Texte von Hugo Rupp

Die Übertragung

 

Es ist, wie ich schon mehrmals betonte, nicht das Trauma, das krank macht, sondern die unbewußte, verdrängte, hoffnungslose Verzweiflung darüber, daß man sich über das, was man erlitten hat, nicht äußern darf; daß man Gefühle von Wut, Zorn, Erniedrigung, Verzweiflung, Ohnmacht, Traurigkeit nicht zeigen darf und auch nicht erleben kann.

Aus: Alice Miller, Am Anfang war Erziehung

Sie liefen einfach weg. Ich fiel, sie liefen alle weg. Sie rannten von mir weg. Ich fiel auf meinen Hosenboden, auf Kies und Steine, auf den ungeteerten Weg. Ich krachte in den Boden und rang nach Luft, wie ausgeleert in meiner Brust nach Atem. Sie waren alle um die Ecke. Tatsächlich alle weg. Das waren meine Freunde. Sie liefen einfach weg.

Wie Vater niemals da war, wenn ich ihn brauchte, so waren meine Freunde auch nicht da. Unfassbar, wie sie schnell, so schnell weglaufen konnten. Ich rief niemandem nach. Das machte ich Jahrzehnte so. Ich trauerte niemandem nach. Ich habe das auch nie gefühlt, wie sie dort einfach wegliefen, ohne ein Nachsehen. Sie sahen nicht nach mir. Sie kamen nicht zurück. Ich stand dann auf, nachdem der Klinger Hans, der Retter meines Lebens, mich fallen hatte sehen. Er kam zu mir und fragte mich, ob mir etwas geschehen sei. Ob mir was weh täte. Das hat mich Vater und auch Mutter nie gefragt, ohne Vorwurf in der Stimme. Der Klinger hat mich aufgehoben. Er hat mir aufgeholfen aus dem Dreck. Schon wieder dachte ich an meine Hose, dass sie kaputt sein könnte oder schmutzig. Der Klinger hat mir aufgeholfen. Ich ging dann um die Ecke und sah zwei meiner Freunde warten. Die andern waren weg.

Geht es!?

Es geht schon wieder.

Als wäre nichts gewesen. Ich sagte nie mehr wieder etwas dazu. Kein Wort zu dem Verrat, der Feigheit meiner Freunde. Kein Wort, dass sie geflohen waren. Ich merkte mir die Flucht, dass sie einfach geflohen waren.

Geht es schon besser! Ja?! Geht es dir endlich besser!?

Als wäre kein Leid da. Wie schwierig das doch war, den Vater zu begreifen, ob er tatsächlich nichts gemerkt hatte. Als ob er nichts damit zu tun hatte, wenn ich allein in einem Zimmer lag. Wenn ich allein aus Einsamkeit verkam. Dass er doch nichts dafür konnte, das dachte ich als Kind. Er war der ewig Unschuldige. Der nichts, für gar nichts etwas konnte. Er war nicht da. Als hätte er von nichts gewusst. Was meine Mutter für mich war. Der Vater fehlte mir einfach.

Jahrzehnte später erzählte mir meine Schwester, dass er zu ihr einmal gesagt hätte: Der Junge freut sich auf zuhause, und sie versteckt sich dann vor ihm.

Mein Vater hatte was gewusst. Von wem? Von mir doch nicht. Er hatte es gewusst und nichts getan. Mein Vater ließ die Todesspiele zu. Er ließ mich ohne wenn und aber bei der Mutter.

Der Vater blieb von mir als Kind vollkommen unberührt. Er war für mich nicht angreifbar. Vollkommen unschuldig. Da war kein Zorn und keine Wut auf ihn als Kind. Da war kein Angriffspunkt. Mein Vater war für mich als Schuldiger vollkommen unsichtbar. Vielleicht erklärt das meine Sichtweise genau. Dass er, in allem, was er tat, vollkommen unantastbar war. Er zeigte kein Mitleid. Er war wie Gott. Von Leid vollkommen unberührt. Ich liebte ihn deswegen abgöttisch. Er kam, und ich war nicht mehr so allein. Ich freute mich so sehr auf ihn.

Er zog mich an den Fersen über seinen Bettvorleger und fluchte, weil ich nicht lächelte.

Kannst du dich nicht freuen, oder willst du nicht, sagt er.

Ich suchte später immer nach dem guten Vater, in andern Vätern, Bildern, Filmen. Ich suchte unentwegt nach einem Bild, dem Nachbild meines guten Vaters. Mir fiel nie auf, warum ich das beharrlich tat, warum ich ohne Unterbrechung nach einem guten Vater suchen musste.

Ich rieche meinen Vater. Plötzlich erkenne ich auch den Geruch, den ich seit Tagen immer wieder im Gang rieche. Der graue Mantel an der Garderobe. Sein alter Mantel, den ich seit Jahren immer wieder mal im Winter trage. Ich rieche ihn. Wenn er nach Hause kam und seinen Mantel an den Haken hängte. Wenn er dann zu mir ging und mich anschaute. Wie er dann näher kam und an mir schnupperte. So nah kann ich ihn riechen. Er rümpfte seine Nase. Er suchte an mir nach Gerüchen, die er nicht mochte. Er roch nicht meine Freude oder Angst. Er roch nichts, wenn ich aus den Ohren muffig roch. Wenn alles an mir Sorge war und Einsamkeit. Er mochte den Geruch an mir nicht haben. Die Not, die aus den Poren kam.

Ich rieche keinen guten Vater. Ich finde keine Freude mehr an ihm. Als würde meine Nase schon davon laufen. Weil er von Anfang an nur immer weggelaufen ist, im Winter meines Herzens, wenn Kälte mich in meiner Not fast umgebracht hätte, dann ist er immer nur davon, wie meine sogenannten Freunde Jahre später.

Die Illusion, die mir als Kind in meiner Einsamkeit geholfen hatte, hielt mich in der Misere meiner Kindheit fest. Ich konnte nichts zu meinem Vaterbild selbst sagen. Ich konnte meinen Vater nicht in Frage stellen. Das kam für mich selbst nicht in Frage.

Jetzt ist es doch vorbei! Jetzt geht es wieder, oder, sagte er.

Ich schluckte und ich nickte. Mein Vater korrigierte mich, und ich verschluckte meine Tränen. Er ließ mein Leid nicht aus, er hielt es fest und er beherrschte mich damit.

Er ließ nicht zu, dass mein Leid auch vor ihm, aus mir ausbrechen hätte können.

Der Klinger Hans, der mich gerettet hatte, der wollte keine Besserung von mir. Der brauchte keine Korrekturen. Der wusste ganz genau, wie ich mich nach dem Sturz gefühlt hatte, nachdem die Freunde weggelaufen waren. Sonst wäre er doch nicht zu mir und hätte mich in meiner Not doch nicht erkannt.

Ich hatte immer das Gefühl als kleines Kind, ich müsste unbedingt dem Vater etwas sagen. Ihm wollte ich, nur meinem Vater wollte ich mein Leid verklagen.

Der Klinger Hans hat mich gelehrt, dass ich mein Leid auch einem Fremden anvertrauen kann. Ich brauche dazu nicht meinen Vater. Ich konnte das als Kind nicht einmal ansatzweise ahnen.

Jetzt weiß ich auch, was in mir war. Was voller Unwucht in mir steckte und in den Nächten nach mir griff, als würden Hundeherzen, auf jeden fremden Ton und Klang hin in mir anschlagen. Was nicht herauskam und auch nicht zum Vorschein hatte kommen dürfen. Mein Zorn auf meinen feigen Vater, der stets erbarmungslos sein konnte gegen mich, ein kleines Kind. Vor mir und meinem Leid floh er, da rannte er davon.