Texte von Hugo Rupp

Genauigkeit

 

Rhoda würde diejenige sein, die zur Tür hereinkam und das hier vorfand. Das wusste Irene jetzt. Sie wusste nicht, wieso ihr das nicht vorher klar geworden war. Sie fühlte sich ausgetrickst. Sie tat Rhoda genau das an, was man ihr angetan hatte. Ein kalter Tag, bedeckt, genau wie dieser, ihre Mutter, die von einem Dachsparren hing, im Sonntagsstaat, beige und cremeweiß mit Spitze, ein Kleid, das von weit her aus Vancouver kam, Irene erinnerte sich jetzt daran, weiße Strümpfe, braune Schuhe. Aber das Gesicht ihrer Mutter, die Furchen in ihrem Gesicht, ihre Traurigkeit, der abartig gedehnte Hals. All das konnte nie ausgesprochen werden. Irene wusste jetzt, dass es nicht schnell gegangen sein konnte, dass ihre Mutter gewusst haben musste, was sie da tat. Genügend Zeit, um zu erkennen, was sie ihrer Tochter antat.

Aus: Die Unermesslichkeit, David Vann

Die Angst vor einer toten Mutter, die selbst gar nichts von Angst begreift. Aus Angst vor ihrer toten Mutter, macht sie ein Spiel.

Der Vater links, ich in der Mitte, und die Mutter rechts. Die Angst an meiner linken Seite. Jetzt spüre ich sie klar und deutlich. Die Furcht des Vaters, des Sohns vor seiner Mutter. Wir gingen zu der bösen Oma, zu Vaters Mutter, zum Geburtstag. Die Oma, die ich nicht mal riechen mochte. Die ältere Schwester meiner Oma, die ich immer Oma nannte. Die Tante meines Vaters. Die auch mein Vater mochte, weil sie ihn auch einmal beschützt hatte. Weil sie die böse Mutter angegangen war. Wir hatten alle Angst vor ihr. Wie sie dort saß und alle nur beäugte, als wären wir Verbrecher. Mein Vater saß links neben mir. Das ist die Seite, die unruhig wird, die Seite die den Aufruhr aufzeichnet. Seite an Seite mit dem Vater. Mein Mann zittert leise vor sich hin. Jetzt weiß ich wieder, wie das war, dass er nicht reden wollte. Er sitzt nur da, wie alle anderen. Warum mein Vater auch still war. Sie hatten alle Angst vor seiner Mutter. Die Furcht lief unaufhörlich über mein Gesicht, als würde mein Gesicht Ameisen anziehen. Ich war das kleinste Kind. Ich war hier als ihr jüngster Enkel. Sie mochte mich gar nicht. Sie mochte meine Mutter nicht. Sie mochte meinen Vater nicht. Sie mochte ihren zweiten Sohn, Stiefbruder meines Vaters. Der Vater meines Vaters starb im Krieg, da war mein Vater Zweieinhalb. Erschreckend ist, dass das mein Alter war, an dem er mich dann erstmals schlug. Sie hatten alle Angst vor ihr. Auch meine gute Oma.

Sie hatten alle Angst vor ihrer Mutter.

Warum ich das hier schreibe. Weil niemand das bemerkt hatte. Weil niemand je darüber sprach. Die Mutter hatte Angst vor Vaters Mutter. Die Mutter hatte Angst und sagte nichts. Sie wusste davon auch nichts weiter. Sie wusste nichts von ihrer Angst.

Wie später meine Oma, als sie tot krank dann wurde, da sah ich ihre Angst, wie sie bei jeder Berührung ihres wehen Arms zusammenzuckte; wie die Mutter. Wie meine Mutter immer früher. Genauso zuckte sie, bei jedem leisen Ton. Sie hatten alle Angst in sich gespeichert, gleich neben dem Jähzorn.

Ich dachte, ich wäre dafür verantwortlich, als kleines Kind und dann noch später. Dass ich für Mutters Angst verantwortlich gewesen sei, dafür, dass sie mich furchtbar ängstigte.

Sie hatten alle diese Augen, wie Mutter später immer wieder, wenn sie dann lachte über meine Angst. An diesem Sonntag vor über fünfzig Jahren. Sie lächelten, doch voller Angst. Sie schauten alle unehrlich. Halbseitig. Auf einer Seite fahl, die andere belustigt. Sie hatten alle Angst und wussten davon gar nichts. Sie schauten alle zweigeteilt. Deshalb verstand auch keiner, was ich hatte. Ich war nicht zweigeteilt. Ich sorgte mich nach allen Seiten. Jetzt weiß ich wieder, was ich sah. Ich sehe Angst auf einer Seite, und andererseits den Spaß. Sie lachen und sie trinken. Sie lächeln, machen Späße, dann reicht mir jemand auch ein Glas, nach dem ich immer wieder greife.

Lasst ihn doch trinken, wenn er will, sagt meine böse Oma.

Ich will, was meine Eltern und die andern trinken, auch probieren.

Sie lassen mich den Wein probieren. Dann später wird mir schwindlig und ich taumle. Ich stolpere, dann fängt mich jemand auf. Dann sitze ich und meine Augen drehen sich, dann schlafe ich an einer Schulter ein, wahrscheinlich der des Vaters. Dann wache ich auch wieder auf und mir ist schlecht. Dann breche ich, wir gehen heim. Das war der zweiundsiebzigste Geburtstag meiner bösen Oma. Der Taumel, Schwindel, das Entsetzen und die Wahrheit in den Beinen. So wackelig sind meine Beine noch nach mehr als fünfzig Jahren, wenn mein Gehirn sich an den Schwindel und die Lügen so erinnert, und an die Angst. Als ich nicht wusste, wo ich war, wie ich nach Hause kam, wie ich die Treppen doch hinauf geschleppt wurde. Mutter hat sich geärgert.

Wie kannst du das nur zulassen, sagt sie.

Das bisschen Alkohol, sagt er.

Das bisschen, siehst du jetzt. Oder!?

Das war doch ganz harmlos.

Du konntest ihr nicht nein sagen.

Ich will davon nichts hören.

Woher kam diese Angst? Das konnte ich als Kind nicht fragen und nicht hören.

Die Mutter meiner Mutter war ein Totenfloß. Ein schwarzes Kleid, bleiches Gesicht, nach unten hängend und entsetzlich einsam. Nur einmal habe ich die Frau gesehen und bin erschrocken von der Hand, die mir die Haare glatt strich, zweimal, dreimal. Mit blauen dicken Adern und weiß, Madonnenhaut, wie Plastik oder Wachs. Wie die Figuren in den Kirchen. Gequälter Ausdruck im Gesicht, die Augen nicht lebendig. Sie hielt mich einen Kuss lang fest, dann ging sie wieder.

Die Mutter hatte Angst. Das habe ich als Kind niemals verstanden.

Ich hatte Angst um meine Mutter. Ich war wie eine Fläche und mein Gesicht, ein See, in den sie unaufhörlich ihre Angst einspeisen konnte. Sie gab mir ihre Angst. Ich hatte keine Ahnung, dass meine Mutter das nicht spüren und nicht fühlen konnte.

Dass niemand was davon erfahren würde, wie wir in Schweiß gebadet wurden, von unseren eignen Müttern. Sie legten uns in Angst und schweißgebadet in der Kälte ab.

Hass im Gesicht, die Augen meiner Mutter.

Ich wünschte, du würdest mir nicht zeigen, wie sehr du mich doch hasst, sagt sie Jahrzehnte zu mir später.

Sie fragte nicht warum.

Sie fürchtet meine Wut und meinen Zorn. Dann lächelt sie. Was ich nicht sah, was ich als kleines Kind nie sehen hatte können, war ihre Angst, die sie tatsächlich bei sich hatte und immer mit sich trug. Niemals gab sie davon was zu. Niemals gab meine Mutter etwas Preis, was ihre Angst betreffen hätte können. Sie zuckte und erschrak, doch darauf angesprochen, sagt sie, da ist nichts, nichts gewesen, schon vorbei. Das erste Mal realisiere ich, dass sie tatsächlich, wenn sie mit sich sprach, dieselben Worte wählte, wie wenn sie mit mir sprach. Sie sprach mit sich, wie auch mit mir, genauso distanziert und abweisend. Sie war zu sich genauso kalt. In ihrer Muttersprache, mit der der eignen Mutter wohl identisch. Sie gab die Angst nie zu. Aus Angst vor ihrer Wut.

Ich sah nur immer meine Angst. Ich habe das als Kind niemals erlebt, dass meine Mutter ohne Angst verschwand. Dass sie mich einmal nur, nicht ängstlich anfasste, berührte oder wieder weglegte. Dass sie mir einmal nur, nicht Angst machte. Deswegen blieb die Angst in mir, als Ursache und Wirkung gleichermaßen. Die Angst, als etwas scheinbar Unabwendbares. Als eine Art Naturgesetz, als müsste jedes Kind vor seiner Wut und seinem Zorn erschaudern und erzittern müssen.

Angstmacherei. Die Angst der Mutter vor der eignen Mutter. Wir hatten alle Angst. Alle an diesem Sonntag. Deswegen wurde niemand zornig oder wütend. Sie alle hatten Angst und Mitleid mit der alten Mutter meines Vaters. Es war doch schließlich Ehrentag, für diese zweifache Witwe. Und dass mein Vater von seinem Stiefvater geschlagen und drangsaliert worden war, war auch kein Thema, nie gewesen. Heut war Geburtstag einer Mutter. Man kann nicht über alles reden. Es muss doch schließlich einmal Schluss sein dürfen.

Nur Zorn und Wut macht mit der Lüge Schluss, dass Angst, Gewalt und Misstrauen, die Furcht vor dem Erleben und Erlebten, nicht aufzudecken sind. Nur so kann sich ein Kind befreien, von jenem Grauen, dem Gefühl, zuständig und verantwortlich zu sein, ein Leben lang und fest verbunden mit dem Unglück einer Mutter, die darüber nur Witze machen kann und nichts, weder für sich, noch für ihr Kind empfinden. Die Angst in mir war immer auch ein Echo. Verschwindet das Symptom, erscheint das Original, ursprüngliches Gefühl, das sich kein Kind als Kind so merken kann. Wie übel mir von meinen Eltern und in Gesellschaft dieser Menschen war, wie über mir von dieser Oma wurde. Wie übel meine Eltern für mich waren.

Sei vorsichtig, was Du jetzt sagst!

Sie machten mir andauernd Angst. Wie Vater mit den Zähnen mahlte, wenn er mit meiner Mutter sprach. Wie er vor allen Worten, in Richtung seiner Mutter, gleich zurückschreckte. Wie meine Tante auch. Wie Onkel Martin immer nur klein beigab und nie ein Wort in der Gesellschaft dieser Menschen wagte. Die Angst vor ihren Eltern, die konnte ich als Kind so nicht begreifen. Doch was ich immer hörte, und was sie mir vorhielten, was sie bei jedem Streit, bei jeder Auseinandersetzung mir vorspielten und vorspiegelten, wenn sie mir drohten, noch und noch, mit Untergang, der Pest, etc., etc….

Hab keine Wut! Du sollst nicht wütend werden! Werde nur ja nicht zornig.

Sie machten mir andauernd Angst vor meinem Zorn und meiner Wut auf sie. Das machten sie doch selbst andauernd; lebten, lebten das andauernd vor. Die Angst vor dem gefürchteten Gefühl, dem Zorn auf seine Eltern. Sie produzierten in mir Angst. Ihr Echo auf die Angst vor ihren Eltern und ganz besonders vor der Wut und ihrem Zorn auf sie. Nur immer wieder produziert, reproduziert, zum Angedenken ihrer Eltern, zur Demut auffordernd, dem Denkmal huldigend, Gebot, dem Wort des Gottes und des Vaters blind gehorchend, taub für ein eigenes Gefühl. Zum Schutz gegen die Taten und Verbrechen an ihren unschuldigen Kindern.

Ich würde jetzt vorsichtig sein.

Pass auf, dass der Schuss nicht nach hinten losgeht, sagt er.

Nach hinten losgehen. Ins eigne Fleisch schneiden.

Sie lebten Angst vor Wut und Zorn auf ihre Eltern vor. Die Echos ihrer Kindheit, und der schon ihrer Eltern. Die Echos der Gewalt. Der Unterdrückung ihrer Kinderwut und ihres Kinderzorns für die Verbrechen ihrer Eltern. Die Echos auf die Panik, Ohnmachtsgefühle ihrer Kindheit, als sie die Wut, den Zorn verleugnen und unterdrücken hatten müssen. Die Echos ihrer Angst. Was ihre Eltern schon gefürchtet hatten. Den Zorn, die nie gefühlte Wut des Kindes auf die Eltern.

Ich wiederhole und wiederhole, wie sich die Eltern wiederholt hatten.

Ein Echo auf die Angst. Aus Angst vor ihrer Wut, in der Gesellschaft meiner Eltern. Die Angst vor ihrer Wut. Sie produzierten Angst vor ihrer Wut, vor mir, um ihren Zorn nicht aufzuwecken und zu fühlen, und wussten nichts davon. Ich sah es an den Mündern. Wie sie sich in die Lippen bissen und daran saugten, wenn sie mit ihren Fingern spielten, nachdem die böse Oma etwas gesagt hatte. Ich sah und konnte es auch riechen, die Angst, die immer dann zu spüren war, wenn sie was sagen wollten, es dann verschluckten und es sich verkniffen.

So ging der Schuss nach hinten los. Aus Angst vor der Bestrafung. Doch waren sie gar keine Kinder mehr. Sie waren meine Eltern und damals doch unendlich älter. Ich hörte und ich sah die Botschaft meiner Eltern überall, in jeder Kirche, Religion, im Kindergarten, meiner Schule und überall auch außerhalb. Das scheinbar unausrottbare, die Angst des ehemaligen kleinen Kindes vor seinem Zorn. Höhere Wesen, die nur aus einem Grund erhöht auch bleiben konnten, weil niemand seine Angst verstehen wollte und seine unterdrückte Wut und seinen Zorn, als Ausdruck eines Wissens, was für ein Kind gut ist, kann niemals für ein Kind schlecht werden. Gefühlte Wut, gefühlter Zorn kann niemals zur Gewalt an sich und anderen verführen. Er richtet sich ja gegen alles Schmerzhafte, Verbrecherische, Unterdrückende und Unterdrückte. Was einem Kind aus seiner Not heraus hilft, was es befreit und was die Freude öffnen kann, die guten Lebensgeister wecken, kann niemals schlecht und schlechter werden.

Die Feigheit meiner Eltern sehe ich, ich spüre, wie sie mir damit noch näher kommen. Mit ihrer Feigheit vor der Mutter und dem toten Vater. Wie sie mir ihre Feigheit anlegten, wie einen Schutzmantel. So sollte ich das wahrnehmen, als wäre Feigheit doch nur Schutz. Das also weckte mein Mitleid, dann immer mit den Eltern, dass sie auch Schwäche zeigen konnten. Doch nie für sich. Nur immer für die anderen. Die Schwäche eines anderen ausnützen. Sie nahmen mich auch dafür her. Sie gaben mir den Wein, um jene Bösartigkeit der Mutter meines Vaters zu besänftigen und zu schützen, vor der sie sich doch fürchten mussten. Die Angst ein nichts zu sein. Die Angst davor, nur wieder nichts zu sein, nur wieder nichts zu werden, im Angesicht der Mutter. Die ließ den Vater mich dann opfern.

Zu klein zu sein, um sich zu helfen, denke ich. Als gäbe es dafür auch eine Größe. Wie groß muss man denn sein, um für sich einzutreten. Wie groß muss denn ein Kind tatsächlich sein, um sich zu helfen? Wer diese Frage stellt, dem ging es so wie mir. Wenn ich mal groß bin, werde ich nein sagen. Wenn ich erwachsen bin, dann kann der Vater was erleben. Wenn ich erwachsen bin, dann trete ich ihm in die Eier. Wenn ich mal Kraft habe, dann kann er was erleben. Wenn ich mal groß bin, gehe ich, und lasse meine Mutter ganz allein. Wie groß muss ein Kind sein, um sich zu wehren; dürfen? Dass ich das überlegte, zeigt mein Dilemma. Ich hatte das von meinem Vater. Dass man erwachsen sein muss, um sich zu wehren, um nicht ein nichts zu sein. Ich lernte immerzu das Falsche, dass ich erst größer werden müsste, um mich zu wehren, gegen dieses feige Schwein und gegen meine Tötungsmaschine, meine Mutter.

Sie forderten das gleiche, was sie auch immer wieder taten. Sie forderten Feigheit. Sie zwangen mich dazu. Sie unterdrückten meinen Zorn. Daher kommt dieses unheimliche Gefühl, man müsste seine Eltern noch beschützen, wenn sie zuschlagen und beschimpfen; als Schutz vor ihrem Zorn. Aus Angst vor dem vernichtet werden. Soweit geht das.

Ich hatte keine Ahnung, wo Zorn beginnt und Wut aufhört. Dass Zorn entsteht aus Wut. Sich mutig gegen jede Form von Unterwerfung und Unterdrückung zu beschweren. Zorn muss laut sein, denn er bekämpft die Feigheit seiner Eltern. Die Feigheit und ihr Schweigen. Zorn schreit den Eltern ins Gesicht, die Wahrheit eines Kindes, das zerbricht, weil es nicht wütend, zornig werden kann, aus Angst vor den Sanktionen. Der Zorn schaut einer Wahrheit ins Gesicht, die sonst nicht auszuhalten wäre, soviel an Ungerechtigkeit, denkt man als Kind, das ist doch gar nicht möglich, das ist doch gar nicht auszuhalten. Wie sie zu sein, genau wie sie zu werden.

Wie widerlich das war, die böse Oma und ihr Verhalten. Wie widerlich das für mich war, der Oma gratulieren zu müssen. Wie widerlich das bei ihr zuhause war, und das Verhalten meiner Eltern. Wie widerlich das war, und dann noch seinen Mund zu halten.

Du sagst nur was, wenn sie dich etwas fragt. Verstehst du mich. Du redest nicht so einfach los. Man muss auch mal den Mund halten. Verstehst du mich. Ich will mir später nichts anhören müssen, sagt er.

Der Mutter den Gefallen tun, Mutter zuliebe still sein und still halten. Die meinen Vater gar nicht mochte, die es genoss, ihren jüngeren Sohn, Stiefbruder meines Vaters und seinen Sohn, der ein Jahr älter ist als ich, neben sich zu sitzen lassen. Dass diese Frau auch das genossen hat, ganz offensichtlich ihre Zuneigung und Abneigung zu zeigen, ganz offensichtlich feindselig zu sein an ihrem Zweiundsiebzigsten Geburtstag. Und dass mein Vater das fraglos und ängstlich hingenommen hat, ohne ein Wort zu sagen. Im Beisein meiner Mutter, meiner guten Oma, meiner Tante, meines Onkels, und seines Stiefbruders, des Neffen und der Mutter meines Cousins, dass er das sprachlos hingenommen hat, auch später und viel später noch. Kein Wort des Zorns.

Ich war damals zwei Jahre alt und sieben Jahre später kam meine Schwester auf die Welt. Dann sah ich den Vergleich und konnte das nicht fassen, wie meine Mutter sie behandelte, so wie sie mich niemals behandelt hatte. Der Neid, die Eifersucht, war riesengroß, doch sollte ich davon nichts äußern. Es war doch Ehrentag. Es war doch Mutters zweites Kind und Vater war so glücklich. Ich sollte meine Eifersucht gefälligst unterdrücken.

Man muss auch mal zurückstecken. Man kann nicht immer an sich denken. Wir sind jetzt einer mehr im Haus. Du kannst auch mal an deine Schwester denken. Die ist doch schließlich noch so klein sagt er.

Mit gnadenloser Sorgfalt und Genauigkeit regierten meine Eltern meine Welt. Ohne den Zorn auf solche Eltern, bleibt jene Sorgfalt und Genauigkeit in einem Kind erhalten. Als Sorge und als Furcht, aus Angst vor Wut und Zorn.

Überleg dir gut, was du jetzt sagst!

Aus Angst vor dem Versagen opferten meine Eltern mich. Aus Angst vor meinen Fragen.

Der große Schwindel

Wenn jetzt dein Vater hier hereinkäme und dich so hören könnte, dann würde er erschrecken. Wenn er dich hören könnte, so voller Hass. Nach allem, was er für dich getan hat. Du wärest ohne ihn nicht aufs Gymnasium. Du hättest nicht studiert. Er ließ dich auch ins Ausland fahren. Das alles hat er finanziert. Was meinst du, könnte ich da alles sagen und gegen deinen Vater vorbringen? Meinst du, ich könnte nicht darüber klagen, wie er zu mir auch ist? Glaubst du, das geht an mir spurlos vorüber? Ich lass mir halt nicht immer alles anmerken. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum unsere Ehe noch funktioniert, und viele andere geschieden wurden. Man muss auch mal klein beigeben, besonders dann, wenn man die schlechteren Karten hat. Du bist auf deinen Vater schließlich angewiesen.

Sollten wir träumen,

müssen wir träumen, bis

unser Traum uns überzeugt

Gabriela Mistral

Was war denn das für ein Gefühl, das mich als Zweijähriger und zweieinhalb Jahrzehnte später, mit gleicher Heftigkeit heimsuchte? Verwirrt war ich und hoffnungslos. Ich war vollkommen durcheinander. Ich wusste nicht, was ich von meinen Eltern, was ich von anderen, und was ich schließlich von mir selbst noch halten sollte. Ich wusste gar nichts mehr für mich. Wie eine Menschenmenge, Blaskapelle. Lichter, Achterbahn, Gesichter, die sich Masken unaufhörlich runterreißen und andere dann wieder aufsetzen und überstülpen; und alle redeten in Sprachen, die ich nicht verstand, und durcheinander.

Ein Kompass, der sich dreht und dreht und keine Richtung mehr angibt und immer wieder zittert. Vom durcheinander sein berührt. Und wenn sich ein Gefühl durch meine Kindheit zieht, dann das des durcheinander seins, das durch den Wind geschossen werden, erst taumeln und dann stolpern und dann fallen und dann, als wäre nichts gewesen, aufstehen und lächeln, sich nur ansatzweise wundern und wieder ratlos in sich weiter sein. Wie ausgesetzt.

Wenn sich in meinem Leben ein Gefühl durchzieht, bei dem ich unwillkürlich auf die Zähne beiße, bei dem ich unwillkürlich auch erschrecke, bei dem es mir die Haare aufstellt, mein Mund wird trocken und ich zittere, dann ist das die Verwirrung in mir drin, mein durcheinander sein und nichts mehr anderes beobachten, vollführen, als unterschiedliche Signale, hin und hin, und weg und weg, als wäre nichts mehr richtig oder falsch, als wäre alles möglich, nur nichts genaueres zu wissen. Ich zweifelte da immer nur an mir. An meiner Fähigkeit zu denken und zu fühlen, da legte sich mein Zweifel an. Ausschließlich an mir zweifelte ich immer wieder, wenn ich mich nicht mehr auskannte. Ich kam als Kind niemals auf die Idee, dass meine Mutter mich, mit ihrer Angst nicht nur verrückt gemacht hatte. Sie hatte mich mit ihren Worten, Gesten, mit ihrer Sprache so verwirrt, dass ich vollkommen in mir durcheinander kam und in mir förmlich durchdrehte. Deshalb fällt mir im Traum selbst manchmal nichts mehr ein. Als wäre nicht nur ich, sondern mein Traum sprachlos. Heillos, unhaltbar sind die Bilder anschließend. Als würden sie sich gegenseitig hemmen, auslöschen und vergessen. Deshalb begriff ich sooft meine eigne Sprache nicht. Doch sie gab das ursprüngliche Gefühl, genau, exakt und akkurat, mein durcheinander sein, in Wort und Bild nur wieder. Was mein Gefühl zuhause sein, mit meiner Mutter war. Mein für mich furchtbar durcheinander sein, allein und ohne eine Sprache. In Einsamkeit verborgen. Das also findet jemand in der Wüste. Nicht Stille und nicht Leere, und nicht Abwesenheit, sondern ein Durcheinander, Chaos, ein ohne jede Ordnung sein, sich ohne Zuordnung und Sprache selbst verlieren.

So kann man sich nur täuschen, wenn man nicht wütend, zornig werden kann auf jene, die Angst vor Wut und Zorn nur produzieren und niemals selber fühlen. Ein Kind, das fühlen kann, wird sich nie mehr an jemand Hilfe suchend wenden, der jene Mitleidlosigkeit ausströmt, wie seine Eltern ohnegleichen.