Texte von Hugo Rupp

Gerechtigkeit

 

Ich habe niemals nein gesagt zu ihm, egal was er tat, egal was er sagte, egal wie er auch schimpfte und über alles und jeden her zog. Egal was er auch sagte, ich konnte nicht nein sagen. Ich konnte nur zu mir nein sagen, zu meinen Wünschen, aber nicht zu Vaters Worten. Ich konnte nur nein zu dem sagen, was ich sagen wollte oder nein zu dem, was ich mir vorgenommen hatte und nein zu dem, was ich in Gedanken vorhatte und eigentlich tun oder sagen wollte, aber dann doch nicht tat. Ich konnte nur nein zu mir selbst sagen. Was mich enttäuschte und entmutigte, weil ich mir doch immer wieder vornahm und auch dachte, ich könnte vielleicht etwas tun, dass Vater wenigstens aufhören würde zu schimpfen oder mich auszulachen. Ich konnte nur nein zu mir sagen. Immer nur nein zu mir.

Wenn du nur jammern kannst, dann kann ich dir nicht helfen. Schau dir nur diesen Jungen an. Siehst du den Unterschied!? Er jammert nicht fortwährend. Er jammert nicht gleich, wenn ihn etwas drückt. Er jammert nicht, wenn ihn vielleicht auch mal was zwickt. Man muss auch mal in einen sauren Apfel beißen. Man muss auch das erfahren können, was Schweiß und Tränen sind. Nicht immer gleich zu jammern, wenn uns was drückt. Das ist doch nur ein Stein, der dich hier drückt. Du bildest dir nur ein, dass du nicht länger laufen kannst. Du könntest schon. Du willst nur nicht. Du willst nur nicht mehr laufen. Du willst nicht länger laufen. Das hat auch nichts mit mir zu tun. Du willst dich einfach nicht mehr anstrengen. Du willst nicht länger üben. Dabei ist Üben alles. Wer sich nicht schinden kann, wird nie ein guter Sportler. Wer sich nicht schinden will, der wird es nie zu etwas bringen.

Da kannst du schauen wie du willst. Wenn du die Flinte immer so schnell ins Korn wirfst, wird nie was aus dir werden.

Ich will doch laufen wie der Wind und schneller sein wie jeder andere. Dann wird er mich auch loben. Das ist, was ich mir immer wünsche, dass er mich lobt und mich anschaut.

Niemals darfst du dich von einem Schmerz besiegen lassen. Begreifst du einmal, dass auch der größte Schmerz vorübergeht, hast du schon fast gewonnen. Dann kommt der Rest von ganz allein. Du musst dich nur mehr anstrengen. Du musst dich überwinden. Der Schmerz geht dann vorbei. Beiß einfach fest genug auf deine Zähne! Wenn dir schlecht wird, oder schwindlig, dann setz dich hin und atme ruhig weiter. Wenn du tust, was ich dir sage, dann wird sich dein Körper von selbst daran gewöhnen. Das dauert und braucht Zeit. Und das erfordert Training. Kein Meister fällt vom Himmel.

Glaubst du, ich hätte auch nur einen Tag im Krieg überlebt, wenn ich so zart besaitet gewesen wäre? Glaubst du, ich hätte überlebt, wenn ich bei jedem Toten mitgezählt hätte? Glaubst du etwa, das hat mich nicht beschäftigt? Nur habe ich mir das nicht anmerken lassen. Ich habe für unsere Kompanie die Telegramme für die Hinterbliebenen geschrieben. Glaubst du, mir hat das gefallen.

Ich weine, ohne dass mein Vater das bemerkt. Er schaut zu diesem Jungen hin, der ohne Rast und Pause übt. Am liebsten würde ich davon laufen. So weit wie irgend möglich. Am liebsten würde ich laut schreien. Am liebsten würde ich ihn anschreien. Am liebsten würde ich ihn anschreien und immer wieder, wieder schreien. Stattdessen schäme ich mich und werde furchtbar wütend. Ich schäme mich von Mal zu Mal. Von Schmerz zu Schmerz, nach jeder neuen Wunde. Ich schäme mich und werde dabei immer böser.

Schäm dich!

Ich ging etwas gebückt und fiel bei jedem Schritt ein klein wenig nach unten. Als wäre eine Seite von mir länger und eine andere gebogen. Als wäre ich gekrümmt und schief, als wäre ich gebrochen.

Musst du dich immer gleich beschweren?

Kannst du nicht einmal etwas stumm ertragen!?

Du bist unendlich wehleidig!

Mein Vater durfte jammern. Bei ihm war das erlaubt. Ich war hingegen wehleidig für meine Eltern.

Ein Ritual

Mein Vater reibt sich jeden Tag den Rücken ein. Er hebt ein Bein und stellt es auf den Stuhl. Dann rollt er sich mit einem Rollstift über seine nackte Haut, die wehe Stelle, wo unsichtbar ein Schmerz darunter liegt. Mein Vater ist der Leidende, den ich beachten soll. Er sagt dazu kein Wort. Er macht das stille Leiden, er macht gar keine Äußerung dazu, er leidet unsichtbar und im Geheimen. Er lässt sich nichts anmerken. Ich schau ihm zu und muss für ihn wehleidig sein. Solange bis ich bin wie er, bis ich mein Leiden so ertragen kann, wie Vater mich das immer wieder lehrt.

Jetzt fühle ich, was ich als Kind niemals zu fühlen wagte. Die große Ungerechtigkeit. Dass mich mein Vater erst ertragen kann, wenn ich so leide wie er selbst. Dass er mich erst ertragen will, wenn ich mich für ihn ändere. Wenn ich mein Leiden, meine Schmerzen für ihn ändere. Wenn ich so bin wie er, wenn ich so leide, wie er das gerne hätte. Wenn ich nicht leide. Jetzt sehe ich die niemals ausgesprochene Forderung, dass ich mein Leid ihm anpassen soll, wie er das will, bis er das selbst ertragen kann. Er mutet mir das zu. Ich darf vor ihm nicht Schmerzen haben, sonst dreht er sich und schaut woanders hin. Ich darf vor ihm nicht Schmerzen haben, weil er das nicht ertragen kann.

Was tust du denn so scheinheilig?

Mein Vater ließ sich nicht erweichen. Ich dachte immer, das wäre meine Schuld und mein Versagen, dass ich ihm nicht begreifbar machen konnte, dass ich mich nicht verständlich machen konnte.

Aber was rede ich denn überhaupt, du bist noch viel zu jung um überhaupt etwas von dem, was ich hier sage, zu begreifen. Vielleicht verstehst du mich mal später.

Es war egal, was ich ihm sagen wollte. Egal was ich ihm überhaupt bedeutete. Ich konnte überhaupt nicht nein sagen, ihm war mein JA, mein Mitgefühl für ihn ja schon egal. Ihm war egal, wie ich mich fühlte. Er war sich darin sicher, dass ich als Kind noch keine Möglichkeit besaß, etwas von mir zu fühlen. Er sprach mir jede Fähigkeit für eigenes Empfinden ab und lehrte mich gehorsam fühlen. Es war für mich vollkommen gleichgültig, ob ich JA oder NEIN sagte, er würde mich dabei nicht hören. Er wollte Amen, nichts anderes, nur meinen Segen für sich hören. Mein Vater ließ sich gar nicht lieben. Und ich empfand mich immer dann als Schuldiger, wenn ich ihn nicht so liebte, wie er es immer von mir wollte. Als wäre ich ein ungerechtes Kind, als wäre in mir Ungerechtigkeit. Ich fand es schrecklich so zu sein, so ungerecht, wie sie mich immer darstellten, dass ich ihn scheinbar nicht gebührend lieben wollte. Als wäre Ungerechtigkeit in mir. Ich konnte mich niemals dagegen wehren, weil ich das nie verstand, was ich erst heute so verstehe, dass ich nicht schuldig bin, wenn Vater mich nicht liebt. Dass ich nicht schuldig bin, wenn ich ihn nicht mehr lieben kann.