Texte von Hugo Rupp

Im Spinnennetz

 

Von Dächern springen, sich nicht wehren. Lautlos. Die ohne einen Ton und ohne einen Laut in eine Tiefe springen. Aufprall. Asphalt. Im Fluss, oder in Bäumen, Rosensträuchern, Dornenhecken landen, hängenbleiben. Aufgespießt, mit lächerlich verdrehten Gliedmaßen.

Ist nie beschützt worden. Ist nie geschützt worden. Nie sicher sein. Und nicht mal Angst vor einem stillen Tod.

Angst vor dem lauten Tod. Angst vor der Lautstärke und den Geräuschen. Ist deshalb Nacht?

Angst vor der Lautstärke, Angst vor dem Tod. Tumult in einem selbst. Die Lautstärke, die Schreie der Geburt, die Töne aufbewahrt. Sterben wird niemals leise sein in einem selbst. In einem selbst ist alles Schrei dabei. Der Tod ist leise, nicht das Ableben. Und immer wieder Schrei.

Vorwegnehmen, was nicht geschehen soll. Ungültig machen der Vergangenheit. Des in der Kindheit nicht Ertragbaren. Was ich nicht ändern konnte, sollte ich vergessen. Was ich vergessen wollte, ging nicht weg. Und was ich nicht ertrug, das will ich heute nicht ertragen, wenn ich mir in Gedanken etwas vorsage.

Sich immer wieder fügen und verkriechen und verbiegen, wie sich für seine Eltern therapieren lassen, damit nie Zorn und Wut entsteht.

Jetzt merk ich erst, wie ratlos meine Mutter war und wie sie mir trotzdem noch einen Rat und noch einen und noch einen für mein Benehmen gab. Wie ratlos mich das machte, weil meine Mutter, ratlos wie sie war, mir dennoch Ratschlag noch um Ratschlag gab.

Verschreien der eigenen Unsicherheit.

Wenn Mutter mich angriff. Wie Vater mich angriff, so greife ich dann später auch darauf zurück. Wie ich, unsicher wie ich war, unsichtbar für mich selbst, von meinen Eltern angegriffen worden bin, so greife ich, wenn ich mich angegriffen fühle, die Unsicherheit in mir tatsächlich pausenlos nur wieder an. Unsicher. Nie in Sicherheit. Und nie beschützt.

Traum:

Raus du Penner, sage ich und schlage mit dem Brett nach ihm, dem kleinen Brett.

Hau ab, du blödes Arschloch. Hau du doch ab. Hau ab. Du. Du. Du Penner.

Nur gleichgültige Gesichter.

Sie springen vom Balkon, vom Dach, vom Sprungturm in den See. Sie springen auf die Autobahn. Sie klatschen nicht mal auf. Da ist kein Ton, Kein Hilferuf. Kein Schmerzensschrei.

Der Schrei, das Schreien fehlt. Wie meine Schwester ohne Laut beinah erstickt wäre. Kein Luft holen.

Ein falsches Wort und du bist raus. Ein falscher Ton und du bist raus. Ein falscher Satz und dann ist Schluss. Ein Wort noch und du bist tot. Falsche Bewegung und es kracht.

Sie machten mich so lächerlich, dass ich vergaß, wie ich mich als Kind dabei fühlte. Wie lächerlich ich für die Mutter und den Vater war, wenn ich vor Schmerzen weinte und mich drehte, drehte, wie ein Clown, wie eine Puppe, und angezogen von der Mutter, dass Vater lacht. Ich wurde lächerlich gemacht. Sie lachten über mich.

Die Lächerlichmachung der Sexualität, der Wünsche und Begierden.

Was bildest du dir ein. Das wird doch nichts. Das ist doch nichts für dich. Komm hör jetzt auf. Was willst du denn. Das ist doch lächerlich.

Die Unternehmungen, die Vorschläge, wenn ich mir etwas überlegte, dann später überlegte ich, dass nichts von dem, was ich noch tat, was ich noch überhaupt tun wollte, nur wieder lächerlich sein kann. Niemand sollte sich mehr lustig machen über mich.

Doch wehe jemand machte meine Mutter oder meinen Vater lächerlich. Wehe! Wenn jemand über meine Mutter lachte. Wenn jemand meinen Vater lächerlicher fand als Vaters Opferlämmer. Wenn jemand Vater lächerlicher fand als mich.

Der lächerliche Mann

Fühlte sich angegriffen und lächerlich gemacht, von mir, nur weil ich Zahnarzt zu ihm sagte.

Zahnarzt! Schau, dass du weg kommst. Runter von meiner Hobelbank. Schau, dass du weg kommst. Ein Zahnarzt kommt mir nicht auf meine Bank.

Und was war lächerlicher als mein Schmerz und meine Tränen, meine Not? Gar nichts. Ich kleines Kind, nur lächerlich und unbedeutend und gering.

Wie sie mich fallen ließ, damit ich aufhörte zu schreien. Mit noch mehr Schreck die Angst und Furcht in einem schrecken und stumm machen.

So still sprang ich in meinem Traum von einem Dach auf eine Straße, und hörte von mir keinen Laut. Und gab gar keinen Ton von mir. Ich gab auch in mir keinen Laut. Verängstigt, ohne Laut, verschämt und zugenäht. Auf meinen Mund schlug mir der Vater, und meine Mutter mit der Sprache mein Gehirn. Ich hörte nichts mehr vom Selbstfallen. Der Boden. Kein Geräusch. Kein Beifall, keine Abneigung. Und ich bin still vor Schreck und Angst.

Als Mutter mich verlachte, im Krankenhaus. Ich hielt mich bei ihr ein. Ich hing an ihren Beinen. Ich war auch hier ganz still. Wie lächerlich die Not für meine Mutter war.

Die lächerliche Aufmachung, die immer wieder selbst gemacht. Lächerlichmachung meiner selbst. Das lächerlich gemachte Kind, das seine Eltern nicht belächeln darf.

Das immer wieder auch versuchen. Das Lächerliche loswerden, indem ich lächerlich mich gebe und andere verspotte. Die andern lächerlicher machen.

Das lächerlich gemachte Kind, das sich selbst lächerlicher machen muss. Das sich dann später immer lächerlicher machen muss. Das schließlich alles lachhaft findet, lachhaft machen muss und sich auch über alles lustig macht. Und lächerlich muss so ein Kind dann schließlich alles machen, das sich preisgibt, das einen Fehler zeigt. Das Fehler zeigt. Und Fehler zeigen kann. Das Unbeholfenheit auch zeigt. Wer Unbeholfenheit auch zeigen kann, wird gleich verurteilt und beleidigt sein. Wer etwas macht, was nicht perfekt und autonom nach etwas aussieht, was hermacht, wer etwas tut, wird gleich beleidigt und sein Tun zerhackt. So lächerlich gemacht, wie ich als Kind, machte ich jeden klein und kleiner, wie ein Schwein, wer sich in meinen Augen lächerlicher machte, als alle anderen. Ich machte alles klein und lächerlich, was nicht gleich nichtssagend und unvollkommen war. Dabei war alles mir, was mir erschien, gleich lächerlich und nichtssagend. Ich drehte mich und drehte mich. Im Kreis, im Krieg mit mir und meiner Lächerlichmachung. In mir, ich selbst, der lächerlich Gemachte.

Abwertendes Verhalten.

Kultur der Abwertung, um einstige Verachtung und Abwertung nicht mehr zu fühlen und darauf zu achten, wie schrecklich das doch war. Kultur der Bildung von Abwertung und Lächerlichmachung. Kultur der Abwertung und des sich lächerlich machen. Sich über alles lächerlich machen. Selbst über Tod, Elend und Not und Schmerz. Verlachen von Verzweiflung, Hass und Wut und Zorn.

Verlachten meinen Zorn. Verlachten meine Wut. Verlachten meine Heimatlosigkeit und Bindungslosigkeit. Verlachten mein Exil und die Versuche irgendwo ein Heim zu finden.

Was willst denn Du, Du hast doch nichts. Wer sollte dich schon haben wollen!?

Kultur der Abwertung von Unglück und von Leid. Kultur der Lächerlichmachung von Kleidung und Nahrung, Ernährungsgewohnheiten, Verhalten, Aussehen, Herkunft, Vorlieben, Wünschen, Äußerungsformen, Kunst. Nach Wörtern, Ablehnung. Nach Aussagen, Abwertung und Ablehnung. Lächerlichmachung. Zuerst die Mutter und der Vater, dann Lehrer, Professoren, Lehrlingsherren und Gesellen. Nur immerzu abwertend. Um zu gefallen. Niemals gefallen sein. Niemals ein lächerliches Kind gewesen zu sein.

Nichts kann man davon wieder loswerden.

Jetzt weiß ich auch endlich, was mich als Kind, bevor mich Vater dann das erste mal geschlagen hat, auch immer so erschreckt hatte, das war die Angriffslust, die mir entgegenschlug, die ich nicht einzuordnen wusste, wie ich was spürte, was nicht kam. Was da war, aber nicht zum Vorschein kam. Was spürbar war und noch nicht hörbar wie ein Ton, den man erwartet, wenn was fällt. Wie ein Geräusch, das da ist, aber unhörbar. Und unerhört. Gewalt, zurückgehalten war. Das war mein Vater und der andere, der mich auf seiner Hobelbank solange sitzen ließ, solange ich ihn anhimmelte. Solange ich brav war. Männliche Gewalt war also auch so früh schon bei mir. In der Nähe. Das Lächeln und das Witze machen. Das alles nur solange ich brav war. Solange ich nichts Gegenteiliges vermeldete. Solange ich brav war. Gewalt war also, was mich so abschreckte. Was mich wie nichts klein machte und so brav, dass ich nichts mehr an Zorn und Wut aus mir hervorbrachte. Gewalt in diesen Männeraugen und in gebückter Haltung vor mir. Wie er und Vater mich anschauten, als wüsste ich genau, was mir bei einer Widerrede blühen würde.

Und immer wenn ich jemand sah, der auch so blickte und so war, dann flog in mir was auf und wollte augenblicklich raus.

Ich wünschte doch es wäre Nacht und niemand würde meine Seele finden. Ich könnte mich auch selbst dann nicht empfinden. Wie das doch damals war, als mir mein eigner Atem furchtbar war. Dass ich nicht länger atmen wollte.

Wovor ich fliehen wollte war: Wie viel doch an Gewalt in einem steckt und so verhalten schlägt und klopft und immer dann zum Vorschein über Augen dann nach draußen kam und, wehe du bist jetzt nicht still und brav.

Was unterdrückt, unsichtbar war in meinem Vater und dem Gesellen, der mich von seiner Hobelbank verwies. Die Lächerlichmachung des jung gebliebenen Schmerzes. Was ich in ihren Augen damals sah und was ich nicht verstand, das war der Hass auf alles. Was ich kindlich und spontan als Angst vor der Gewalt in ihren Augen äußerte. Als ich vor Schreck zusammenschrak und nicht mehr atmen konnte und bleich wurde, da lachten der Geselle und mein Vater nur. Dabei war ich auf die Gewalt gestoßen, die sie mir gegenüber stets lächerlich und lächerlicher machten. Ich sollte mich doch nicht vor meinem Vater und dem Anderen fürchten. Ich sollte keine Angst vor diesen Männern haben.

Das ist doch lächerlich.

Wut sollte weg. Und Zorn ganz nah, sollte nur meinem Vater und der Mutter und dem Gesellen vorbehalten sein. Nur Zutritt für Erwachsene. Gewalt, die sich so gut hinter dem Zorn und unterdrückter Wut verstecken kann. Wie Abwertung hinter dem lächerlich Gemachten.

Wie lächerlich doch das Verhalten meines Vaters war. Wie er Macht demonstrierte und sie aufführte. Wie Vater schrie, herum schrie in der Werkstatt, auf der Straße, und Zuhause. Wie theatralisch er sich doch gerierte. Wie ich erschrak, nur weil sein Hemd nicht richtig passte, oder die Mutter ihm die Socken für den Sonntagsstaat nicht richtig hingelegt hatte, wie er sich deswegen so aufführte. Vom Zorn verbrannt. Der lächerlich gemachte Vater, der seine Art von Lächerlichmachung sich nicht mehr abgewöhnen kann. Der nicht im Traum auf den Gedanken kam, dass er der lächerliche Mensch hier war, und nicht wir Zuseher, die Untertanen seiner Darbietung. Wir hatten alle Angst vor ihm, vor diesem lächerlichen Mann. So sehr, dass ich im Traum Jahrzehnte später lieber von Dächern sprang und in die Nacht und in ein Nichts, als ihm von Angesicht zu Angesicht nur lächelnd zu begegnen; diesem unglaublich wehleidigen und lächerlichen Wesen.

Wie Vater und auch sein Geselle für mich war. Als ich so klein und so verletzlich war. Nicht ich war lächerlich in meinem Schmerz und meiner Not, es war mein Vater, der sich vor mir nur wieder lächerlicher machte. Vor mir konnte er sich aufführen, als würde ihm die Welt gehören. Ich glaubte ihm, dem Herrscher und Bewahrer meines Universums. Der Traum von einem tausend Jahre alten Reich. Wie lächerlich doch das Gehabe meines Führers, meines Vaters war, und ich nichts davon wirklich sehen konnte, solange meine Angst als Kind vor ihm in mir verborgen war, abhängig von der Lächerlichmachung durch meinen Vater. Der alles von mir lächerlich gemacht hatte, und wehe ich erschrak. Mein Vater war von meiner Angst so angezogen, angetan, denn so bezwang er seine eigne Angst andauernd vor mir immer wieder.

Wie lächerlich die Angst auch für ihn war. Wie lächerlich und abgehoben. Und sie erschien mir selbst auch so. Als hätte ich und meine Angst nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Doch mit der kindlichen, mit meiner Kindheitswirklichkeit, so wie ich sie erfahren hatte, war sie identisch. Für meine Eltern aber nur ein Hohn.

Sie machten mich und die Gewalt so lächerlich, dass ich ihr schamlos sein gar nicht bemerkte. Mir blieb die größte Angst niemals erspart, dass die Gewalt nie enden würde. Und ich bin ewig mit ihr ausgestellt. Und dieses endlos immerzu nur ausgestellt und schutzlos sein müssen, zerstörte meine Scham. Den Schutz des Kindes für Empfindungen. Dass ich unwürdig sei für die Gefühle und die Liebe und die Anteilnahme. Dass ich unwürdig sei, weil niemand meine Scham bemerkte. Dass ich unwürdig sei und schamlos für die Mutter und den Vater und den Anderen. Dass ich nur schamlos sei, und niemand sonst, das brachten sie mir bei.

Ja spinnst leicht, siehst Du jetzt Gespenster!?

Ich sah auch unter dem Klodeckel nach, ob sich dort wer versteckt hatte. Ich sah weder Gespenster, noch Quälgeister, noch hörte oder sah ich meinen oder einen anderen Schutzengel.

Was mich so quälte, war die unterdrückte Wut und unterdrückter Hass und unterdrückter Zorn auf die Zurschaustellung, die Ausstellung und Vorführung des Leids, vollkommen ohne Trost. Was mich so quälte waren keine Geister. Mich quälte unterdrückter Zorn gegen den Vater und die Mutter und den Gesellen. Mich unterdrückte dieser unterdrückte Zorn schließlich dermaßen, dass ich Quälgeister in mir sah, die eigentlich mein Vater und die Mutter und der Geselle und andere in Wirklichkeit doch waren. Ich trat so leise und so unscheinbar als Kind in allem auf, damit mich niemand mehr als Quälgeist sah; und dass ich selbst in mir die Geister nicht mehr wecken und aufschrecken würde.

Es gab niemand, den ich zum Schutz für mich anrufen hätte können. Kein Schutzgeist und kein Schutz war für mich da. Ich suchte, aber kannte keinen Namen, mir fiel auch keiner ein. In Not versuchte ich mir Namen vorzusagen, aufzuzählen, wer mir noch vielleicht helfen könnte; oder weinen. Für mich, weinte niemand. Niemand, ich auch nicht mehr. Mir fielen nicht mal Geister ein, die mir zu Hilfe hätten kommen können.

Die Sachen des Ertrunkenen Jungen. Die kurze Hose und ein Hemd. Sandalen und die Socken und seine Unterhose, am Boden auf dem Gras. Fein säuberlich, schön brav gefaltet und gehäuft. So dass die Mutter nichts zu schimpfen hatte. Kein Quälgeist, der die Eltern ärgern kann. Niemand sah zu, als dieser Junge, der nicht schwimmen konnte, ausrutschte und ins tiefe Wasser glitt und untertauchte und ertrank; kein Schutzengel. Nur Quälgeister, die in mir tobten, hinter dem Zaun, von dem ich aus, auf den toten Jungen und seine Hinterlassenschaft und seinen Freund schaute.

Wer brav ist, hat auch einen Schutzengel. Wer brav ist und gescheit. Wer brav ist, fleißig, ordentlich, der kriegt auch einen Schutzengel. Wer sich benimmt, schön danke sagt, wenn man ihm etwas reicht, wer seinen Mund auch einmal hält, wenn ihn auch etwas quält, der muss sich keinerlei Gedanken machen, dass ihn in Not niemand die Hände reicht. So sinngemäß redeten meine Eltern. Der Vater hatte für die Worte meiner Mutter immer dann ein Lächeln übrig, wenn es den Zorn und meine Wut betraf. Und ich vertraute ihr und glaubte ihr. Der Schutzengel für jedes Kind musste verdient werden. Ohne Bestrafung und Bezahlung und Ermahnung gab es nichts. Kein schönes Wort und keine schönen Augen. Alles ist käuflich und erhältlich, nur musste ich dafür was tun. Mich anständig nur aufführen und niemals wieder wütend werden. Nur wer brav ist, bekommt auch einen Schutzengel und wer so böse ist als Kind und dauernd schreit, ist ein Quälgeist. Und Schutzengel, die mögen keine Quälgeister.

Die Hirngespinste meiner Mutter waren für mich ganz real, denn danach richtete sie ihre Strafen und ihr Tun. Wie sie mich auch behandelte, für sie war das vollkommen klar. Doch ein Gedanke unter allen Hirngespinsten, beherrschte wie ein Oberhaupt ihr ganzes Denken. Nie wütend, unter keinen Umständen, sollte ein Kind auf seine Mutter sein. Unter gar keinen Umständen, denn Wut auf eine Mutter, das würde keine Mutter dulden können. Mein Kind darf niemals auf mich wütend sein. Quälgeister sind von Grund auf böse. Quälgeister sind für eine frischgewordene Mutter reine Pein, ein Ausgeburt der Hölle. Schutzengel fallen niemals auf einen Quälgeist rein. Schutzengel mögen keine Quälgeister.

Jetzt merke ich das erste Mal, dass ich nicht schamlos war als Kind. Dass ich das alles nicht verdient hatte; Gewalt, Zurschaustellung, Anklagen, Lächerlichmachung, Strafen. Dass ich das auch gar nicht bewirkt und ausgelöst hatte. Dass ich das gar nicht war.

Ich habe sie nicht jede Nacht geweckt und ihr den Schlaf geraubt. Ich habe sie nicht jedes Mal erschreckt, wenn sie zusammenzuckte und die Augen aufriss. Als wäre ich die Dunkelheit, und sie mein Licht. Als wäre ich das Böse und ihr Geist, der Quälgeist der den Schutzengel vertriebe. Ich habe ihr nicht Angst gemacht. Sie hatte ohne mich genügend eigne Angst und schreckte doch bei allem hoch und floh den Schlaf dann später jede Nacht. Ich war kein Quälgeist, wie sie später immer wieder meinte und anmerkte. Ich tanzte nicht auf ihrer Nase rum. Das war ihr Wahn, die Hirngespinste, die sie tanzen ließ und nichts dagegen unternahm. Sie hatte eine Wahl.

Jetzt weiß ich endlich auch, warum ich immer meinen Nächsten, die mir am nächsten waren, und mir nahe kamen, und nah standen, weh tat. Warum ich ausgerechnet den mir nächsten Menschen, den mir Nahestehenden weh tat. Das hatte ich gelernt. Das oberste Prinzip der Täter-Opfer Bindung; Vater-Mutter-Kind. Ich war als Kind verfügbar. Ich war der nächst Verfügbare für unterdrückten Zorn und unterdrückte Wut Ausbrüche meiner Mutter und des Vaters. Ich war das bestverfügbare, weil ich das nächste, das immer naheliegendste Opfer war. Wie eingesponnen lag ich da. Wie ein Haustier, die Puppe, die man quält, den Stoff in den man beißt, das Glas, den Aschenbecher, den man schmeißt. Mit mir, dem Kind konnten sie machen, was sie wollten, weil ich der immer Naheliegendste bei ihnen schließlich war.