Texte von Hugo Rupp

Fürsprache

 

Wie ich auf meine Mutter wartete, wenn sie von meiner Schule nach dem Elternsprechtag wieder kam. Ich stand am Fenster, schaute runter. Ich hörte ihre Schritte und wurde gleich noch leiser. Wie sie mich dann anschrie und immerzu beschuldigte. Wie hätte ich das nur tun können, sie wieder nur so anzulügen. Nie würde ich die Wahrheit über meine Noten sagen. Sie wäre wie ein dummes Schaf vor meinen Lehrern dagesessen. Als hätte ich sie bloßgestellt. Als wäre das auch meine Absicht. Als würde ich deswegen lügen. Nur um ihr weh zu tun, zu schaden, um sie zu quälen.

Windstill ist es jetzt zuhause, wenn ich so ganz alleine liege, mit ihren Worten, voller Abscheu, voller Ekel. Dass sie mich nennt, als wäre ich Verräter. Als würde ich sie meinen Lehrern aussetzen. Als wäre sie hilflos und wehrlos. Als würde ich sie nur bloßstellen.

Für sie, ihr Wohlergehen musste ich mich immer sorgen, weil meine Mutter gar nicht wusste, was mir tatsächlich fehlte. Voller Abscheu über meine Klagen und verwundert über meine Wunden, so war sie zu mir. Still, unheimlich leise, ging sie aus meinem Zimmer. Still und heimlich, leise, ließ sie mich verhungern.

Nicht mehr für sie sorgen. Nie mehr für sie sorgen müssen, hämmert mein Herz mit neuen Schlägen. Nie mehr Sorgen um sie machen. Wie ich sie hasste, ihr still sein und still halten. So tun, als wäre nichts gewesen, als wäre ich nicht da. Als wäre ich zu dumm, mein eigenes Leben nur zu leben.

Dem Ekel nachzugehen. Der Sorge um mich selbst, und losgelöst vom Schein der Mutter. Endlich weg vom heilig sein. Immer musste ich die Mutter heilig sprechen. Musste Mutter heilig sein. Ihre Heiligkeit auch suchen. Sie musste heilig bleiben. Und sorglos sein. Ich musste sorglos sein. Ich durfte keine Sorgen machen. Ich durfte keine Sorge sein und sollte keine Sorgen machen. Ich musste sorglos sein.

Dann steh ich mir im Traum auch gegenüber. Schau doch in den Spiegel, sage ich. Rede mir gut zu. Sieh mich endlich einmal an! Wie die Haare mir gewachsen sind. Wie sie sich auf meinen Schultern biegen. Verdreckt sind sie, verklumpt mit Dreck und schmierig glänzend. Verkrustet ist mein Hals. Und wie mein eigner Schrecken steh ich da. Ich suche mit den Augen unaufhörlich, fiebrig und finde nichts mehr wieder. Wo ich mich auch umschaue. Nichts sehe ich von früher wieder.

Sie sagte immer zu mir, wenn ich nach Hause kam: Wie siehst du denn schon wieder aus! Was hast du denn mit deiner Kleidung angestellt!?

Wenn ich meine Mutter vor mir sehe, wie sie krank war, wenn ihr etwas fehlte, wie sie schaute und nichts wissen wollte von der Krankheit und nichts wissen wollte von sich, wie es um sie stand. Wie sie niemals etwas von sich wissen wollte. Wie sie keine Sorge haben wollte, nicht mal um sich selbst, nicht mal um den eigenen Verstand. Wie sie sich nicht sorgen konnte, nicht mal um sich selbst. Wie mich das verrückt machte, meine Mutter ohne Sorge. Ohne was zu merken, seelenlos, verloren. Ohne einen Wunsch, für sich. Ohne Sorge, wunschlos gleichgültig.

Ekel, diese Wut, die ich an die Wände schrie, ohne jemanden zu rühren. Ohne Echo, ohne Spracherkennung, ohne eine Antwort war ich. Ohne Zeugnis meiner Sorgen, bin ich abgerutscht und weggetaucht. Ohne Zeugen meiner Not. Deshalb war ich unter Wasser. Nahe bei den Schlingpflanzen. Niemand würde sich im Wsser dort hinwagen. Niemand mir und meinen Sorgen nahekommen. Keine Nachricht, keine Antwort, keinerlei Fürsorge.

Wie soll jemand fürsorglich sein, der Sorgen gar nicht anerkennt? Wie soll jemand fürsorglich sein, der sein eignes Leiden nicht erkennt? Wie soll jemand sich verstehen, der seine eigene Kindheit meidet?

Ich ging dann später auf mich los. Beklagte mich über Gefühle, als müsste ich mich dafür noch bestrafen, dass ich mich selbst verleugnen und verhungern ließ, und dabei immer noch was fühlte. Ich sah den Grund für mich nie ein, warum ich Hunger leiden, warum ich überhaupt noch etwas fühlen musste.

Ich sah den Grund für meine Wut nicht ein. Weil ich sie nie als Kind auch gegen meine Mutter hatte richten können.

Ich wartete auf ihre Fürsorge. Deswegen hustete ich auch jahrzehntelang. Ich bellte wie ein ausgesetzter Hund. Mit dem Gefühl vom Hunger eingesperrt, von dem die Mutter niemals etwas wirklich wissen wollte.

Deswegen war ich so allein. Ich unterdrückte meine Hungerschreie und so belohnte ich die Mutter doch, indem ich meinen Wunsch nach Fürsorge, nach Liebe, mit Schreien, meiner Wut, stets unterband. Ich gab den Hunger auf, mich selbst. Versuchte meine Liebe selbst, den Hunger meiner Seele, die Empathie selbst auszuhungern, abzutöten.

Wenn ich dann später mit was kam, wenn ich tatsächlich noch was sagen wollte, was früher war, dann sagte Mutter und mein Vater immer wieder: Da kräht kein Hahn mehr danach.

Ich wusste anfangs nie, was sie damit nun meinten. Darüber ist längst Gras gewachsen, sagten beide später. Lass diese alten Sachen ruhen. Jetzt kommst du wieder mit der alten Leier. Werd endlich doch erwachsen!

Niemand bei mir zuhause wollte für mich krähen. Niemand gab einen Laut für mich zurück. Niemand erwiderte mein Klagen.

Ich konnte mich als Kind nicht selbst verteidigen. Ich wusste später nicht, wie man das tut. Sich selbst verteidigen und sich selbst schützen und beschützen. Was ich so lange nicht verstand, war diese große Not, mich selbst nicht retten können.

Das war im Grunde ihr Geheimnis. Sie hatte mich als Kind niemals verteidigt. Sie griff mich immer an, nach jedem dieser Elternsprechtage. Sie sprach nie für mich. Das war im Grunde ihr Geheimnis, sie konnte sich und mich vor niemandem verteidigen, weil sie die Not von einem Kind gar nicht begriff.

Ich hatte nicht gelernt mich zu verteidigen. Ich sollte doch nicht wütend gegen meine Mutter werden.