Texte von Hugo Rupp

Die Schonhaltung

 

Nichts stillt den Durst meines Schrittes

aus: André du Bouchet, Vakante Glut

Zwei Wochen war meine Mutter tot, da träumte ich, dass ich mir zwei Steine aus den Schuhen schüttelte.

Ich liege an der Wand und schaue in die Wand. Ich zittere und weine. Ich bin in einem Schlaf. Die Beine schlottern mir an meinem Körper. Ich bin in meinem Traum. Ich rausche durch den Wald und anschließend durch eine tote Gegend; ein Feld, ist alles leer. Mit meinen Siebenmeilenstiefeln bleib ich trotz allem stehen. Ich komme nicht vom Fleck. Die Beine schlafen ein. Der rechte Arm hängt mir zur Seite. Es sticht etwas. Ein Kiesel oder Stein, ein kleiner Brocken auf der Seele. Es sticht in meiner Armbeuge und sticht in meinem Kopf. Ich sage nichts, verrate nichts, ich denke nicht einmal daran, dass etwas in mir ist, das unentwegt mich sticht. Ich denke nicht im Traum daran, etwas von meiner Not zu zeigen. Ich wage und ich sage nichts.

Bin ich das wirklich hier?

Sei still. Du hast nur schlecht geträumt!, sagt sie.

Ich musste ihre Worte schlucken. Ich musste meinen Hunger auch mit sauren Silben stillen. Ich musste in die leeren, ausgedörrten Worthülsen beißen, die meine Qual, mein Hungerdenken nur betäubten.

Ich musste mich vergiften lassen.

Warum bist du denn heute gar so giftig, fragt meine Mutter.

Ich wusste nicht, woher das Gift in mir tatsächlich stammte.

Ich träumte, dass ich mir zwei kleine Steine aus den Schuhen schüttelte. Ich weiß, dass dieser Traum, in Wirklichkeit aus meiner Kindheit für mich spricht. Dass er nicht nur die Wirklichkeit ausspricht, sondern identisch mit ihr ist. Wie es für mich tatsächlich war. Ich konnte mich nicht von den Eltern trennen.

Ich hatte keine Ahnung, dass es was gibt, das dem Gehorsam widersprechen kann. Den Ungehorsam gab es nicht für mich. Ich musste mit den Steinen in den Schuhen wandern und meinen Eltern folgen.

Gehorsam folgte ich im Leben. Ich schämte mich für Fremdes und für Fremde und kam gar nicht auf die Idee, das könnte auch Gehorsam sein.

Schämst du dich nicht!, sagt sie.

Du solltest dich was schämen, sagen beide.

Ich nahm auch die Verleumdung hin und wurde ein Verleumder.

Was schaust du mich so an! Hör endlich auf damit. Stell nicht so dumme Fragen!, sagt er und sie.

Wenn sie die Augenbrauen hob und ihren Blick gefährlich senkte. Mit einem, Pscht!, war Schluss, dann war ich still, dann musste ich verstummen.

Wenn Vaters Hand mich schlug, dann war auch Schluss. Ich kannte nur gehorsam sein. Ich konnte nur gehorsam bleiben. Ich konnte nicht von mir aus gegen meinen Vater und die Mutter sein. Ich konnte nicht alleine ungehorsam werden. Ein Kind kann nicht alleine ungehorsam sein.

Ich hatte Angst, nie von den Eltern wegzukommen. Auch Siebenmeilenstiefel würden mir nichts nützen, solange meine Füße in den Schuhen, gehorsam meinen Eltern folgen würden.

In meiner Gegend ohne Wort vermied ich jede Klage. Ich hasste später jedes Heim. Ich hatte Angst vor Dunkelheit und Mord. Der Ort, den mir die Eltern zugewiesen hatten. Und niemand außer mir war dort. Dort sollte ich dann still sein und gehorsam warten. Ich kam nicht fort. Ich konnte mich nicht fortbewegen. Ich musste auf den Vater und die Mutter warten. Deshalb war jener Ort, an dem ich in der Kindheit war, ein kalter, toter Ort für mich. Ich kam nicht weg von meinen toten Eltern.

Das Ungelöste befreien

Plötzlich fällt mir ein Satz von Vater ein. Der mich verbrannte und verdammte, und dessen Schwindel, Heuchelei ich nicht verstehen hatte können: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu.

Mein Vater machte mich zum Täter und Verräter, verantwortlich und schuldig, wenn ich von ihm und meiner Mutter, und von Zuhause etwas sagen würde. Er machte Wahrheit madig.

Ich wollte nicht verraten und verraten werden.

Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu.

Wenn ich das heute ernst nehme, was ich als Kind nicht fassen konnte, was sich mein Vater dabei dachte. Was er im Grunde mit mir machte. Wenn er von mir verlangte, was er selbst niemals tat und fertig brachte. Den anderen begreifen. Wie der sich fühlte.

Wie sollte jemand, der das weiß, dass man nicht jemand schlägt und weh tut, jemand dann einfach schlagen können? Wie soll jemand, der weiß, was einsam sein bedeutet und wie sich das anfühlt, sich dann vor einem Kind verstecken und verstecken wollen?

Ich konnte diesen Widerspruch nicht lösen. Ich konnte das nie auflösen, weil ich auf meine Eltern hören musste. Ich konnte mir die Wahrheit nicht erlauben, die ohne Widerspruch wahr war.

Sie fühlten beide nichts von alledem, was ich vor ihnen fühlte. Sie sahen mich nur an. Sie gaben leere Worte wieder und wussten nicht, was in mich kam, wenn sie mich schlugen und erschreckten. Sie merkten beide nie, was sie mir antaten. Sie konnten nicht mitfühlen. Die Empathie war nicht mehr da. Sie fehlte ihnen beiden. Die Empathie war tot in meinen Eltern. Deswegen hörten sie nie auf, mir Schrecken einzujagen. Sie hatten keine Empathie, deswegen konnten sie sich auch nicht ändern. Es gab in meinen Eltern keine Liebe, die sich einfühlend äußern hätte können. Wer lieben kann, der muss sich schließlich liebevoll und liebend äußern. Der kann ein Kind nicht schlagen und zu Tode ängstigen. Der kann nicht anders fühlen. Jemand der fühlt, der kann nicht nicht fühlen.

Was ich als Kind nicht wusste, war, dass ich den Eltern meine Liebe nicht verdankte.

Ich musste meine Eltern lieben. Ich wusste nicht, dass niemand einen Menschen liebend machen kann. Ein Kind kann Empathie und Liebe niemand beibringen.

Ich wartete, dass meine Mutter und mein Vater von selbst drauf kommen würden, dass mir was fehlte. Warum ich komisch ging und zwischendurch auch hinkte.

Ich dachte immer nur, ich wüsste nicht, was mich bei meinen Eltern je erwarten würde. Das war mein Rettungsdenken. Was ich als Kind nicht fassen konnte, das sollte und das durfte es für mich nicht geben. Die Eltern ohne Trost und Empathie sind für mich undenkbar gewesen. Dass meine Not für meine Eltern tot war, als hätte es sie nie gegeben.

Sie töteten mir meine Liebe und Empathie fast vollständig.

Ich war mit meinen Eltern in den Bergen. Da war noch meine Tante und ihr Mann dabei und meine Oma. Mein Onkel Martin und die Oma. Der Martin spielte mit mir Fangen und schnitzte kleine Schiffe aus Baumrinden für mich, und meine Oma freute sich mit mir und meinem Onkel.

Ein Herz aus Stein

Ich dachte, ich sei Versager und ein Stein, der keine Anerkennung und kein Lob verdienen würde. Ich dachte immerzu, ich merkte nichts und fühlte viel zu wenig für die Eltern. Dabei war das nicht wahr. Sie konnten nichts von dem mitfühlen, was in mir war und wahr.

Die Schonhaltung

Die Haltung, dass es vielleicht doch besser wäre, nichts zu fühlen und auch nichts zu merken, von Leid und Unglück und Verbrechen, entspringt der Ehrfurcht vor den Eltern und dem Gehorsam gleichermaßen. Die Haltung vor den Eltern. Mit dieser Haltung schont ein Kind im Grunde jene, die seiner Not gleichgültig gegenüber standen. Ich wurde feige und notgedrungen noch zur Feigheit selbst gezwungen. Zur Feigheit gegenüber den Erwachsenen, die meine Liebe stets verachtet hatten.

Ich schonte sie, weil ich auf ihren Trost und ihre Liebe wartete. Ich konnte niemand trösten, solange ich auf Liebe wartete. Solange dachte ich, ich könnte nicht getröstet werden, weil ich nicht einmal selbst mich trösten hatte dürfen.