Texte von Hugo Rupp

Die Entmutigung

 

Träumt am helllichten Tag, sagte er. Pass gefälligst auf, wohin du trittst. Dass du nicht hinfällst.

Wir sind im Gebirge. Wir gehen. Meine Tante ist dabei. Meine Oma. Vater, Mutter. Wir marschieren. Ich soll Schritt halten. Wir sind in der Zeit, sagt er. Wir müssen um halb wieder unten sein, dann sind wir rechtzeitig auch wieder zuhause. Träumt am helllichten Tag, sagt er und lacht so laut, dass andere, die uns überholen, ihn anschauen. Sie mögen meinen Vater nicht. Das ist ihm egal. Er redet einfach weiter, von wegen zeitlich zuhause sein und nicht in die Dunkelheit kommen. Zu spät. Wenn wir zu spät kommen und in die Dunkelheit, dann ist das allein meine Schuld, weil ich so trödle und nicht schneller gehe. Egal wie wir auch gehen, Vater geht voran und redet unablässig. Ich soll nicht träumen. Ich beobachte ihn. Ich darf ihn nicht aus den Augen lassen. Sonst lässt er mich zurück. Er lässt mich hier. Sonst lassen wir dich hier. Dann kannst du die Nacht allein hier verbringen, sagt er. Träumt am helllichten Tag! Je später es wird, desto mehr Verkehr wird sein. Wenn wir nicht einen Zahn zulegen, dann kommen wir in die Dunkelheit. Keiner sagt mehr etwas. Vater wird mit jedem Schritt ärgerlicher. Wir sollten dich einfach hier lassen.

Wo hast du denn den verdammten Skistecken hin gesteckt, fragt er. Wo hast du nur den verdammten Stecken hin. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Verliert seine Skistecken. Und ich muss dir dann neue kaufen. Fällt mir gar nicht ein. Geht mit seinen Sachen um, als würden sie ihm nicht gehören, sagt er. Als hätte ich einen Geldscheißer. Als könnte ich mir leisten, jeden Tag neue Skistöcke zu kaufen. So gehst du also mit deinen Sachen um. Wir stehen auf dem großen Parkplatz unterhalb des Lifthauses und suchen meine Stecken. Ich finde sie nicht mehr. Vielleicht hat sie auch jemand mitgenommen, sage ich. Gestohlen. Ach was, sagt er. Wer wird denn deine Skistöcke stehlen wollen. Sonst ist die Welt voller Diebe und Verbrecher. Alle sind für meinen Vater Diebe und Verbrecher, außer jetzt, da ich meine Skistöcke nicht mehr finden kann. Dann müssen wir wohl oder übel ohne die Stöcke fahren, sagt er. Ich weiß nicht, ob ich sie verloren habe oder ob sie mir jemand gestohlen hat. Es ist dunkel und die Autos fahren eines nach dem anderen weg und es wird noch dunkler und kälter, aber wir finden sie nicht. Ich bin mir sicher, dass ich sie hier neben dem Haus in den Schnee gesteckt habe, aber da sind sie nicht mehr.

Meine Hefte habe ich meinen neuen Freunden geliehen. Die Comics, alle meine Lieblingshefte, mit den Dschungelhelden und den anderen. Sie dürfen von ihrer Mutter aus nicht Comics lesen, deshalb haben sie auch keine zuhause. Sie haben überhaupt noch nie Comics besessen. Ich leihe ihnen meine. Damit wir Freunde werden, denke ich. Damit sie mit mir spielen, dass wir Freunde werden. Dass ich nicht allein bin. Seitdem ich die Schule gewechselt habe, sind die alten Klassenkameraden nicht mehr gern mit mir zusammen. Sie schämen sich und ich schäme mich. Wir schämen uns immer nur alle, weil wir nie etwas miteinander reden. Sie haben die Hefte schon zwei Wochen und dann will ich sie doch zurück haben. Sie bringen sie aber nicht wieder. Weil nach einer nächsten Woche einer der beiden Zwillinge sagt, dass ihre Mutter sie beim Lesen erwischt hätte und dann zur Aschentonne mit den Heften gegangen sei und sie hinein geschmissen hätte. Untersteht euch, sie heraus zu holen, hat sie gesagt, sagt Martin. Ich schaue ihn an und bin so wütend, dass ich fast weine. Aber ich weine nie. Ich sage: Aber das hättet ihr mir doch sagen können, dass ich sie aus der Aschentonne holen kann, wenn ihr euch nicht traut, sie aus der Aschentonne zu holen, sage ich.

Da haben wir nicht dran gedacht!

Ich hätte sie doch holen können. Wo sind denn die Aschentonnen, frage ich. Da, sagt der andere Zwilling. Da. Aber sie sind leer. Sie sind vor zwei Tagen geleert worden. Ich gehe hin und hebe den Deckel und da ist Dreck, aber keine Hefte. Aber ihr hättet es mir doch sagen können, sage ich. Warum habt ihr das nicht getan!?

Unsere Mutter hat gesagt, wenn du etwas von uns willst, dann sollst du zu ihr kommen. Sie muss dir keine neuen Hefte kaufen, weil du gewusst hast, dass wir keine Hefte lesen dürfen. Du hättest sie uns nur nicht zu geben brauchen, sollen wir dir sagen.

Das hast du dir ganz allein selbst zuzuschreiben, sagt Vater. Was leihst du denen auch deine ganzen Hefte. Man leiht doch nicht seine ganzen Hefte her. Ich kann doch nicht sagen, dass ich dafür Freundschaft erwartet habe. Dass sie mit mir spielen. Vater interessiert das nicht. Ich war immer auf mich allein gestellt, sagt er. Die einzigen Freunde, die ich hatte, sind alle im Krieg gefallen. Im Leben wird einem nichts geschenkt. Er sieht mir an, dass ich am liebsten schreien möchte. Da brauchst du dich nicht aufzuregen. Wenn du sie ihnen nicht geliehen hättest, wäre das nicht passiert. Danach ist man immer schlauer, sagt er. Er müsse jetzt wieder arbeiten, sagt er. Vielleicht fällt deiner Mutter eine Lösung ein, sagt er. Ihr fiel auch nichts anderes ein, als dass mir das eine Lehre sein solle für die Zukunft, dass man Sachen nicht einfach verleihe, die einem geschenkt worden sind. Mit Geschenken geht man nicht so fahrlässig um, sagt sie. Man verleiht doch nicht alle seine Hefte.

Ich krieche euch nach, ich bin ein Jahr. Ich robbe. Ich höre euch. Ich höre eure Stimmen. Da ist das Licht und oben ist der Himmel und unten sehe ich euch stehen. Da kommen eure Stimmen her. Weiter, Bretter, Wege. Ich bin im Lichthof oben und schaue aufgerissene Augen an. Ihr schreit. Dass Mutter ihren Mund vergrößern kann, das weiß ich längst. Dass Vater fürchterlich mich anschreit, dass ich in mir zusammenzucke. Ich bin euch gefolgt. Ich bin euch nach, ich folgte euch. Ich suchte euch.

Sie nahmen mich und steckten mich in meine Bettstatt.

Ich träumte von den Eltern. Ich lag im Bett und sah sie vor mir stehen. Sie waren ohne Mund und ihre Augen fehlten. Sie standen regungslos vor mir. Sie standen einfach da und rührten sich kein bisschen. Sie standen einfach da. Ich atmete und schrie sie an. Ich schrie in meinen Traum und wachte davon auf. Ich lag allein in meinem Bett. Da war niemand. Ich sagte leise, Mama. Ich schaute an die Decke und schließlich schlief ich wieder ein. Da waren wieder die Gesichter. Sie waren meine Eltern. Sie waren wieder da und standen dort am gleichen Fleck. Sie waren wieder blind und hatten statt der Augen weiße Stellen. Ihr Mund war zugedrückt und konnte sich nicht öffnen. Ich schaute sie solange an, bis sie vor mir verschwanden. Ich hatte immer wieder diesen Traum, bis er in mir verschwand. Jetzt ist er mit dem kleinen Kind, das diesen Traum einst hatte, wieder aufgetaucht.

Der Traum ist keine Phantasie.

Ich nahm die Augen weg. Ich schloss den Mund. Ich machte Arme taub. Sie hingen schlaff an jeder Seite. So kann mich niemand schlagen. Kein Wort, kein Laut, kein Fluchen und kein Schimpfen.

Der Vater und die Mutter. Ich. Mein Traum verrät mir mein Gefühl. Was kein Spiegel und kein Gegenüber sehen durfte. Die Wut, die in mir bleiben musste. Und seine Furie, die blinde Wut, von meinem Vater, und meine Mutter, die nur schwieg. Verschwiegenheit und Schweigen ist verlassen.

Ich war fassungslos vor Angst. Vor ihm und ihrem Schweigen, dass ich die Not, die in mir war, schließlich mit meiner Wut begrub. Ich machte mich selbst taub. Das Handwerk, Wut und Not zu töten, hab ich von meinen Eltern abgeschaut.

Der eine schlug die Wut und Not mit seinen Händen nieder, während die andere den Mund und ihre Augen schloss.

Ich habe als Erwachsener nicht verstanden, warum ich Menschen scheinbar grundlos hasste. Ich hasste alle, die das Gesetz der Eltern achteten.

Ich hasste alle, die Zeugen waren und mir nicht halfen. Ich hasste jeden insgeheim, der auf der Seite eines Vaters war. Der seinem Blick gehorchte. Ich hasste jeden, der keine Wut auf seinen Vater hatte. Am meisten hasste ich diejenigen, die ihre Väter mochten. Ich hasste alle, die an ihren Vätern hingen. Ich hasste alle guten Kinder. Ich schämte mich dafür. Ich hasste mich und jeden, der seinen Vater schweigsam, fraglos nur erduldete. Ich hasste mein Gefühl.

Ich wollte dieses Kind nicht länger sein. Ich hatte aufgehört ein Kind zu sein. Ich hörte auf, auf seine Not zu achten. Ich hörte auf, auf mich zu hören. Es gab niemand, der mich mit Rechten schützte. Ich hatte nicht das Recht, in Not zu sein. Niemand gab mir das Recht ein Kind mit Wut zu sein. Ich konnte mich nicht schützen.

Mein Vater hasste Widerspruch. Wer seinen Wünschen widersprach, war unerwünscht. Wer nicht wie er empfand, war unerwünscht. Wer ihm nicht Folge leistete, war unerwünscht. Er hasste alles Unerwünschte. Er hasste alles Unerwartete. Er mochte keine Überraschungen. Mein Vater hasste Geschenke. Mein Vater hasste jedes unverhoffte Ereignis. Er hasste meine Kinderkrankheiten. Er hasste meinen Husten. Jede Krankheit war etwas, das er nicht wollte. Ich war mit meinen Krankheiten unerwünscht. Ich war verhasst mit meinen Kinderkrankheiten. Mein Vater hasste Widerrede. Nur keine Widerrede. Nur wieder keine Widerrede. Nur keine Schnute ziehen. Nur keine Schultern hängen lassen. Nur keinen Husten. Nur keinen Durchfall. Nur keine Fiebernächte. Nur keine Schreierei. Nur kein Weinen. Nur keine Anhänglichkeit. Nur keine Tränen. Was seine Laune störte, war verhasst. Weil er es hasste. Er wurde zu es. Das mag dein Vater nicht! Das wird dein Vater nicht mögen. Das wird ihm nicht gefallen, sagte meine Mutter. Was ich tat und was ich wünschte, was mir gefiel, erweckte seinen Hass. Der Hass des Vaters blieb ohne Frage, nicht hinterfragt. Der Hass des Vaters war Gesetz. Mein Vater herrschte ohne Frage. Ich wusste nie, was er selbst mochte. Ich lernte, was er nicht mochte. Ich lernte seine Abneigung und seinen Hass. Ich lernte ausschließlich, das was mein Vater hasste, kennen. Ich speicherte in mir die Hassausbrüche meines Vaters und merkte mir, was ihn in Rage versetzte; ohne dass ich es verstand. Ich lernte aus Angst und Schmerzen meinen Vater kennen. Gehorsam lernen heißt, den Vater fürchten lernen, zu lernen und zu wissen lernen, was seinen Hass erregt. Zu ahnen lernen, was seinen Hass erregen kann. Wenn meine Mutter sich umdrehte und in ihre Küche verschwand, dann war es wieder höchste Feuerwehr. Jeder musste dem Gesetz des Vaters dienen. Jede Frage an meinen Vater war eine Widerrede. Ich hatte Angst vor Fragen, weil jede Frage den Hass des Vaters erregen konnte.

Es gab keine Frage nach meinen Wünschen. Ich fühlte mich gehasst mit meinen unbekannten Wünschen. Ich fühlte mich gehasst mit meinen ausgesprochenen Wünschen, wenn sie nicht denen meines Vaters entsprachen. Ich fühlte mich gehasst mit meinen Bedürfnissen. Ich fühlte mich verhasst. Ich war das Hassobjekt, mit meiner Widerrede. Jeder eigene Wunsch war Widerrede.

Ich war verhasst mit meiner Wut. Meine Wut war das von meinem Vater meist Gehasste. Er hasste Wut. Er hasste meine Wut. Die Mutter schob mich aus dem Zimmer, wenn ich nur weinte. Das hätte schon den Vater wütend machen können. Ich wurde weggeräumt mit meinen Tränen. Mein Vater hasste Tränen. Sie schob mich weg mit meinen Tränen. Er wollte keine Tränen hören, er wollte keine sehen. Für meinen Vater waren die Tränen eines Kindes sinnlos. Weil es in seinen Augen keinen Grund gab, dass ein Kind weinen musste, außer es verhungerte. Ein anderes Bedürfnis außer Hunger, gab es nicht für ihn.

Als ich im Fernsehen die Kinder sah, die sie in Biafra verhungern ließen, habe ich keine einzige Träne gesehen. Kein Kind weinte. Diese Kinder weinten nicht mehr. Sie hatten keine Kraft mehr dazu. Sie hatten ihre Widerrede eingestellt. Die Ergebenheit gefiel meinem Vater. Er konnte diese sterbenden Kinder betrachten, ohne wütend zu werden. Kinder, die sich ergeben hatten, die gehorsam, ohne einen Laut des Vorwurfs und der Anklage, vor Millionen Fernsehzuschauern starben. Die sterbenden Kinder besänftigten meinen Vater. Diese Kinder machten ihn nicht wütend. Die Trauer war erlaubt. Ich erinnere mich an keine Wut von Erwachsenen. Ich kann mich an keine wütende Reaktion erinnern. Die Menschen hatten sich in ihr Schicksal ergeben. Sie starben gehorsam und brav. Das waren brave Kinder und brave Erwachsene, für die erwachsenen Zuschauer. Die sich in ihr Schicksal fügten ohne Widerrede, ohne einen Ton und Laut, ohne Widerrede; Widerrede; Widerrede und Empörung.

Sie waren ohne Widerrede.

Meine Eltern waren ohne Widerrede.

Mein Vater war ohne Widerrede und Empörung.

Die Trauer meiner Mutter war ohne Widerrede.

Ohne Empörung.

Sie waren ohne Mut.

Der Hass des Vaters, sein Zorn und seine blinde Wut, schlug immer nur die Widerrede aus. Schlug immer nur den Widerstand im Anfang nieder. Schlug immer auf den ersten Widerstand. Schlug jeden Mut für mich, vollkommen aus. Mein Vater schlug mit seinem blinden Hass, meinen Mut kurz und klein. Er schlug jeden Mut kurz und klein. Jeden Widerstandsgeist in seiner Nähe. Jedes Anzeichen von Mut und Widerstand. Mein Vater hasste jedes Anzeichen von Mut, das sich ihm widersetzte und ihm widersprach.

Er wandte seinen Kopf und schaute dann zu meiner Mutter, weil ich nicht aufhören wollte, ihn zu fragen. Ich wollte etwas wissen.

Frag deine Mutter, sagte er mit seinem Blick. Sie wird es dir schon sagen. Sie kann dir alles sagen. Ich habe nichts hinzuzufügen. Und er verschwand.

Das Gesetzbuch

Die Mutter hält ein Buch in ihrer Hand. Das ist das Buch des Vaters. Wo alles Wissenswerte steht. Sie hält es fest mit beiden Händen. Sie gibt es nicht aus ihrer Hand. Das Buch hat keinen Titel. Ich versuche das Buch anzufassen.

Tun Sie das nicht, sagt sie und lächelt traurig.

Das tut man nicht. Das tut kein Mensch. Das tut kein Kind. Das heißt soviel wie: Sei nicht so neugierig! Das heißt: Stell deinem Vater keine Fragen, wenn du nicht willst, dass er dich hasst.

Stell mir auch keine Fragen, solange du noch Hilfe suchst.

Hab keinen Mut!