Texte von Hugo Rupp

Die Überzeugung

 

Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen. – Friedrich Nietzsche

Indem die Mutter mit dem schwarzen Mann ein ernstes Wort dann sprach, so wie mit meinem Vater, oder dem Nikolaus, und allen andern bösen Geistern, oder mit namenlosen Schreckgestalten, die in den Nächten Furcht erregend in mir waren, und um mich schlugen. Die Schreckgestalten waren ausgezogen um meine Furcht zu suchen und zu finden.

Sie sprach mit meinen Geistern. Das dachte ich, dass sie mit Geistern für mich sprach. Wie sie dann später mit den Lehrern und Lehrerinnen über mich sprach. Ich dachte, dass sie sich für mich einsetzte.

Sie redete tatsächlich mit dem schwarzen Mann, dass er nur wieder geht.

Sie macht das jetzt, sie überredet meinen schwarzen Mann. Der steht im Treppenaufgang, gleich hinter meinem Schlafzimmer. Er ist gekommen wegen mir. Ich habe seine Schritte gleich erkannt.

Hörst du, jetzt ist er da!

Sie wird den schwarzen Mann jetzt überzeugen, dass ich mich bessern werde, und so weiter, sagt sie und lächelt dabei. Sie wird ihn wieder wegschicken. Sie wird ihn überzeugen und überreden, dass er mich nicht mitnimmt.

Hörst du!?

Ich wurde starr.

Jetzt ist er da. Das ist der schwarze Mann. Hab ich dir nicht gesagt, er kommt, wenn du nicht ruhig bist und schlafen willst.

Ich zitterte und ich begann zu weinen, leise.

Horch hin! Jetzt steht er vor der Tür!

Der schwarze Mann stand jetzt tatsächlich an der Tür.

Soll ich mal schauen? Ich kann ihm sagen, dass er wieder gehen soll. Dass er zu früh gekommen ist. Dass es nicht nötig ist, dich jetzt schon mitzunehmen!?

Ich schaute nur.

Sie stand dann auf und ging zur Tür. Bevor sie auf die Klinke drückte, blinzelte sie mich noch einmal an. Ich saß im Bett und atmete, als würden Hunde mein Gesicht zerbeißen, wenn ich nur einen Mucks noch machen würde.

Nur keine Angst, sagt sie und lächelt wieder. Dann macht sie auf und geht hinaus. Sie schließt die Tür.

Ich hörte sie. Und wie der Mann dann wieder ging. Sie kam zurück. Nie wieder später habe ich was von dieser Furcht begriffen und vermeldet. Ich habe augenblicklich das vergessen, wie Steine sich in meinen Eingeweiden breit machten. Am liebsten hätte ich geschrien, allein in diesem Raum mit meiner Mutter, und all den Tönen, Lauten eingesperrt, die mich so ängstigten wie später Giftpfeile und Wörter, die nur für mich bestimmt schienen, die mich nur meinten, auch wenn ich nichts verbrochen hatte.

Die Überzeugung, dass es einen schwarzen Mann gibt.

Nur meiner Mutter folgen und gehorchen. Dann würde sie mit diesem Mann auch reden, versuchen ihn zu überzeugen, dass er mir nichts tun soll. Sie würde das versuchen für mich. Nur müsste ich jetzt endlich ganz still sein, dann würde sie das tun. Ein gutes Wort für mich einlegen.

Wenn ich das heute so hinschreiben kann, dann lerne ich verstehen, wie ich tatsächlich stumm und leise, ohne Gegenwehr, die Lügen und Geschichten, die immer auch von Toten und von Geistern handelten, in denen ich mich so verlor, in denen ich doch so verloren war, in denen ich mich so verloren fühlte, in denen ich mich so verloren fühlen sollte, auch zitterte und fror; aus Furcht davor. Mit meiner Furcht allein, und meine Mutter suggerierte mir, sie legte mir das nicht nur nahe, sie lebte mir das vor, sie überzeugte mich, dass sie der Mensch sei, der mich retten würde, wenn ich nur brav genug und anständig, wenn ich gehorsam sei und unter keinen Umständen und keinen Augenblick noch länger schreien würde. Dann würde sie, nur unter der Voraussetzung, dass ich bedingungslos gehorchen würde, mir helfen können. Ich musste endlich meiner Mutter zustimmen, ihr endlich auch behilflich sein und aufhören zu schreien.

Trotz meines ungehorsam seins, würde sie sich für mich verwenden. Die Mutter war ein Engel plötzlich, denn sie vergab mir nicht nur, dass ich nicht sogleich schlafen konnte und nicht wollte, auch dass ich wütend war, dass ich so zornig werden konnte. Sie überzeugte mich davon, dass sie mich dennoch lieb hatte, obwohl ich wütend war, nicht schlafen wollte, indem sie etwas wagte, was ich mir nicht einmal im Traum getraut hätte, den schwarzen Mann etwas zu fragen.

Solang ich meiner Mutter glaubte, gab es für mich gar keine Sicherheit. Mein Handeln, Tun, war doch Gewöhnung, anerzogen. Und nicht von einem Sinn für mich bestimmt. Sie hat das stets verhindert, dass etwas von mir stimmig für mich wurde. Ich war nicht überzeugt von mir und den Gefühlen, die ich äußern wollte. Ich war nicht überzeugt von mir.

Sie hat mich so erschüttert, immer wieder. Dennoch dachte ich, sie wird mich schützen und beschützen. Sie wirft sich vor den schwarzen Mann. Sie wird ihn mich nicht holen lassen.

Ich konnte nicht an ihr und ihren Lügen zweifeln. Sie musste gut sein und gut bleiben. Sie würde mich niemals verraten. Sie würde mich doch nie allein mit einem schwarzen Mann lassen.

Sie bot sich mir als Zeugin an. Sie war so überzeugend und so überaus infam, wenn sie mir Hilfe anbot, und mir noch später helfen wollte, auch gegen meinen Vater.

Verlassen und verloren sein und dagegen nicht wütend sein und auch nicht zornig aufbegehren.

Die Überzeugung meiner Mutter nachleben.

Und das bedeutete für mich, dass ich im Grunde seit der Kindheit Angst hatte, ich könnte jederzeit meinen Verstand verlieren; so eine große Angst und Furcht davor war doch in mir.

Ich war doch immerzu von meiner Mutter überzeugt worden, dass meine Furcht vor Strafen und Bestrafungen berechtigt sei. Dass die Befürchtung, mir könnte jederzeit etwas passieren, umsichtig und auch richtig wäre. Ich sollte einen Grund für meine Mutter immer mit mir tragen, als Stigma eines „bösen“ Kindes. Ich war von dieser Wahrheit überzeugt. Weil man aus Furcht nicht widersprechen kann. Weil ich aus Furcht ihr niemals wieder widersprechen wollte.

Ich kam gar nicht auf die Idee, dass das mein Vater damals war, der an der Tür gestanden und dessen Schritte ich gehört hatte. Es kam doch nie jemand um diese Zeit zu uns, außer mein Vater.

Nur Vater, Mutter, ich. Deshalb war ich auch überzeugt davon, niemand kann sich von seiner Furcht befreien.

Gib mir gefälligst deine Hand. Wir gehen hier nicht eher weg, bevor du deiner Mutter nicht die Hand gegeben hast!

Zu meiner Sicherheit sollte ich Mutter meine Hand geben. Oder aus Dankbarkeit, um meine Freundlichkeit und Fröhlichkeit und meine gute Absicht zu beweisen. Oder mit meiner linken Hand dem Vater schön zum Abschied winken.

Und plötzlich zittert meine linke Hand und mir wird schwindlig beim Aufstehen und etwas in mir ist so mulmig und verletzbar wie schon lange nicht mehr. Als würde etwas in mir sein, das endlich nur heraus und jetzt zum Vorschein kommen will. Nicht ein Gespenst, kein Geist, nichts Unnatürliches, nichts Übermenschliches, nur etwas Unerhörtes, was für mich einst so unvorstellbar klang, dass ich dagegen flehte, flehte, redete, mit mir, dass eines nicht wahr werden sollte, dass Vater schwarzer Mann gespielt hatte. Dass er das war. Wer soll es aber sonst gewesen sein. Das eine Mal als meine Mutter mit ihm sprach. Einmal und dann nie wieder. Lass es den Fremden sein, den Ausländer, oder den Nachbarn, oder den Nikolaus, lass es Falotten sein, Verbrecher und Dahergelaufene. Was Vater immer sagt: Alles Verbrecher, Vaterlandsverräter und Gesindel. Was denen gut täte, das wär ein Arbeitslager. Wer uns verraten hat, das waren Intellektuelle, Bessergestellte, die hohen Herren in der Regierung und der Heeresführung. Der gemeine Soldat hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen.

Was habe ich vergessen, dachte ich, was weiß ich nicht, warum wollte ich an der Hand der Mutter nicht mehr heim. Im Nebenhaus war ich mit ihr in dem Cafe. Ich wollte nicht mehr schlafen, denn schlafen war zuhause. Das Schlafen war vom schwarzen Mann bestimmt. Er fand mich aber nur Zuhause! Warum nur fürchtete ich später Anrufe. Ich schreckte, wenn ich Klingeln hörte, Telefon, Hausklingel, Fahrradklingel, Hupe, und etc. Lass es nicht Vater sein! Von mir aus auch den Tod. Lass es nicht Vater sein. Nur Vater nicht. Ich wollte keinen Vater haben, der mich verraten hat, der mitgespielt hatte, der sich für Mutter hergegeben hat, und mit ihr mich erschreckt hatte, dass ich tatsächlich nie mehr zu ihr kam und nie mehr nach ihr rufen sollte, nachdem der schwarze Mann wieder gegangen war.

Ich mache meine Augen zu und ruf nicht mehr nach Hilfe.

Mein Vater fand mich überall. Als er mich aus der Wirtschaft zog und schlug. Als er mich an den Haaren zog und hinterrücks in meinen Nacken zwickte, im Dunkeln an der Ringmauer. Er fand mich überall.

Ich schlag mein Kind solang ich will!

Doch was mein Zittern und mein Schwindel zeigt, ist etwas für mich gründlich böseres. Das Lauern, das ich in den Augen meines Vaters später immer wahrnahm, wenn er mich angeschaut, fixiert hatte. Dass etwas Böses mir auflauerte, wenn ich mit meinem Vater sprach.

Für das kleine Kind sind seine Eltern wie allmächtige, allwissende, liebende Götter. Immer. Wenn es Erfahrungen macht, die diesem Bild widersprechen, wenn der liebende Vater schreit und schlägt, versucht es sich, diese zu „erklären“, indem es sich selbst beschuldigt, um die Unversehrtheit seiner Götter zu retten, die es zum Überleben braucht. Diese kindliche Bemühung sehe ich in den theologischen und auch vielen philosophischen Bemühungen, die das kindliche Bild Gottes erhalten wollen. Warum hat der liebende Vater seinen Sohn geopfert und ihn kreuzigen lassen? Um uns von unseren Sünden zu erlösen. Warum hat er uns die Erkenntnis schon sofort nach der Schöpfung (der Geburt) verboten, noch BEVOR der Mensch „sündigte“? Sicher zu unserem besten, wir brauchen seine Gründe nicht zu verstehen, da wir an seine Liebe glauben. Warum lässt er zu, dass es Kriege, Kindesmisshandlungen und sinnlose Morde gibt, wenn er allmächtig ist und uns doch helfen könnte? Weil wir böse sind und es nicht besser verdienen. Man könnte so weiterfahren und eine schöne Kinderfibel daraus machen. Aber das hat NICHTS mit der Realität eines erwachsenen fühlenden Menschen zu tun, der es nicht nötig hat, mit offensichtlichen Widersprüchen zu leben. In meinem Buch „Abbruch der Schweigemauer“ befindet sich ein Kapitel über die Klagen des Propheten Jeremias, die diese kindliche Dynamik illustrieren.

Alice Miller, Antwort auf den Leserbrief, Ein Versuch, den ersten Ursprung zu erklären
 Donnerstag 22 Juni 2006

Der Zorn des Vaters gegen mich. Das Hämmern seiner Schritte, der Druck in meinen Ohren. Die Laute, die ich nicht verstand, sie kamen immer wieder, im Taumel, meinem Schwindel, solange ich mich nicht an seinen hemmungslosen Zorn erinnern hatte können. Er schreit in mein Gesicht. Das nahm mir auch die Luft zum Atmen, deswegen schnappte ich und meine Luft so dünn, als müsste ich in heißem Wasser baden.

Ein Kind nimmt diesen Zorn, als Schrecken gegen sein Entgegenkommen hin; als Strafe an. Für sein Gefühl und sein Empfinden an und für sich. Deshalb verstand ich auch nicht mehr die Welt. Sie war verwüstet, öd und leer, wie nach dem Untergang; Apokalypse. Verheert, verbrannt und ausgelöscht. Ich zitterte und meine Zeit stand still. Damit war jene folgenschwerste Überzeugung in mir, dass ich nie mehr und nirgendwo vor meinem Vater sicher wäre, wenn ich nicht augenblicklich still sein würde, für jetzt und alle Zeit.

Der Schrecken aller Schrecken, war Vaters Zorn. Strafender Zorn, der meine Furcht ergriff. Die Strafe seines Zorns. Der Sinn der Strafe war die Furcht, die ich fortan vor meinem Vater haben sollte.

Ich sollte mich zur Strafe fürchten. Das ist in Wahrheit gnadenlos, wie es nicht gnadenloser geht. Ich hatte keine andere Möglichkeit.

Ich sollte meine Furcht als Buße sehen und reuig anerkennen, als Schuld für mein Vergehen. Zu schreien, wenn ich wütend war, aus Einsamkeit und Schmerz. Mein Herz das hämmerte. Die Stöße, wenn ich Vater näher kommen sah. Mir hatte es von Anfang an gemangelt, an Liebe und an Freundlichkeit und deshalb wurde ich so zornig. Ich schrie um Liebe voller Zorn. Mein Vater, großer Gott und Meister, wurde so zornig und blindwütig, weil ich ihm nicht gehorchen wollte, und ich verstand kein Wort von ihm, nur seine Zähne, sein Geschrei.

Mein Vater wollte mir nicht helfen, als ich unschuldig war.