch?

Nichts, sage ich.

Warum grinst du dann so blöd?

Ich sage nichts.

Sag schon! Warum du lachst?

Ich weiß es nicht, sage ich.

Du weißt es nicht, sagt er und lächelt. Dann schüttelt er den Kopf.

Er lächelt immer noch.

Sag! Was ist los mit dir?

Ich sage nichts und lächle wieder.

Was ist so komisch an mir!? Bringe ich dich zum Lachen!

Darf ich nicht mehr lachen, frage ich.

Natürlich darfst du lachen. Habe ich gesagt, du darfst nicht mehr lachen? Ich will nur wissen, warum du lachst, sagt er.

Ich stehe auf.

Du bleibst gefälligst sitzen. Solange bis ich sage, du kannst gehen.

Ich setze mich wieder hin. Mutter spült in der Küche ab. Er beißt auf einen Fingernagel. Wenn er das tut, ist er zufrieden.

Du kannst jetzt in dein Zimmer gehen.

Ich stehe auf und gehe.

Unterstehe dich, die Tür zuzuschlagen, sagt er.

Ich habe mir gewünscht, mein Vater möge einmal traurig sein und auch mal weinen. Die Mutter wünschte ich mir einmal fröhlich und lebendig. Ich wünschte sie mir beide anders. Glücklich und nicht gleich wieder unglücklich. Dass ihre Freude auch anhält und nicht gleich wieder Unglück werden muss. Ich wünschte mir die Mutter ohne Angst und Vater furchtbar ängstlich. Einmal nur, wünschte ich, soll diese Welt sich endlich für mich ändern. Einmal nur einen anderen Vater und eine andere Mutter.

Ich konnte sie nicht ändern.

Ich lächelte wie er.

Wenn du nicht aufhörst mit deinem blöden Grinsen, dann schneide ich es dir eigenhändig aus dem Gesicht. Da wirst du Augen machen.

Ich wische meine Augen, als wäre Staub darin, wenn Vater weg geht.

Du solltest deinen Vater nicht so provozieren. Du weißt, wie schnell er wütend wird. Du weißt doch, wie er ist.

Ich schaue sie nur an.

Er meint es doch nicht so.

Ich schaue sie noch immer an. Sie zuckt ein wenig um die Augen. Dann sagt sie aufgeregt, als hätte ich sie dazu angestachelt: Was du nur immer glaubst! Als würde er dich absichtlich so schlecht behandeln.

Das ist es doch! Das sollte ich nicht merken. Was alle wussten und niemand sich zu sagen traute, aus Angst vor ihm.

Sie zeigte kein Verständnis für mein Gefühl ihr gegenüber. Sie hatte kein Verständnis für mich. Ich durfte meinen Schmerz und meine Wut nicht zeigen. Ich durfte niemandem von meiner Wut erzählen. Von meiner Anteilnahme, Sorge und von meiner Liebe für mich selbst. Ich durfte meinen Zorn nicht zeigen. Das machte mich vollkommen hoffnungslos. Ich schwor mir, nie mehr in ihrer Gegenwart von mir zu sprechen. Denn jedes Mal, wenn ich mich zeigen wollte, mich selbst, mit dem, was in mir war und nur raus wollte, beschämten und beschuldigten sie mich nur.

Meine Gefühle störten ihre Seelenruhe und ihre Gleichgültigkeit. Ich störte ihren Schlaf und ihre Harmonie. Ich störte ihre Vorstellung von meinem Leben.

Natürlich suchte ich dann später, nach Prügelknaben, Sündenböcken, denen ich meine blinde Wut dann zeigte. Ich hatte meine Wahrheit nun geopfert.

Ich opferte die Liebe für mein Leben.

Erst als Erwachsener kann ich die Katastrophe überblicken und verstehen. Was dieses Kind, das ich einst war, andauernd sagen und erzählen möchte. Dass es doch keine Schuld daran selbst hat. Kein Kind hat Schuld an seinem eignen Leben und hat auch keine Schuld an seinem Leiden. Wer einem Kind sein Leben und sein Leiden schuldig macht, beschämt im Grunde seinen Mut, die Fähigkeit, sich selbst zu heilen. Der hindert dieses Kind daran sich zu befreien.

Man kann niemanden lieben, vor dem man sich so fürchtet. Vor dessen Hass man immer auf der Hut sein muss.

Sie nahmen keine Rücksicht auf mich und meine Gefühle.