Texte von Hugo Rupp

Die Beweisnot

 

Der Hans sagt, dass ich nicht laufen will. Dass ich mich nicht anstrengen will, weil ich so langsam laufe, und das macht auch keinen Spaß beim Fangen spielen. Das macht keinen Spaß mit mir zu spielen, sagen auch die anderen. Weil sie das nicht mögen, nur so tun als laufen, aber doch nicht richtig spielen. Dass ich mich nicht trauen würde, sagen sie, dass ich ängstlich bin. Angsthase! Ja das bin ich, denke ich. Bin ein Angsthase. Die haben meine Angst gleich am ersten Tag erkannt. Wie ich abseits stehe und schon nach der Mutter schaue. Immer scheu. Schaue zu ihr, schaue zu ihr, ob sie auch zufrieden ist, dass ich schön mitspiele. Schön mitspielen, heißt, dass ich mich nicht dreckig mache. Mutter sagt dann wieder etwas über Hosen, Hemden, Mäntel anderer, wie die wieder ausschauen, so als hätten sie keinen Geschmack, und zerlumpt, so was von Gelumpe, wie der Herr, so’s Gescherr. Dass sich die nicht schämen, sagt sie später. Dass sich die nicht schämen!? So wirst du nie sein, sagt sie. Pass nur richtig auf, dass du nicht wie diese Kinder wirst. Dass du dich nicht mit diesen Kindern abgibst, sagt sie. Hörst du, mit den dreckigen spielst du nicht! Hast du mich gehört. Nicht dass das noch abfärbt auf dich, dass du dann so dreckig wirst und nicht mehr auf deine Sachen aufpasst, sagt sie. Gut und gerne hätte ich Lust mit der Kindergärtnerin ein Wort zu reden, ob das auch richtig ist, so im Garten herum zu rennen ohne Aufsicht und ohne Achtung auf das, was passieren kann, wenn man hinfällt. Wer muss denn schließlich die Sachen bezahlen und eine neue Hose kaufen. Ich stehe neben ihr.

Am nächsten Tag falle ich im Garten hin und die andern lachen, weil es mich so hingelegt hat, weil ich ausgerutscht bin und das lustig ausgesehen hat, dass die anderen lachen mussten. Meine Hose ist ganz dreckig, nass auch an den Knien und an der Seite. Meine neue Hose. Meine neue Hose, sage ich, stehe auf, weil mir nichts weh tut, ist ja Rasen und nichts weiter, weil mir nichts weh tut, gehe ich doch weg. Wie die andern schauen. Warum gehst du weg? Muss auf die Toilette. Muss auf die Toilette. Gehe in das Haus, gehe in den langen Gang, in der Mitte rechts und da sind die Becken und die Spiegel und ich weiß nicht, was ich tun soll. Bleibe ich nur einfach hier, bis die Welt verschwunden ist? Bleibe ich hier stehen. Wo soll ich jetzt hin? Dann kommt diese Schwester, die ich auch schon kenne, diese Schwester von der anderen. Wie heißt die noch gleich. Weiß jetzt wieder nicht den Namen. Wenn ich Angst habe, weiß ich keine Namen, wenn etwas passiert, weiß ich keine Namen, wenn ich ängstlich bin, weiß ich keinen Namen. Mutter wird das alles sehen. Meine Mutter schimpft mich, wenn ich dreckig bin, sage ich auf ihre Frage. Was soll man da machen. Aber das ist doch nicht schlimm, sagt die Kindergärtnerin. Das ist doch nicht schlimm, und ich fange an zu weinen. Das ist doch nicht schlimm, was weiß denn die Schwester, wie die Mutter sein kann, wenn ich ihr nach Hause komme. Komm du mir nach Hause, kannst du was erleben. Wie soll ich das wieder weg machen. Grasflecken, sagt die Kindergärtnerin. Wieder fange ich zu weinen an. Grasflecken kriegt man nie ganz raus. Das weiß ich genau, weil die Mutter das auch sagt. Grasflecken sind was ganz was schlimmes, sage ich. Wenn ich Flecken in den Kleidern habe, schimpft mich meine Mutter. Wenn da Flecken sind. Aber geh, sagt die Kindergärtnerin, musst doch nicht gleich weinen. Wird schon nicht so schlimm werden. Wird doch nicht so schlimm. Aber Grasflecken gehen nicht mehr raus, sage ich. Die Kindergärtnerin schaut und ich sehe, dass sie nicht weiß, was sie machen soll. Sie schaut mich an und sagt, dass sie mit der Mutter reden wird.

Wenn ich ihre Augen sehe, werde ich schon ängstlich und dann kommt sie, lächelt immer wieder. Mutter lächelt, wenn sie kommt. Dann erkennt sie, dass ich sie schon fürchte, wie sie näher kommt. Was ist denn passiert, fragt sie aufgeregt. Dass ich weinen musste, sagt die Kindergartenfrau, weil ich mich beim Laufen schmutzig machte, wäre dabei hingefallen, und dann würden sie ihn ausschimpfen, wenn mich meine Mutter sieht, wird sie gleich losschimpfen, hätte ich zu ihr gesagt. Dass er Angst vor ihnen hat, wenn sie ihn ausschimpfen. Dass er sich dann fürchtet, sagte sie, und ich stehe da daneben und mir fällt der Name nicht mehr ein, wenn ich nur dran denke, fällt mir gar nichts weiter ein. Schaue meine Mutter an, die jetzt wieder lächelt, doch was sehe ich, sind die Zähne und der Mund, der nicht aufgeht ohne Ärger, weil sie dann die Zunge hebt, wenn sie nicht verärgert ist. Sie hebt ihre Zunge nicht ganz an, das bedeutet, dass sie wütend ist. Fast hört sich das schläfrig an, so als würde sie das alles nicht berühren. Dafür wird er doch nicht ausgeschimpft, sagt sie und lacht schallend. Dafür kriegt er doch kein böses Wort. Dass sie mich doch schimpfen würde, hätte ich zu ihr gesagt, zu der Kindergärtnerin, dass sie mich doch immer dafür schimpfen würde, ganz egal was auch passiert. Flecken bleibe schließlich Flecken. Das ist doch nicht wahr, sagt die Mutter schließlich ernst. Das ist doch nicht wahr, hört sich für mich an, du komm mir nach Hause. Hört doch bitte auf, denke ich in mir, hört doch auf zu reden. Dafür schimpfe ich doch nicht mein Kind, sagt die Mutter ernst. Dafür schimpfe ich ihn nicht, sagt sie. Und die Kindergärtnerin verstummt.

Meine Mutter log. Spottete. Lachte, sagte, dafür würde ich doch nicht geschimpft. Sie verspottete ihre Wahrheit, dass sie schon bei kleinsten Flecken mich am liebsten an die Wand geschmissen hätte. Sie versteckte ihre Wut hinter ihren Lügen, lächelte, sagte, dass ich rennen könnte, wie ich wollte. Plötzlich war ich wieder ohne Grund. Für die Kindergärtnerin hatten meine Tränen keinen Eindruck hinterlassen. Meine Tränen waren wieder nur vergebens; immer schon verschenkt.

Lächeln und verspotten, wenn ich nur dran denke, wie sie mich nach Hause führt, wie ich neben ihr dann gehen musste, sie mit eisigem Gesicht, meine Mutter neben mir. Wollte ihr die Hand zum Halten geben. Wollte sie nicht haben. Wollte meine Hand nicht länger halten. Hätte sie verraten, bloß gestellt, vor der Kindergärtnerin. Tu das bloß nie wieder, sagte sie, dass du was erzählst, dass du einem Fremden was von uns erzählst. Dass ich dich zum Weinen bringen würde.

Ich sollte nicht nach Zeugen suchen. Ich sollte nichts verraten. Ich sollte mich niemandem anvertrauen. Ich sollte nicht um Hilfe fragen. Ich konnte das nicht wissen, dass ich nichts wissen und verstehen sollte. Dass ich mir auch nichts merken sollte und behalten. Dass es Zusammenhänge gibt, die meine Angst und meine Wut erklären könnten. Dass es Zusammenhänge gibt, zwischen Angst und unterdrückter Wut des Kindes und dem Verhalten seiner Mutter. Sie wünschte die Entschuldigung von mir, dass ich Abbitte leiste, indem ich nie mehr etwas von mir sagen würde, das sie betraf, das sie mit einbezog in mein Verhalten und Erleben. Die Mutter war im Geiste unsichtbar. Sie gab sich völlig unabhängig, sie hatte nichts mit mir zu tun, mit keinem Schmerz und keinerlei Erleben. Sie war vollkommen teilnahmslos. Sie wollte überhaupt nichts von Zusammenhängen wissen. Es gab für sie nichts zu verstehen. Es gab für sie keinen Zusammenhang und keinerlei Verbindung zwischen mir, dem Kind, und ihr, der Mutter. Es gab keine Verbindung. Und meine größte Not und Sorge bestand gerade darin, dass niemand meine Not bezeugen wollte, wie ich verzweifelt nach Beweisen suchte, dass es doch Nähe gibt und Liebe als Verbindung zwischen Menschen, dass es doch ein Verständnis gibt und ein Verstehen miteinander. Dass jedes Kind ein Urbedürfnis mit sich trägt nach dem Verständnis seines Fühlens und Empfindens. Ein Kind muss Nähe suchen, sonst kann es kein Gefühl verstehen. Es kann sich selbst nicht kennenlernen. Es wartet dann sein Leben lang auf eine Nachricht, die es in Wirklichkeit nie gab, auf die Bestätigung der Not als Kind. Ich wartete auf Anteilnahme und blieb so lange teilnahmslos der Not des Kindes gegenüber, solange ich von meiner Not als Kind nichts wusste. Ich selbst, das Kind, war der Beweis.