Texte von Hugo Rupp

Die Übereinstimmung

 

She laughed out loud. „I love it! A politically correct missionary! Forgive me for saying so, but it seems a total contradiction in terms.“

I forgive you, Grainger,“ he winked. „And my attitudes shouldn’t strike you as a contradiction. God loves every creature equally.“

The smile faded from her face. „Not in my experience,“ she said.

Michel Faber The Book Of Strange New Things

Mein Vater war nicht widersprüchlich. Das dachte ich mir immer nur, dass er sich widerspricht, wenn er was sagt zu mir und sich dann selbst nicht daran hält. Mein Vater widersprach sich selbst gar nicht. Für mich war widersprüchlich, was er sagte, tat und wie er sich verhielt, solange ich mein Leid nicht näher kennenlernte. Ich dachte immer noch, er wäre zweigeteilt, er würde sich auch einmal grämen. Das hat er aber nicht getan. Keine Entschuldigung und kein Moment, wo er vergessen hat, dass er das Sagen hat und wirklich alles wissen würde. Kein Widerspruch. Nicht gegen sich. Nichts war an meinem Vater wirklich widersprüchlich. Das passt doch nicht zu ihm, hab ich mir nie gedacht, dass etwas nicht zu meinem Vater passen würde. Das passt, hab ich gedacht, wie er sich seinen Schlauch mit Sauerstoff von seiner Nase riss und fluchte, sich beschwerte, im Krankenhaus auf der Intensivstation. Er widersprach sich nicht, nicht einmal kurz vor seinem Tod.

Es war ihm alles eine Konkurrenz und alles widerspenstig. Es war ihm alles so verhasst, was sich nicht selbstverständlich unterwarf. Dem Vater war ein jeder Mensch zuwider, der sich nicht unterwürfig zeigte. Für Vater musste jeder unterwürfig sein und unterwürfig leben. Für Vater sollte sich ein jeder bis zur Unterwerfung quälen. Für ihn gab es an sich gar keinen Widerspruch. Das ist mir als Kind nie so aufgegangen. Weil er mit jedem konkurrierte. Nicht umgekehrt. Er konkurrierte schließlich mit sich selbst und seinem Leid und schrie. Er konkurrierte selbst mit Gott, dem Schicksal und der Vorsehung. Doch niemals war das widersprüchliches Verhalten. Er war gegen die Welt. Nicht umgekehrt.

Ein Tier in mir, das sich andauernd selbst bekämpft. Ein Tier in mir, das sich vor mir verbirgt. Solange ich den Vater schützen muss, als Widerspruch in mir. Den Vater schützen, schon so lang. Vor mir und jedem anderen. Dem Vater widersprechen hilft. Den Vater angreifbar mir machen und mir vorstellen, dass Vater widersprüchlich sei. Was er nie wirklich war. Denn Vater lenkte alles von sich weg. Und gegen eine Krankheit schrie er so, dass ich als Kind erschrak. Mein Vater widersprach, dem Leid, dem Schmerz, der Liebe und der Anteilnahme. Er widersprach dem Mitleid, Mitgefühl und jeder Empathie. Mein Vater widersprach dem Leid, dem Leiden und dem Tod. Mein Vater widersprach, rivalisierte gegen jede Ahnung von Gefühl, doch widersprüchlich war er nicht. Er redete sich sonst was ein, mag sein, doch das war seine Rede. Er widersprach sich mit den Reden nie. Nie war mein Vater widersprüchlich. Ich wiederhole mich, weil ich das vorher nie so merken hatte können. Dass ich ihn widersprüchlich sah, dass ich ihn auch zerrissen sehen wollte. Zerrissen nahm ich ihn in Schutz. Ein Mensch selbst ohne Widersprüche, entsetzlich für ein Kind. Wie Gott.

Aus Hass.

Die Beine lügen nicht. Die Nase auch nicht, wenn es kälter wird und mir der Wind in mein Gesicht so bläst, als würde ich auf Skiern stehen und einen kleinen Abhang runter fahren, wenn mir das rechte Schienbein schmerzt und meine Beine steif werden. Wie ich beim ersten Mal andauernd schob und schieben musste. Weil meine Skier einfach nicht gewachst waren, kaputt und alt, und weil sich Vater das nicht auch noch gönnen kann, wie Mutter sagt, dass er sich das auch sparen kann, was er mir gibt, wofür er zahlt, er sorgt doch ausschließlich für uns. Kann man das nicht verstehen? Sie runzelt ihr Gesicht. Freust du dich nicht, dass du Skifahren lernen darfst? Freust du dich nicht!? Während wir weg sind, muss der Vater wieder arbeiten. Auch Sonntags muss er das.

An vier aufeinanderfolgenden Sonntagen fuhren wir in irgendwelche Berge und dort fand dann der Skikurs statt. Am kleinsten Hang zuerst, am vierten Sonntag in Kitzbühel. Und meine Skier waren schlecht und meine Kleidung viel zu dünn und meine Fäustlinge gleich nass und meine Schuhe kalt und immer wenn ich stürzte wurde mir noch kälter. Doch freuen musste ich mich doch. Am dritten Sonntag sagte der Skilehrer dann zu meiner Mutter was, dass meine Ski das lausigste wären, was er je gesehen hätte. Mit diesen Skiern könne man nicht wirklich Skifahren lernen. Er muss ja selbst beim Schussfahren anschieben, dass er nicht stehen bleibt. Das ist jämmerlich. Man könne auch einen neuen Belag einfach aufziehen lassen, das sei die billigste Lösung. Dann könne ich die Skier noch ein Jahr fahren, dann seien sie endgültig hin und jetzt im Grunde auch schon viel zu kurz. Mit einem schlechten Material müsse man sich unnötig plagen. Das sagte dieser Skilehrer über die Ski, wie Vater über Werkzeug immer redete, wenn er das Klump wegschmiss, das Zeug, den Dreck, wenn er was durch die Werkstatt schmiss, weil man mit diesem Zeug sich nur weh tut und keine gute Arbeit leisten kann. Mein Vater schickte mich mit Skiern auf den Hang, dass es zum Weinen war. Ich weinte aber nicht. Ich freute mich im Angesicht des Vaters, dass er mir das ermöglicht hat, dass er das zahlte und bezahlt hatte. Dass er mich in den Skikurs steckt. Wie grausam das für mich an jedem Sonntag war, wenn wir noch in der Dunkelheit abfuhren, die Mutter neben mir, die mich andauernd nur ermahnte, ich solle anständig auf meinem Sitz bleiben, und anständig mich jetzt verhalten, schön ruhig sein, und ungefragt nichts sagen, sieben Jahre alt war ich. Wie wir dann endlich in den Bergen waren, und immer noch die Dunkelheit und schlechter Schnee, nur Matsch, und wie ich in den Schuhen an den Zehen fror. Ja freust du dich denn nicht, fragt sie. Dann nach dem Skikurs, unten am Lift, neben dem Parkplatz mit den Bussen. An keinen Menschen kann ich mich erinnern. An kein Kind, das mit mir den Skikurs damals gemacht hatte. Ich habe alles weggeschmissen, jeden Namen, Vornamen, alles was mir so peinlich war, dass meine Ski so schlecht, ein so ein Zeug und Klump waren, dass ich noch nicht einmal, wenn alle anderen sich freuten, wenn es schnell ging, auch schneller wurde. Die Nasenspitze wird mir rot und husten möchte ich andauernd und meine Nase läuft, nur kann ich sie nicht schnäuzen, weil ich sonst meine Fäustlinge ausziehen muss. Und wenn ich die verliere, dann gnade mir Gott. Aufpassen muss ich doch andauernd auf alles, was ich anhabe und bei mir trage, auch wenn das alles Klump, geliehen, erst getragen vom Cousin, der auch nur jammern kann, wie Vater einmal sagte. Der Xaver hat gleich hingeschmissen. Das habe ich nicht gewagt. Dem Vater meine Ski hinzuschmeissen. Du musst dich noch bei ihm bedanken. Du kannst ihm doch heut Abend, wenn wir wieder zuhause sind, sagen, wie es dir gefallen hat. Dass du das so genossen hast. Wie schön das Wetter war. Die Luft so klar und einen Weitblick hatte man. Das war doch heute unser letzter Tag. Das war ein wirklich krönender Abschluss, sagt sie.

Mich freuen für den Vater. Dabei sagt mein Fuß was und meine Ferse wieder etwas anderes und meine Finger, Waden, meine Nase und meine Fusssohlen, mein Rücken und die blauen Flecken. Komm mir nicht schon wieder mit der Kälte, sagt sie und schaut mich an. Hier ist es doch schön warm. Sie sieht, dass ich vor Kälte zittere.

Jetzt schenkt dir Vater schon etwas, und du willst dich nicht freuen!

Er hat mir das bezahlt, weil meine Mutter endlich auch mal weg wollte. Und weil sie ihm tatsächlich immer in den Ohren lag, dass alle andern ihre Kinder doch zum Skifahren schicken würden, nur die nicht, die gar kein Geld hätten. Und dass der größte Schreiner in der Stadt dem Sohn nicht einmal das Skifahren und einen Skikurs bezahlen würde, sei eine Schande.

Ja freust du dich denn nicht?! Jetzt sag bloß, dass du dich nicht freust, sagt sie.

Da war gar keine Liebe.

Jetzt fällt mir wieder ein, was dieser Skilehrer gesagt hatte, wie er auf der Piste mit mir stand. Dass kein Mensch mit solchen Skiern besser fahren würde können. Niemand kann mit so alten Dingern Skifahren lernen. Niemand, wenn er sich auch noch so schindet und anstrengt. Niemand kann mit solchen Brettern Skifahren lernen. Sag das deinem Vater oder deiner Mutter.

Ich schaute ihn nur an.

Gut, dann sage ich es deiner Mutter, sagt er und fährt dann wedelnd weiter runter, wo auch die anderen schon auf uns warten.

Wie kann man heutzutage einem Kind nur solche Skier zumuten. Das ist doch das allerletzte!

Und plötzlich hasste meine Mutter meinen Skilehrer.

So wurde aus dem netten jungen Mann, ein frecher Kerl. Aus einem ganz charmanten und adretten, wurde für sie ein frecher unverschämter Kerl, der sich benahm, als würde er nicht wissen, was sich gehörte, was man von ihm erwarten würde. Dafür hätte man schließlich nicht bezahlt.

Ich schämte mich. Sie gab ihm nur die Hand zum Abschied und kein Trinkgeld. Die andern gaben ihm etwas und unterhielten sich mit ihm. Wir standen abseits.

Er quält sich doch mit diesem Ski, hatte mein Skilehrer gesagt.

Ich wusste nicht, dass ich gequält wurde.

Als Kind, als man mir meine Freude nahm, verstand ich nicht, dass mich die Mutter und der Vater quälten, doch heute weiß ich das, dass meine Überlebensstrategie darin bestand, mich dafür zu verachten und zu hassen, und jeden andern auch.

Mein Vater schlug sein Leid nicht aus, er hasste, was verwundbar war. Mit Hass verhindert und verleugnet man Gefühl. Verwundbarkeit und die Erinnerung daran. Deswegen schrie mein Vater in der Nacht, um 4 bis 5 Uhr früh als ihm der Blinddarm brach. Verhasst war ihm verwundbar sein, wie nichts, was er verfluchte und verschrie noch unter stärksten Schmerzen, war nicht die Endlichkeit oder ein anderer sinnloser Begriff, er schrie den Hass gegen verwundet sein und überhaupt Verwundbarkeit.

Sei doch nicht gar so empfindlich!

Ich schämte mich dafür. Ein Käfer, den die Menschen nur zertreten, solange er sich nicht verwandelt, oder verwundet aufbegehrt.

Mein Vater war nicht mehr verwundbar. Sein Hass war vollständig in ihm. Nichts war deswegen an ihm widersprüchlich.

Wem ich nie begegnete, das bin ich, sie mit dem Gesicht

eingenäht in den Saum meines Bewusstseins

Sarah Kane 4.48 Psychose

Wie ich mit dem Gefühl an meinem Vater hängen blieb, als hätte ich noch etwas für ihn übrig. Als hätte ich noch etwas gut zu machen. Als müsste ich noch was bezahlen; als wäre ich dem Vater immer noch was schuldig.

So wird Vergeblichkeit schließlich zur Strafe. So straft sich ein Kind selbst mit seiner Qual, mit der Vergeblichkeit selbst immer wieder.

Nur durch verwundbar sein, versichert man sich aber der Gefühle. Nur so kann man sich wirklich sicher sein.

Mein Vater konnte das nicht fühlen, wenn ich verwundet war. Er konnte das nicht fühlen, wenn ich von ihm verwundet wurde. Mein Vater konnte das nicht einmal fühlen, wie ich mich für ihn quälte. Mein Vater war nicht mehr verwundbar; er war nicht widersprüchlich. Logische Konsequenz und Übereinstimmung. So war ich also auch später, für mich und jeden anderen, nicht mehr verwundbar. Dabei ist immer Übereinstimmung der Schlüssel zu Empfindung und Erfahrung. Wer unverwundbar ist, lehrt Unverwundbarkeit. Wer liebt, lehrt Liebe, und so weiter.

Was ich jetzt endlich auch begreifen kann, ist, dass ich gar nicht feige war als kleines Kind. Ich war nicht feige, nur ein Kind, das einen Vater hatte, der jede Schmerzensäußerung als Feigheit hinstellte, als Widerspruch empfand, als Widerrede, als einen Angriff auf die Männlichkeit, auf seine Würde, seinen Stolz und männliches Verhalten. Das Arschloch, das mein Vater war, hat mein verwundet sein, als Feigheit hingestellt und abgetan. Als wäre ich, ein kleines Kind, zur Feigheit überhaupt schon fähig. Dieses Dreckschwein. Ich war nicht feige, nur verwundbar. Doch Vater hat das nur verachtet und beschämt, weil er selbst unverwundbar, gar keinen Widerspruch ertragen konnte. Wer unverwundbar ist, kann gar nicht anders, als Verwundbarkeit verachten. So wie mein Vater, war ich später auch. Deswegen habe ich Verwundbarkeit, verletzlich sein auch so gehasst und Feigheit so verachtet. Solange ich verwundbar war, hab ich mir dann, verwundbar sein, als Schwäche vorgeworfen. Ich quälte mich mit dem Gedanken, dass ich als Kind zu feige war, mich meinem Vater, nur einmal wenigstens, zu widersetzen. Ich wusste das nicht mehr, was mir verwundbar sein einst immer wieder eingeflüstert und bedeutet hatte: Leg dich nicht mit dem Vater an, sonst wird er dich totschlagen.

Was dieser Skilehrer zu mir gesagt hatte, was ich gar nicht verstand, wie er mich auch ermutigt hatte, mit seiner Wut, dass ich verwundet und gequält wurde, von meinem Vater und meiner Mutter.

Ich konnte aber mit dem Zeugnis meines Skilehrers als Kind in Wirklichkeit nichts anfangen. Ich musste mit der Mutter und dem Vater übereinstimmen. Ich musste damals abseits mit der Mutter stehen. Ich musste auch im Geiste auf die Worte meines Vaters hören und ihm somit gehorchen. Ich musste mit den Eltern übereinstimmen.

Doch heute muss ich das nicht mehr. Ich muss mich nicht mehr länger feige nennen, was ich auch gar nicht war. Ich kann mich jetzt verwundbar kennenlernen. Ich kann jetzt endlich anfangen, von mir, mit der Erfahrung des Gefühls und der Empfindung lernen und so auch mit mir selbst klar kommen; mit mir selbst übereinstimmen.