Texte von Hugo Rupp

Die fehlende Liebe

 

Was fehlt dem Jungen denn schon wieder. Was ist denn jetzt schon wieder los, sagt er.

Ich weiß nicht, was ihm wieder fehlt, er ist die ganze Zeit schon wieder so, sagt sie.

Wenn etwas fehlt, dann bin ich krank. Sie sagen das, dass wenn dir etwas fehlt, dass du dann krank bist, schon wieder krank.

Sie machen dich nun krank, wann immer dir was fehlt, bist du in ihren Augen krank. Wann immer du auch schreist, und deine Wut vermeldest, dann sehen deine Eltern ein krankes Kind nur kränker werden. Wann immer sich ein Wunsch in dir und für sie melden will und du sie mit den Lauten weckst und auf dich hinweist und dich deutest, dann fehlt dir etwas mögliches. Sie geben dir die Schuld für deinen Mangel, sie geben dir die Schuld und weisen deinen Mangel, der dich quält, auf dich zurück und machen dich nun krank dafür. Sie machen dich für alles krank, was du an Lauten für sie übrig hast. Sie machen jeden Laut nun krank, wann immer du dich unwohl fühlst und in die Windeln machst, wann immer etwas ist, das sie nicht mögen, dann fehlt etwas.

Was fehlt denn jetzt schon wieder!

Du warst für sie schon chronisch krank, als du nur mehrmals nach den Menschen riefst.

Was fehlt dem Jungen nur!?

Ich weiß mir weder ein noch aus. Er schreit die ganze Zeit. Er hört nicht auf damit.

Du zeichnest, und sie mag nicht was du zeichnest. Ihr fehlen Farben, die sie mag, und überhaupt gefällt ihr nicht dein Bild. Sie mag nicht deine Häuser, ihr fehlen Fenster, die sie mag und ein Balkon. Ihr fehlen hier die Dinge die sie mag und dort nun wieder andere. Sie mag das nicht, wie du es machst. Ihr fehlen an den Sachen, die du tust, das was sie gerne hätte, das sagt sie dann und fügt es auch hinzu. Sie zeichnet deine Bilder um, sie baut die Legohäuser weiter. Sie macht die Bilder und die Häuser krank. Sie macht dich krank. Du bist, indem du diese Häuser baust und diese Zeichnung machst, ein krankes Kind. So fehlerhaft und voller Mangel, so mangelhaft, wie später deine Noten sagen. Du bist ein mangelhaftes Kind.

Du hattest Jahre später eine Phantasie, die schon Befürchtung war, du wusstest niemals woher sie kam, wo sie entstand, dass wenn du einmal Kinder haben würdest, das Kind behindert sei. Du hattest diese Furcht, dass wenn du einmal Kinder haben würdest, die stets doch mangelhaft, behindert, und nicht „normal“ ins Leben kommen würden.

Sag mir doch, was dir fehlt?

Sie will dich lautlos haben. Lautlos und still bist du ihr bestes Kind, wenn du die Wünsche dir enttäuschst, wenn du dich selbst beschwindelst, wenn du dir deine Wut ausredest, wenn du dich still, noch stiller machst, und insgeheim in dir das Weinen nicht mehr lassen kannst, so grausam ist es doch, dich stets als Krankheit selbst zu fühlen, als krankes Kind, das seinen Eltern Sorgen auch bereitet, weil sie sich um dich kümmern müssen, weil du nicht sagen willst, was dir doch fehlt. Du weißt es schließlich selbst nicht mehr, was dir einst fehlte, was immer noch dir fehlt, was niemals da war, was dir fehlt. Dass es was gibt, das was dir fehlt und was du selbst nicht sagen kannst, weil es dir selbst noch immer nur verborgen ist.

Du bist mit deinem Mangel stets allein. Du suchst nach deinesgleichen, nach deinem Mangel auch in anderen. Du suchst die Augen für den Mangel, der dich ergriffen hat, du suchst nach greifbar anderen, die dich in sich erklärbar machen. Die sich mit dir verständigen, die dich verständlich machen. Du bist doch selbst dir unverständlich. So unvorstellbar wie ein Traum, dort siehst du deine frühe Mutter mit Pusteln übersät und eine Kappe tragend. Sie schaut dich nicht mehr an, sie hat die Augen dunkelschwarz, sie sagt kein Wort und ist schon wieder weg, sie will schnell weg, wo du jetzt ihre Punkte siehst am Hals und auch im Nacken. Sie will nicht, dass du etwas siehst, das ihre Krankheit zeigt, das sich bei ihr als Krankheit meldet. Sie schüttelt leicht den Kopf und macht den Mund zu einer Schnute. Ihr fehle nichts, sagt sie, das ist die Zeichensprache. Ihr fehle nichts. Du lächelst nicht, du fürchtest dich. Die Fremde ist nicht fassbar. Das ist auch deine Mutter nicht, so wie sie steht und aussieht, jetzt, sieht sie der Freundin täuschend ähnlich, die sich das Leben nahm und die doch bis zum Schluss niemals von Mangel redete.

Uns fehlt doch nichts. Wir haben doch alles. Schau dir nur andere an, sagt sie.

Was andere haben interessiert mich nicht, sagt er.

Ich konnte ihre Lügen nicht entdecken. Ich konnte sie als Kind nicht sehen. Ich nahm das Wort für Wort in mich. Ein Kind kann keine Lügen hören. Es muss die Wahrheit hören, und wenn es Lügen hört und diese dann verbreitet, so wie es sie von seinen Eltern lernte, weil es sie hörte Tag für Tag, dann hat es nur die Wahrheit selbst verbreitet, die eine Lüge war, doch nicht für sich.

Ein Kind, dem nie was fehlen durfte, das immer nur als krank behandelt wurde, auch wenn es schrie, besonders wenn es schrie, das sich mit Weißglut letztlich äußeren wollte, das seinen Mangel wütend, zornig, voller Hass doch allen kundtun wollte, das schreit und immer wieder schreien muss, wird immer nur von Mangel und von Krankheit künden, so wie die Welt ihm immer war, wie man sie ihm bezeichnet hat, wie man sie ihm als Kind bezeugte. Dass alles Krankheit ist, nur Krankheit sei, das einen Mangel hat, dass Krankheit alles sei, was zu erwarten ist, dass Leben selbst die Krankheit sei, die nur zum Tode führe. Wer seinen Mangel nicht erleben durfte, der nimmt das Leben nun als Krankheit an, die ihn zum Tode führen wird. Der kann nicht anders sein, als krank, nur für die Eltern, seine ersten Zeugen, die ihm das immer wieder nur, an Grausamkeit nicht zu überbieten, ihn selbst als Krankheit immer nur bedeutet und gezeichnet haben. Mit ihrem Kind, da konnten sie gesunden. Das Kind war krank, den Eltern fehlte nichts. Das Kind glaubt fest daran, das muss es glauben, dass es die Krankheit ist und seine Eltern die Gesunden, denn sie sind es, die dir das Wort verkünden, von dem was wahr und falsch und richtig, krank, normal, behindert, und verrückt, was Lüge und was Wahrheit ist.

Sieh in den Träumen nach, wo deine Eltern und diejenigen, die ihnen ähnlich sind, die ihre Stellvertreter heut markieren, die deine Grenzen zeichnen, mit deinen Bildern, die du träumst. Wo lügen sie, wo sagen sie dir Sachen, die du am nächsten Tag, nun wach, als Lüge kannst erkennen. Der Traum lügt nie. Du Kind lügst dich nie an. Dein Traum, der kann nicht lügen, er zeigt dir nur, wo deine Art zu lügen hergekommen ist, wer dich mit seinen Lügen strafte. Doch heute kannst die Lügen, die dich zum Kranken machten, als Lügen doch erkennen.

Was ist denn noch. Fehlt dir noch immer etwas?

Die Langeweile

Die Ruhe, die Stille, die sie haben will. Dich lautlos, ohne Ton. Sie ist nicht fassbar, und unvorstellbar ist dir ihre Art geblieben, die Angst vor allen Tönen. Nicht greifbar, weil sie nie selbst der Angst in ihr begegnen konnte. Sie schob die Angst dir zu und machte sich so lautlos, wie dich selbst. Sie schob dir jenen Schwindel zu, dass sie es ist, die sich vor dir und deinen Tönen ängstigt, dass du es bist, der ihre Angst entfacht, dass du es bist, das laute, wütende Kind, das sie entfacht und dann verstummt. Dass du es bist, der sie verstummt und aus dem Zimmer treibt, der ihre Angst erst gründet. Der Schwindel ist, dass dein Gefühl, das deiner Kinderwut, die deinen Mangel für dich zeigte, die sich und dich verständlich machen wollte, der Mutter ein Gefühl der Angst eintrieb, in ihr verursachte. Dass du mit deiner Wut erst ursächlich bist für ihre Angst, als wärest du, das Kind, das immer schon gewesen, als hätte es vor dir niemals die Angst der Mutter je gegeben. Als Kind, da konntest du nicht anders als die Wut verstecken und schließlich für die Mutter lautlos werden, die nur mehr zu dir kommen wollte, wenn du für sie nun still und leise bleiben würdest. Sie ließ dich sonst allein. Du musstest deine Wut verstecken. Die hinter deinen Zähnen ist und auch in deinen Augen steckte, die deine Backen füllt und lauthals künden will von deinem Mangel; Hunger. Sie machte dich zu diesem Kind, damit du ihr gefällst, damit das Bild, das du in ihren Augen bist, sein sollst, dem ihren gleicht, wie sie das selbst mit ihrem Leid auch zeigen und abgeben musste. Du gibst ihr Bildnis, Zeugnis ab, du kündest jetzt von ihrer Wahl, die sie einst treffen musste, als Kind, die „Krankheit Kindheit“ anzunehmen. Du musst, um in deiner Einsamkeit zu überleben, ihr Bildnis sein, auch wenn sie dich zu Tode ängstigt, niemals mehr wieder wütend sein. Auch wenn sie sich erhängt und vor dir stirbt und in dem See aus Blut versinkt und untertaucht und mit den Augen droht, dann sollst du ruhig bleiben, als stündest du allein in einem Wald und würdest Ruhe auch empfinden. Du musst dich selbst belügen und lernst für sie die Angst nun zu beherrschen. Du schreist nie mehr in ihrer Gegenwart. Auch wenn die Angst vor ihr dir deine Arme hängen lässt, wenn du die Arme selbst nicht mehr verspürst, weil sie an dir wie ohne Muskeln hängen, taub. Du musst dich selbst betäuben. Das ist es doch tatsächlich. Dass du die Angst betäuben musst und deine Wut verhindern.

Erinnere dich, als du die Männer sahst, denen Gliedmaßen fehlten. Ein Arm, ein Fuß, und auch ein Auge, der Mann dem beide Beine fehlten, den schautest du schon an. Die Krückengänger. Doch durftest du nie fragen, wenn Vater mit dir ging, was denen fehlte. Denn über Kriegsversehrte redet keiner.

Schau nicht so hin. Das tut man nicht. Man schaut nicht auf so was, sagt er.

Du sollst dem Krieg und was er aus den Menschen macht mit Schweigen nur begegnen. Auch wenn du Mitleid hast, und dann erst recht. Du sollst kein Zeuge sein für Unglück und Gebrechen, sollst ruhig, lautlos, stumm dem allen nur begegnen. Mit ihrem Lächeln jetzt, wenn sie dich still betrachten. Du bist jetzt stumm. Du musstest deine Wut verstecken. Es war nicht deine Schuld, niemals auch Form von irgendeiner Schuldigkeit. Du musstest Zeuge deines Leidens sein und ihres Schweigens darüber. Du warst der Vater und die Mutter, die sie als Kinder hatten.

Als Kind warst du nicht ihre Wahl. Das solltest du nie sein. Denn davon kündet deine Wut. Du solltest niemals deine Kindheit schreiben und bezeugen, du solltest nur die Krankheit ihrer zeigen und somit selbst der Krankheit huldigen. Die Kindheit sollte stets als Krankheit gelten und auch nur so behandelt werden.

Im Grunde schreist du seit du auf der Welt hier bist. Das Kind will endlich etwas sagen und klarstellen.

Ich bin nicht krank. Ich bin unschuldig.

Das Unheil, das in ihren Bildern lag, dass Leben nur Verwesung, Krankheit, Sünde sei, das Unheil, das dir damit drohte, das war die Lüge ihres Leidens, die sie in dir, mit dir bezeugen wollten. Du solltest ihrem Leben folgen. Dem Leben, dem auch sie schon Folge leisten mussten, dem solltest du nun Folge leisten. Gehorsam bis zum Tod.

Die Wut des Kindes leistet Widerstand. Die Wut markiert dein Recht, für dich und deine eigene Geschichte. Das Kind hört auf, sich einem Unheil und seinem Leben selbst ausgeliefert zu fühlen. Weil es nichts ändern KONNTE, weil es sonst nur allein gewesen wäre und wirklich einsam, ohne einen anderen Menschen. Es wäre doch in seiner Einsamkeit gestorben, wenn es die Wut auf seine Eltern nicht damals aufgegeben hätte.