Texte von Hugo Rupp

Für Alice Miller

 

Der erste Zeuge

Im Haus meines Vaters liegt die tote Mutter. Ins Haus meines Vaters gehe ich allein zurück. Ins Haus meines toten Vaters gehe ich immer allein zurück. Im Haus meines toten Vaters liegt mein Vater aufgebahrt. Er ist bleich und hat keine Farbe mehr im Gesicht. Im Haus meines Vaters gibt es Tote und keiner erklärt mir, was das ist: einen Toten sehen, einem Toten zu begegnen, einen Toten wieder sehen, auch im Traum und auf der Straße, wenn ich glaube, das ist Vater, das ist meine tote Mutter. Niemand redet mit mir darüber, wie es ist, den Toten zu begegnen, ihnen gegenüber stehen, wieder, immer wieder in das Haus des Vaters kommen, gehen, und zurückzukehren in das Haus der Toten. Niemand redet mit mir Kind, was es heißt, den Tod zu finden.

Suchen sich die Toten selbst? Spricht so was, aus den Worten selbst, dass die Toten sich verstecken und dann ich die Toten finden soll? Soll ich immer wieder Tote finden? Soll ich stets allein meine Toten wieder finden. Weiß ich, wo die Toten sind?

Wenn ich in den Keller gehe, sehe ich die Särge meines Vaters dort auf Gestellen stehen. Immer sind die Särge leer. Wenn ich ihm dann helfe, dass er sie nach oben trägt, wenn ich bei ihm bin in der Schreinerei, wenn er die Beschläge anschraubt, wenn er Füße an den Sarg annagelt, halte ich den Sarg, wenn er Deckelschrauben, lange Schrauben in den Deckel vorschraubt, halte ich den Deckel, wenn er Sägespäne in den Sarg füllt und das Kissen für den Kopf hinlegt, bin ich neben ihm, wenn er dann ein Kreuz auf den Deckel nagelt, schaue ich den Händen meines Vaters zu, wie er mit der rechten Hand und verbissenen Lippen auf den Nagel haut, wenn er mit der Schürze, immer mit der blauen Schürze, vor dem Sarg zum Schluss dann stehen bleibt und verachtend auf den Sarg, seine Arbeit blickt. Er sagt nichts über sein Gesicht hinaus. Vater sagt nie etwas über sich. Auch nicht über die Toten. Er verachtet sie, das sehe ich, aber er sagt weder warum, noch würde er bestätigen, dass das so ist. Er weiß nicht einmal, dass ich ihn dabei beobachte, wie er schaut, wenn die Rede wieder auf den Tod kommt. Er will es nicht hören. Das merke ich. Er will niemals mehr ein Wort über einen Toten hören. Kein gutes, kein schlechtes, kein irgendwie anderes. Kein Wort. Im Haus meines Vaters gibt es Tote, und er verliert kein Wort darüber. Mutter spielt mit ihrem Tod und stellt sich vor mir aus mit ihren Todesspielen, wenn sie dann lacht, wenn ich weine, weiß ich, dass der Tod für sie kein Thema ist. Auch sie spielt unentwegt mit dem Tod. Sie redet von Toten und Sterbenden, aber niemals redet sie über das Leben der Toten und Sterbenden vor mir. Es gibt in mir nur diese Toten, Tode, die sie mir erzählen, zeigen, aufführen, belächeln, und verlachen, die sie immer dann erwähnen, wenn sie etwas von mir wollen. Aber sich erklären, wie sie selbst zu allen Toten stehen, was für ein Gefühl sie für die Toten und noch Lebenden besitzen, sagen sie mir nicht. Wenn ich einem Kranken auf der Straße begegne, weiß ich, dass der Mann bald sterben kann. Immer weiß ich schon im voraus, dass wir alle sterben werden. Mehr weiß ich darüber nicht. Niemand sagt mir mehr darüber. Was sie von den Toten denken, weiß ich ganz genau; nichts. Was ich auch verstehe, ist nur immer nichts. Wer die Toten einmal waren, wer sie noch am Leben waren, davon weiß ich auch nichts, nichts was ich erzählen könnte. Namen kenne ich vielleicht, doch nicht mehr.

Wenn ich zum Haus meines Vaters nach Hause gehe, wartet der Tod schon auf mich. Wenn Vater den Tod von Oma erzählt, dass sie gestorben ist, ist das alles, was er sagt. Gestorben. Wenn ich ins Haus meines Vaters zurückkehre, sehe ich ihn nicht mehr wieder. Wenn ich meinen Vater nicht einmal mehr heute noch im Traum je wieder sehe, sage ich, liegt es wohl daran, dass ich nichts von meinem Vater weiß. Nichts hat er von sich erzählt, nichts was ich erfahren habe, ohne Angst dabei zu haben. Nichts hat er mir beigebracht, was ich nicht mit Angst verbinden könnte. Nichts hat seine Zärtlichkeit erregt. Hatte er denn eine? Weiß ich nicht. Ich habe nie eine erlebt und am eignen Leib erfahren. Nichts ist unter meine Haut von ihm gefahren, das nicht Angst gewesen wäre. Immer nur die Angst, er der Furchterregende. Vater hat die Wut erfunden, Vater hat den Zorn begriffen, Vater hat mich immer zornig auch begriffen. Immer wenn ich später zornig wurde und nur um mich schimpfte, war mein Vater auf der Seite meines Zorns. Zorn verstand er immer. Hatte aber nichts mit mir zu tun. Er verstand den Zorn, mich, den Träger dieses Zorns, nicht einen Augenblick lang länger, als der Schmetterling die Flügel für den eignen Schrecken braucht, einen Feind am Luftzug zu erkennen, an der Rührung seiner Haare, an der Färbung seiner Augenfarbe, am Geruch der ersten kleinen Angst, welche seine Färbung trägt, und für Vater den Geruch der Feigheit hatte. Glaubte meinem Vater immer, musste das auch glauben, dass der Vater tapfer ist, dass der Vater immer tapfer war, dass er immer schon ein Tapferer gewesen ist.

Die Toten schreckten mich. Jene, die ich sah, erschreckten mich, alle schreckten mich nur weg, ohne Worte, ohne eine Geste, ohne irgendeinen Hinweis, schreckten mich die Toten, ohne dass ich wusste, warum. Warum zeigen mir die Toten etwas, das ich nicht mehr wissen wollte, das ich kennen musste, das ich schon einmal doch kennen lernte, niemals aber selbst begriffen habe. Was erzählen mir die Toten, wenn sie nichts weiter tun, als nichts. Sie haben kein Verständnis, nicht einmal im Tod, wollen sie etwas begreifen. Sie sind wie meine Eltern, die nichts wissen wollen und die Einsamkeit für mich befahlen, und mich liegen ließen ohne einen Ton, und davon nichts wissen, wie es ist, am Leben und allein zu sein. Tote wollen nichts mehr wissen, wollen kein Verständnis haben, wollen nichts mehr von der Umwelt, von den Menschen, wollen nichts mehr mit der Welt begreifen. Wollen nichts mehr sein, wollen sich nicht mehr verständigen, wollen nichts mehr, nichts mehr sein. Alle Toten sind wie Vater, Mutter und dann ich auch später, als ich nichts mehr wissen wollte, nichts mehr, als ich alles mit Verachtung strafte, alles was nur einen Sinn ergab, was sich mir erklären wollte, was sich auch erklären konnte, was sich fühlend auch verbinden wollte, was sich mir auch nähern wollte, was sich mir auch wirklich nähern wollte. Alles schlug ich in die Ferne. Flog als Vogel schon beim leisesten Hauch von Nähe, wenn sich nur mit leisen Sohlen etwas näherte, leiser noch als Regen, der gerade aufhört, wenn sich ein Gefühl mir näherte, schlug ich es mit Flügeln weg, um dann wegzukommen, weg an einen toten Ort, wo Gefühl nicht ist.

Mein Hass auf alle Toten und auf alle Lebenden, das war mein Spiegel, den ich schon von Anfang an in mir trage, mein Verlangen nach Verständnis, das ich nie bekam, nicht in meinem Elternhaus, nicht in meinem toten Vater, nicht in meiner toten Mutter, die sich vor mir ausstellte, als die Tote, die sie immer schon gewesen ist. Haben mich zu einem Toten großgezogen. Habe ich gelernt. Habe immer schon den Tod ergriffen, als die Heimat, die ich kenne. Als die Heimat meines Vaters. Haus im Haus. Vater und der Sohn, beide gleiche Tote, gleiche im Gefühl.

Fremde war immer schon in allem was ich sehen konnte. Fremde Augen, kein Verständnis mit den Augen, die mich sahen, die sich in mich blickten. Kein Verständnis. Welche Anstrengung, niemals sich begegnen können, immer nur wegschauen, wieder weg und wieder wegschauen. Mutter hatte keine Augen. Vater hatte böse Augen, blickte mich entzwei. Immer wenn er schrie, blickte Vater mich entzwei, schnitt mir in den Finger und den Arm, schnitt mich einfach nur entzwei.

Austausch fällt mir ein. Kein Austausch. Keinerlei Gefühl, das sie mit mir tauschen, das sie mit mir tauschen wollten, keinerlei Austausch. Niemals gaben sie mir ihre Worte, um damit was eigenes zu machen, um damit auch etwas anzustellen. Immer musste ich auf Fehler und Versäumnis achten. Niemals durfte ich mich täuschen und auch selbst verfehlen. Niemals gaben sie mir selbst zu denken; mich und sich für sich zu denken. Sich und mich zusammen denken. Niemals gab es einen Austausch von uns beiden. Von den beiden zu mir hin. Niemals gab es ein Gefühl, das sich tauschen und ergänzen und auch selbst erheben durfte. Keiner tauschte sich mit einem Kind, mit mir und dem Kindlichen, mit mir und der Freude auch geboren worden sein, aus.

Es steht jetzt hier, das einst mir völlig Unbegreifliche, dass niemand sich mit mir, in mir, und außerhalb verständlich machte. Dass sie mir immer an der Seite waren und doch kein Wort und keinen Laut, den ich den Eltern gab, verstanden haben. Sie musste ich verstehen, so qualvoll wie das war, sie musste ich doch immer dann verstehen, wenn sie mir weher noch, als früher waren.

Ich folgte ihnen in Gedanken, ich suchte ihr Verstehen und Verständnis, ich folgte ihrem Weg, ich suchte überall nach ihren Spuren, ich folgte ihren Worten und befolgte ihre Sprache, ich folgte ihren Blicken und hing an ihrem Mund, und wenn sie sprachen, las ich von ihren Lippen ab. Ich folgte ihrer Nase, wenn sie was rochen, was den Nasen meiner Eltern nicht gefiel. Ich folgte ihren Spuren, Kleidern, Socken, Hosen, und ihrer Art des Gehens.

Folge ihrem Schritt und Tritt um Verstehen und Verständnis dort auch zu erlangen.

Immer suchte ich. In Gedanken und auf Knien rutschte ich in ihre Nähe. Nähe, Nähe, näher kommen. Immer folgte ich der Mutter, suchte ihre Nähe. Suchte ihre Zärtlichkeit und Geborgenheit; suchte ich. Später und viel später noch, suchte ich in toten Dingen Sinn und die Sprache zum Verständnis. Ich versuchte NICHTS zu deuten. Sand in meiner Hand. Niemals fand ein Austausch statt. Niemals gab es ein Gefühl, niemals gab es jemals einen Hinweis oder ein Gespür oder ein Verständnis für den Hunger meiner Seele.

Niemand fragte: Warum suchst du immer bei den Kalten, bei den Eisigen, bei Verständnislosen eine Nähe, warum suchst du ausgerechnet dort Verständnis? Das ist doch wie Nägel kauen. Ich ernährte mich von Nägeln, von den eignen Fingernägeln, früh, neben meinen Eltern. Ich ernährte mich von den eignen Fingern, spielte auch Verständnis damit, ich verbrachte so die Stunden um mich zu ernähren, um die Nähe zu erfahren, die es sonst nicht gab. Ich ernährte mich von mir, nährte mich zum eigenen Verständnis. Ich bezeugte meinen Hunger, selbst bezeugte nur ich immerfort mein Sehnen, meinen Hunger meiner Seele, meinen Hunger nach Geborgenheit. So verhungern haben sie mich lassen, dass ich eher meine Seele essen musste, um allein zu überleben. Esse meine Seele auf, schlage alles weg, was mich an die Qual erinnert, immer nur zu suchen, immer nur nach Nähe suchen müssen, ohne eine Antwort.

So ein Kind wird wunschlos, ohne Antwort auf die Wünsche, wird ein Kind selbst wunschlos. So ein Kind wird nicht mehr fragen. Irgendwann verzog ich mich, wollte mich verstecken, wollte in den Bunker gehen und dort wunschlos ohne eine Frage sitzen bleiben, nur geborgen von den Mauern meiner Angst, jenen kalten Menschen, die sich nicht erweichen ließen, von den Tränen meiner Not. Not ist mir geblieben und mich selbst zu nötigen und auch jeden anderen, jeden den ich sehe, nötige ich zum Verständnis, ohne doch zu wissen, dass die Suche somit niemals endet.

Was ist das Gefühl?

Was ist das Gefühl, das mir auf die Frage antwortet, dass ich immer suchen musste, dass ich immer um Verstehen ringen musste. Dass nur immer ich Verständnis, Mitleid, Mitgefühl aufbringen musste.

Was ist mein Gefühl dabei?

Nicht der Hunger?!

Nein.

Nicht der erste Hunger?!

Nein!

Sicher keine Liebe.

Wie allein musste ich als Kind wohl sein, dass ich immer nur die Nähe suchte?!

Später, und ich war da noch sehr klein, musste ich mich dafür schämen.

Schäm dich, so zu schreien. Wer wird denn schon wieder schreien.

Wieder etwas später machten sie mich dafür schuldig.

Wenn du dich so aufregst, platzt dir noch dein Kopf.

Schreie nur so weiter, dann platzt dir ganz bestimmt dein Schädel.

Immer musste ich an meinen Schmerzen schuldig sein. Niemals waren sie verantwortlich. Immer musste meine Wut, für die Schmerzen, die ich hatte, herhalten. Sie beschuldigten meinen Zorn, meine Wut, auch noch für die Schmerzen nach den Schmerzen.

Ich kann dein Geschrei jetzt nicht mehr länger hören. Da bekomme ich noch Kopfweh davon. Ich lasse dich jetzt allein. Du kannst solange schreien wie du willst. Ich habe dich gewarnt. Aber beklage dich nicht nachher bei mir, wenn dir etwas fehlt, oder wenn du schließlich überhaupt keine Luft mehr bekommst von deiner Schreierei. Ich werde dann nicht mehr hier sein. So, und jetzt kannst du solange schreien wie du willst.

Ich musste schließlich Angst vor meiner eignen Wut bekommen. Ich sollte mir nicht merken, warum mich meine Wut ergriff, warum ich zornig wurde, warum ich zornig um mich schlug und wütend meine Augen schloss. Warum ich alles um mich schreiend schließen wollte, warum mich meine Wut entzog, dem Stillen meiner Mutter. Sie stillte mich, nicht mit der Nahrung, die ich nötig hatte. Sie stillte mich, versagte sich, indem sie ging und mich alleine ließ. Die Nahrung, welche sie mir gab, war Einsamkeit und kein Verständnis. Sie gab mir kein Verständnis, das war es, was sie an mich fütterte. Ich lernte Einsamkeit und kein Verständnis suchen. Ich suchte schließlich Einsamkeit und kein Verständnis haben, in allen andern. Ich suchte, wie ich es einst lernte.

Die Wut erklärt mir heute noch, dass ich das Falsche lernte, für mich das Falsche lernen musste, und dass die Suche mich verwirrte, dass ich nur weiter suchen musste, weil sie wegging und auch der Vater nicht da war. Weil niemand da war von den Eltern. Weil niemand meine Not begriff. Nur meine Wut begriff die Not, das was mir fehlte. Nur sie ergriff für mich, und ich mit ihr für mich Partei.

Das Unsichtbare wird jetzt sichtbar. Ich sehe, was ich als Kind nie wahrnahm, was ich für mich nicht wahrnehmen konnte, dass sie diejenige für mich gewesen ist, die mich verließ, und die ich immer wieder anflehte, dass sie doch kommen soll, dass sie es ist, die mir weh tut, mit ihrem Gehen und mich alleine lassen. Dass sie die Retterin, die mir die Nahrung gibt, die nur für mich, das kleine Kind ausschließlich sorgt, dass ich auch nicht verhungern muss, doch jene ist, die mich in meine größte Art Verzweiflung stößt, wenn sie mich schimpft und dann beschuldigt, wenn sie mich selbst als böses Kind beschimpft, dass sie mich damit tödlich peinigt, dass sie das ist, vor der mir schwindlig wird. Dass sie das ist, die mich belügt, belogen hat, dass sie der Schleier ist, der mich am Sehen, Fühlen, Merken meiner Wahrheit hindert und verhinderte. Dass ich das heute sehend fühlen kann, ist was mich über alle Maßen wundert, weil ich das immer doch schon wusste, in mir und allen meinen Sinnen, doch niemals ausgesprochen habe, für mich das ehemalige Kind und Opfer, dass ich das Opfer selbst, das Kind erst recht, sich jetzt befreit mit dieser Sicht.

Ich spreche mich. Ich helfe mir. Ich rette mich. Das ehemalige Kind glaubt mir, dass sie das ist, mit ihrem Tun, dass sie niemals ein Bestes für mich wollte. Dass mich verlassen und alleine lassen, für mich Verbrechen war, an mir und meiner Seele. Du ICH ergreifst Partei für dich, ein ehemalig Kind und merkst erst jetzt in dem Bewusstsein klar und deutlich, wie sehr du selbst von ihr, der Sicht der Mutter, ihren Augen, indem was sie dir vorgab und vorlebte und vortäuschte und vorlog, vorheuchelte, abhängig warst; von ihrer Sicht auf dich und ihren Worten darüber. Wie sie mich täuschen konnte, ohne dass ich eine Möglichkeit hatte zu erkennen, wie sehr sie mir mit ihren Spielen schadete, weh tat und mich damit verwirrte. Wie sehr sie selbst der Schleier war, der Vorhang, den alleine sie geschneidert hatte, für eine Bühne, auf der ich notgedrungen stehen, leben musste, und abgetrennt von meinen eigenen Gefühlen. Ich musste ihr Darsteller sein.

Ich hebe nun den Vorhang, ich mache diese Bühne auf, ich mache dieses Haus zum offnen Haus, ich öffne die Geschichte meines Hauses, ich sehe alles, was auf dieser Bühne ist und war, in jedem Licht und jeder Dunkelheit. Im grauen, wie im schwarzen Licht, in jeder bunten Färbung. Die Geister sind jetzt keine Geister mehr. Ich Kind, ich ehemaliges Kind, kann unterscheiden, weiß und fühle, was wahr ist und was nicht ist. Ich kann jetzt unterscheiden. Ich muss die Welt nicht mehr als ganzes so betrachten, so ausweglos und ohne eine Möglichkeit, so unverständlich wie die Eltern mir als Kind gewesen sind, so übermächtig und unnahbar. Die Bühne ist ein offener Raum. Die Sprache, die dort einst gelehrt, gelernt, gesprochen worden ist, taugt nun für mich nichts mehr. Ich bin kein Spieler mehr. Ich spiele kein Spiel, nie mehr. Ich spiele ihr Spiel nicht mehr. Ich spiele ihr Leidensspiel nicht weiter. Ich spiele ihr Leiden auch nicht weiter. Ich muss vor keinem Spiel auch nicht erschrecken. Ich dachte immer, das musste ich auch fühlen, mit Angst und Schrecken, dass ohne dieses Spiel der Eltern, die Welt vollkommen leer und ohne einen Ton für immer ruhig bleiben würde. Ein Universum ohne einen Kratzer, perfekt in seiner Stille leer, so einsam wie ich selbst. Das war nicht wahr. Das konnte ich nie sehen, das ließen sie mich niemals merken, dass außerhalb des Hauses meines Vaters und meiner Mutter Angst, die Welt auch weiter geht und nichts begrenzt ist, wie mein Bett, mein Kinderzimmer. Dass meine Tränen nicht alleine sind, dass ich auch nicht alleine bin, niemals gewesen bin, jetzt, da ihr Spiel für immer endet.

Die Angst, die in mir war und mich umgab, die mich als Kind und später noch, als nur mehr Hass sie gut verbarg und sie ummantelte, als Schutz für mich und meine Eltern, die mich so peinigte, ist jetzt verständlich für mich selbst. Die Angst, die meine Wut verhinderte, ist nicht von mir erfunden worden.

In ihrer Nähe konnte ich nicht fühlen.

Sie hoben mich selbst auf. Ich fühlte mich auch aufgehoben, im Sinne von gelöscht und ohne ein Gedächtnis. Ich wusste irgendwann dann selbst nicht einmal mehr den Grund für meine Angst. Ich konnte mich doch selbst nicht mehr erinnern. Sie teilten nicht mit mir, was ich erlebte und was ich war und was ich bin für mich, was ich für mich selbst fühlte.

Sie weckte mich auch in der Nacht und sagte, pscht, schlaf einfach weiter, du hast nur schlecht geträumt. Es ist nichts, nichts was dich schrecken muss. Nichts. Schlaf einfach weiter.

Ich wachte Jahrzehnte später immer wieder auf, zu gleicher Stunde mitten in der Nacht. Ich träumte und ich suchte wach, augenblicklich nach Erklärung. Ich suchte nach Verständnis augenblicklich. Es ist nichts, dachte ich, es war gar nichts. Ich wachte dennoch immer wieder auf, zur gleichen Zeit, früh zwischen 4 und 5. Ich hortete die Träume, und immer war da doch ein Wunsch, dass sich doch endlich einmal nur das Träumen bessern sollte, dass wenigstens nur einmal nur, mein Traum im Licht, am Tag beschrieben, sich doch für mich als angenehm erweisen könnte.

Wirst sehen, das ist gleich vorbei. Das ist wie nichts. Das tut nicht weh. Der gibt dir eine Spritze und dann tut es nicht mehr weh.

Sie war es, die mich immer wieder ablenkte und niemals mir die Schmerzen ließ und mein Gefühl dabei, auch nicht die Wut auf jene, die mich quälten. Sie redete Erlebtes um, sie redete mir Geschehenes aus. Das alles ist mir längst bewusst, doch was ich immer auch mitlernte, das war die Art Erinnerung, der Umgang damit, mit mir selbst. Ich sollte mich in ihrem Sinne stets erinnern. Das lernte ich. Ich lernte über allem, was ich auch erlebte, eine Möglichkeit zu haben, für mich das eben erst Erlebte umzuschreiben. Ich lernte die Vergangenheit zu schreiben, so wie es mir gefällt zu fühlen, so wie ich vielleicht wünschte, mich zu fühlen.

Das wird schon wieder. Wirst schon sehen. Morgen sieht alles besser aus.

Ich lernte den Gedanken kennen, Vergangenheit zu ändern, dass sich tatsächlich auch Erinnerungen für mich somit ändern lassen. Ich lernte meine Schmerzen zu verleugnen. Ich lernte über mich und mein Gefühl zu urteilen, ich lernte, was ich merken sollte und was nicht. Ich lernte meinen Schmerz nicht merken. Ich lernte mich erinnern, ich musste mich erinnern lernen. Ich durfte mir nicht merken, was tatsächlich war und ist, in meinem Körper aufgezeichnet. Ich lernte mich verwirren und selbst täuschen.

Ich wachte immer wieder auf. Es schien, als wartete ich in der Nacht, auf etwas das mir fehlte. Ich wartete auf die Erinnerung, dass alles nicht so war, wie es doch immer nur gewesen ist. Ich wachte auf, von meinem Wunsch getragen, dass es doch etwas geben muss, das nicht so war, wie ich es selbst erlebte. Dass die Erinnerung vielleicht doch einmal doch nicht stimmig ist, mit allen Träumen, dass es die Liebe doch noch gab, am Anfang meiner Zeit, als Kind. Ich wachte immer wieder auf, von meinem Wunsch begleitet, Vergangenheit zu ändern. Das hatte ich vergessen, das was so angenehm gewesen ist, das was die Hoffnung hätte sein können; die größte Illusion. Dass sich Vergangenheit und auch Erinnerung selbst ändern kann, dass sich Vergangenheit selbst ändert, und dann auch meine Form Erinnerung, dann plötzlich mit dem neuen Tag, dann anders ist. Ich hoffte, dass am nächsten Tag, die Welt tatsächlich eine andere wäre. Dass ich dann auch ein anderer wäre, und dass die Träume dann auch anders würden. Das war es, was ich lernen musste. Das war die Lehre meiner Mutter. Im Grunde lehrte sie Gedächtnis zu verlieren. Denn um Vergangenheit zu ändern, muss ich Erinnerung verlieren. Ich muss Vergangenheit auslöschen. So würde sich die Angst auflösen. Ich finde mich jedoch in alledem nicht mehr. Ich finde mich nicht mehr zurecht, wenn ich nicht weiß, was mir weh tut und was mir schadet, was mir gut tut und mich erfreut. Ich finde keinen Ausweg ohne die Erinnerung, die ich von mir und meinen Schmerzen habe. Es gibt für mich dafür auch keine andere Möglichkeit, Vergangenheit nicht mehr zu ändern wollen, Erinnerung sich selbst zu überlassen. Sich mit den Träumen zu erinnern, wie es gewesen ist, wie es nie anders war.

Wer sich als Kind vergessen musste, der durfte sich nicht wehren. Wer sich verleugnet und die Wahrheit seiner Schmerzen, wer sein Gefühl dort unterdrückt, wo er sich doch erinnern kann, der lässt sich immer wieder selbst allein, und ohne Wut kann niemals Mut ihn selbst erretten. Dein Mut erwächst daraus, weil du es bist, der sich an sich erinnern kann, weil du es bist und niemand anderer.

Was war es denn, an das du dich niemals erinnern durftest? Was durftest du dir niemals und unter keinem Umstand dir selbst merken. Was wollte sie auch selbst vor dir am allermeisten auch verbergen. Was war es denn, das sie vor dir verbarg und das sie ganz besonders auch beim Vater fürchtete, was sie um alles in der Welt, nur immer aus der Welt selbst schaffen wollte? Was war es denn, was im Verbogenen, im Grab, tief in der Erde ruhen sollte?

Was hast du dort am frischen Grab des Vaters selbst gespürt, als deine Angst vor ihm aus deinem Rücken wich? Was fühltest du nach seinem Tod für diesen Mann?

Den Schwindel und dann nichts und dann unbändige Wut.

Sie wollte immer ihre Wut verstecken und deine niemals sehen. Sie wollte Vaters Wut abwenden und deine gegen ihn besonders.

Ich spreche von der Nacht und dem Aufwachen, von meiner Erinnerung und dass sich alles ändern sollte. Dass sie zu mir kam, als wäre mein Ort eine Zuflucht. Was sollte sich denn ändern? Woher kam sie denn, vor wem ging sie denn weg? Was macht sie denn, was lehrte sie dich damals? Was tat sie denn für sich? Was lerntest du tatsächlich damals fast im Schlaf, im Wachen und im wieder einschlafen?

Ich war ein Kind das sich selbst fürchtete, vor mir und meinen Träumen. Sie störte mich, sie weckte mich aus meinen Träumen und ich erschrak, als würde sie von meinen Traumgedanken wissen, als würde sie selbst meine Träume kennen. Ich hatte Angst, dass sie, wenn sie mich aus dem Schlaf und meinen Träumen holte, mir ansah, was ich träumte und was ich von ihr insgeheim, mir selbst verborgen, fühlte.

Ich hatte keine Angst vor ihr in meinen Träumen.

Ich hatte nur im Wachen Angst, in meinen Träumen kam ich ihr nicht nahe, doch schickte ich sie weg, ich träumte sie inmitten eines Sees, ich träumte sie in einen See aus Blut und dass sie dort mit ihren Augen und ihrem Mund nun untergehen sollte. Ich träumte sie, dass sie kein Wort mehr für mich fluchen konnte. Ich träume mich in Zuversicht, erst ängstlich und mit Bangigkeit, die sich allmählich doch verflüchtigte und auch verlor. Ich träumte mich ans Ufer und in Sicherheit. Ich rief für sie, als sie in diesem See langsam unterging, das blutige Wasser schon unterhalb ihrer Nase, nicht um Hilfe. Ich stand am Ufer und sah zu. Ich sah tatsächlich zu, wie sie ertrinken sollte. Ich sah sie endlich untergehen, trotz ihrer bösen Blicke, trotz ihrer stummen Schreie. Ich ließ sie untergehen. Ich träumte ihren Untergang, trotz ihrer stillen Drohung, trotz ihrer stummen Schreie.

Ich träumte mich. Das was ich niemals fühlen durfte. Ich träumte, wünschte ihr Verschwinden, ich wünschte endlich auch, was sie mir immer sagte, ich solle doch verschwinden, sie wolle mich nie wieder sehen. Ich träumte sie auf Nimmerwiedersehen.

Ich träumte sie, auf Teufel komm raus, für immer weg, verschwinden und verschluckt. Ich war allein mit ihr an diesem See. Es gab dort keinen anderen Zeugen. Ich war der einzige. Wie sie mich einst als kleines Kind alleine ließ und ohne einen Zeugen, damit mir niemals jemand glauben sollte, was Einsamkeit für mich bedeutete, die Hölle ohne Laut, so bin ich dann im Traum, für sie und ihren Untergang, der letzte Zeuge und somit auch ihr einziger. Sie würde niemand finden, wie niemand mich auch damals fand und rettete, wie sie mich nicht erhörte, so wie sie stumm und taub und eisig kalt, für alles was mein Fühlen war, gewesen ist, so taub und kalt sehe ich ihr zu, wie sie versinkt.

Ich bin nicht mehr erreichbar. Ich bin nicht mehr für sie verfügbar.

Ich Kind, ich wache auf um 4-5 Uhr früh und bin allein, wenn erste Vögel Laute geben. Ich wünsche mir die Mutter bliebe weg und würde nicht mehr wiederkommen.

Hab keine Angst vor deiner Wut!

Da war noch was!? Ich träumte eine Wahrheit noch. Die schlimmste, die es für mich gab. Ich hatte keinen Zeugen. Da war kein Dämon und kein Engel für mich anwesend, da war niemand, der mich bezeugte. Ich selbst, ich war und bin für mich mein erster Zeuge.