Texte von Hugo Rupp

Flucht vor sich selbst

 

Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.

Franz Kafka Das Schloß

Die Ohnmacht, die ich in mir trug. Weil ich noch freundlich war und liebenswert erscheinen wollte, auch wenn es mich verbog und Elend in mir war und Unglück, Hoffnungslosigkeit, auch dann, wenn meine Tränen nur mehr lautlos aus mir kamen, schaute mich meine Mutter an, als hätte ich etwas verbrochen und zerschlagen.

Fast nichts. Wie ein Insektenstich, der dir zunächst ganz leicht vorkommt. Wenigstens sagst du dir das leise, um dich zu beruhigen.

Patrick Modiano Damit du dich im Viertel nicht verirrst

Dass ich im Krankenhaus nur nett, anständig und zuvorkommend erscheinen muss und das auch will, sonst schicken sie mich in ein Heim. Und später lassen sie mich auf dem Gang in Unterwäsche in der Kälte hocken.

Da geh gefälligst rein. Wieso sind wird denn da? Doch wegen dir! Ich kann mir auch was Schöneres vorstellen, als hier mit dir herumzusitzen und zu warten.

Wie mir der Schmerz bis runter in die Zehen fährt.

Und sei schön brav, wenn jemand dich was fragt. Gibt nur schön acht, dass du nichts Falsches machst. Blamier mich nicht! Und wenn er sagt, einatmen, atmest du ein! Hörst du! Du atmest ein, nicht aus. Ich sag das nur, damit dir nichts passiert.

Er ist doch noch so klein, sagt eine Frau.

Ich hatte immer wieder Glück, dass es tatsächlich Menschen gab, die meine Mutter hörten und nicht mochten, wie sie mit mir sprach. Ich hatte so ein Glück, dass immer wieder jemand für mich war.

Komm du mir heim! Dann kannst du was erleben.

Ich zitterte, mir wurde kalt, wenn ich sie kommen hörte. Wenn ich Geräusche hörte. Wie sie Geräusche machen konnte. Dass ich gleich wusste, jetzt kommt sie und schimpft mich aus. Wie mir schon vorher kälter wurde.

Nimm deinen Koffer, geh schön rein. Ich komme gleich. Und mach nicht gleich wieder alles schmutzig!

Im Kinderkrankenhaus, gehorsam und anständig sein.

Mach nicht so ein Gesicht!

Wenn ich in Not war, fühlte ich mich schmutzig.

Was klammerst du denn so!? Drück nicht so fest. Jetzt hör doch endlich auf damit. Du machst mich noch ganz dreckig!

Sie wollte nicht umarmt werden. Und sie umarmte mich auch nicht. Auch Vater hat mich nicht umarmt. Und Oma hat mich nicht umarmt. Mich hat niemand umarmt. Dass ich ihr wehtun wollte mit Umklammerung, dachte ich. Umarmen hörte ich dann auf.

Tatsächlich habe ich nach dem Besuch im Kinderkrankenhaus die körperliche Nähe meiner Mutter nicht mehr gesucht. Ein Kind, wie ich, sucht nicht nach Zärtlichkeit später. Nur automatisch nach Rückschlägen. Nach Frauen, die wie meine Mutter sind und Zärtlichkeit nicht haben wollen. Die sich die Zärtlichkeit nicht mal mehr wünschten.

Das kann doch wirklich nicht dein Ernst sein, oder!? Jetzt hab dich nicht gleich so. Du hast gar keinen Grund dich aufzuregen.

Ich wünschte mir, dass es nur körperliche Schmerzen gibt. Ich wünschte mir, wovon die Mutter immer wieder sprach.

Du hast doch alles. Alles gut. Schau dir nur an, was andere nicht haben. Uns geht es gut. Egal was andere auch haben. Du hast doch alles, was man braucht.

Sie strafte mich, wenn ich verzweifelt war. Sie schimpfte mich und schickte mich in eine Ecke, wo ich mich bessern sollte. Wenn ich verzweifelt war, wurde sie wütend. Wie ich das später nicht ertragen konnte, wenn jemand anderer verzweifelt war.

Zunächst ist es fast nichts, das Knirschen der Reifen auf dem Kies, ein Motorgeräusch, das sich entfernt, und du brauchst noch ein wenig Zeit, bevor dir klar wird, du bist allein im Haus.

Patrick Modiano Damit du dich im Viertel nicht verirrst

Und in der Nacht bin ich dann aufgewacht, und niemand war bei mir im Zimmer. Ich weinte bis die Mutter kam, und neben ihr stand eine Frau. Die kannte ich.

Ich bin doch hier! Was weinst du denn?! Ich war nur nebenan. Du kennst doch die Frau R.? Die ist mit ihrem Sohn auch hier. Du kennst doch ihren Sohn! Die Schwester hat dich weinen hören, den ganzen Gang entlang und durch die Tür. Ihr Junge schreit, hat sie gesagt. Ich war nur nebenan. Ich bin doch wirklich nicht weit weg gewesen!

Mit mir allein sagt sie: Du bist hier doch nur zur Beobachtung. Der Toni, der Sohn von der Frau S., der wird hier operiert. Dem wird am Bipperl etwas weggeschnitten. Und du machst wegen nichts so ein Geschiss!

Mein Koffer fällt mir ein. Dass jemand meinen Koffer stiehlt, das träume ich seit über 50 Jahren. Wenn jemand meinen Koffer sieht, dann soll er ihn wegtragen.

Man kann nicht ohne Koffer reisen, sagt Mutter irgendwann.

Und ohne Koffer komm ich nicht ins Heim und nicht allein ins Sanatorium.

Was zitterst du denn so? Es ist doch nichts passiert. Sie überlegt, dann schaut sie mich misstrauisch an. Ich geh schon nicht mehr weg!

Ich konnte nicht mehr hinhören. Ich konnte nichts mehr sagen. Ich wollte nichts mehr hören. Mein Zittern wollte ich auch nicht. Ich wollte schließlich gar nichts mehr ertragen.

CC Du bist neugierig auf andere Menschen und immer auf der Lauer nach neuen Gesichtern. Aber gibt es da nicht ein einzelnes, bevorzugtes Thema, auf das Du in all deinen Filmen zurückkommst?

RB Welches?

CC Einsamkeit.

RB Ja. Das ist riskant, weil auf der Leinwand Einsamkeit immer trocken und kalt erscheint. Um Einsamkeit zu vermitteln, muss man sie mit viel Zärtlichkeit und Liebe umgeben.

Interview mit Robert Bresson“ von Jacques Doniol-Valcroze und Jean-Luc Godard, Cahiers de cinéma, No. 104, Februar 1960

Als würde Wut in einem Kind aus dem Gefühl für Einsamkeit verschwinden mit anständig und sauber sein. Wortlos ertragen, anständig einsam sein, das sollte ich für meine Mutter sein, damit die Wut verschwinden würde.

Die kleine Micky Maus Figur steht da, mit an den Seiten ausgestreckten Armen und breitbeinig. Die Hände offen wie ihr Blick, schaut sie nach oben. Und kurze rote Hosen trägt die Maus und braune Schuhe, wie meiner Oma Hausschuhe, in die ich meine Füße steckte, wenn ich bei ihr sein durfte. Die Maus hat schwarze große Ohren und ihre Stirn wird halb von Schwarz verdeckt, als wäre da ein Schleier. Ich hatte keine Scheu sie festzuhalten und zu drücken. Ich hatte auch noch einen Stoffhund und den rührte ich nicht an.

Vom Plastikzeug und deinen Indianermantschgerln kann ich den Dreck abwaschen. Aus deinem Stoffhund aber kriege ich den Schmutz nie wieder raus. Sei also vorsichtig.

Ich rührte diesen Hund nicht wieder an. Er blieb so unberührt auf dem Regal.

Und plötzlich merke ich, dass wenn mich etwas aufregt und ich mich nicht mehr fangen kann, dass wenn ich mich am Arm nur leicht berühre, wenn ich nur etwas zärtlich zu mir bin, dass meine Wut verfliegt und sich mein Zorn verflüchtigt.

Das alles überwältigende Gefühl der Ungewissheit in mir drin. Was wird aus mir? Wo komme ich denn hin? Wenn niemand da ist, den ich kenne. Wenn niemand mich auch kennt. Wenn niemand mich erkennt. Was wird aus mir nur werden?

Jeden Tag in der Früh im Kinderkrankenhaus zeige ich der Mutter meine Hand, die Stelle, auf der mir der Arzt den Punkt gestochen hat. Wenn der sich verfärbt, komme ich nicht wieder heim. Wenn ich auf der Lunge etwas habe, verfärbt sich dort die Haut. Immer wieder halte ich ihr meine nicht verfärbte Stelle hin.

Du musst mir deine Hand nicht immer unter die Nase halten. Ich weiß auch so, warum wir hier sind, hier im Krankenhaus. Ich könnte mir auch was Schöneres vorstellen.

Ich wachte auf und war allein, im Ungewissen, wie es mit mir weiterginge.

Man kann nicht alles haben, sagt sie und lächelt dabei hämisch.

Wie ich mir später immer wieder Menschen aussuchte, die mich alleine oder warten ließen oder sich einfach nicht mehr meldeten. Wie ich mir immer wieder Menschen aussuchte, die mich im Ungewissen ließen, wie meine Mutter.

Das geht dich gar nichts an! Sei endlich still! Was bildest du dir ein. Sei nicht so frech!

Und wie verzweifelt ich gewesen bin und wie verzweifelt wütend ich versucht habe, das zu verändern. Wie schrecklich die Erfahrung war, nichts gegen Ungewissheit und Unsicherheit selbst tun zu können.

Ich träumte, dass ich unter Wasser atmen kann. In Sicherheit. Und mich bewegen kann, lautlos.

Und wie verzweifelt ich nach einem Ausweg suchte und nach Gewissheit. Warum ich immer wütend wurde, wenn ich auf jemand traf, der nichts von Leid an sich beachten wollte oder konnte.

Ich wollte nichts mehr von mir hören. Ich schloss mich selber weg.

Jetzt kannst du plärren, soviel du willst. Doch niemand wird dich hören können, so sprach ich schließlich zu mir selbst.

Ich war alleiniger Bewohner meines Aquariums. Und alles machte mir dort Angst, die dumpfen Laute und die Augen, wenn ich mich anschaute und selbst betrachtete im Spiegel meiner eigenen Verachtung.

Kannst du mich hören? Junge!? Jetzt ist es aber gut!

In mir war alles nur von Ungewissheit angerührt. Erst jetzt verstehe ich. Ich konnte nicht mehr selbst nach Liebe suchen oder fragen.

Im Ungewissen bleiben.

Hörst du jetzt endlich auf damit!?

Mit Ungewissheit im Empfinden verstand ich mich und meine Wut nicht mehr. Dabei versucht ein Kind, das seine Wut nicht mehr zu finden wagt, nur mehr zu überleben.

Ist das der Mühe wert?!

Was man gewinnen kann, wenn man die eigene Kindheit in sich auferstehen lässt, ist die Gewissheit im Empfinden. Die Suche nach der Liebe meiner Mutter lohnte sich für mich. Nur so entdeckte ich die Wut, die ich als Kind stets gegen mich und andre richten wollte.

Das ist doch gar nicht wahr!

Das bildest du dir doch nur ein!

Jetzt sei schön still!

Sonst kommt der Schwarze Mann.

Ich konnte nur mit Ungewissheit überleben, mit diesem Zwang zum Zweifel, und dieser flüchtigen Entscheidung und Empfindung, ich wüsste nicht genau, ob ich oder die Mutter unfähig für die Liebe waren.

Lieblosigkeit verstörte mich. Mit Hunger nach Vergebung, versuchte ich ihm zu entkommen. Dass endlich meiner Mutter Lieblosigkeit aufhören würde. Im Ungewissen über ihr Vorgehen; Vergebung üben. Dass mit Vergebung auch Verzweiflung aufhörte.

Mein Hunger nach Vergebung, aus Hunger nach der Liebe.

Ein Kind, das der Empfindung seiner Wut nicht mehr vertrauen kann, versucht die Ungewissheit auszunutzen, indem es seinen Peinigern vergibt. Ich konnte schließlich nicht mehr anders, als meiner Mutter zu vergeben. Die Hände meiner Micky Maus, das waren meine Kinderhände. Vergebung um Vergebung um Vergebung übend, damit Lieblosigkeit aufhört. Mit Händen die Vergebung üben, damit Lieblosigkeit mich nicht mehr länger quält.

Sie richtete sich gegen mich, sobald ich Liebe bei ihr suchte. Auch wenn ich nicht in Not war, verteufelte sie meine Liebe.