Texte von Hugo Rupp

Die Bejahung

 

Warum glaubst du, dass Gefühle töten können?

Als wärest du eine Art Maschine, die dich bewegt, anhält und schließlich auch zur Ruhe mahnt. Als gäbe es dich nicht, stattdessen in dir ein System, das über deine Träume wacht und deinen Schlaf, dein Leben und dein Sein, als wärest du so eine Art Instanz, für dich, Kontrolle deiner selbst.

Wie kam die Welt in mich, die mir nie Freiheit gibt, mich so zu fühlen wie ich fühle?

Der schwarze Mann, den sie beschwor, dass er mich holen und auch mit sich nehmen würde, wenn ich nicht augenblicklich einschliefe, beschützt sie immer noch.

Der Vater und die Mutter.

Deckt ihre Lüge zu. Die deinen Mut verdrängt, indem sie geht und dich der Einsamkeit ausliefert. Dich deiner Angst. Jetzt musst du dich vor deiner Angst selbst fürchten.

Ich fürchte mich vor mir.

Sieh dir die Gegend an, in der du bist.

Da ist nichts von der Mutter.

Nur die Gedanken.

Ich sehe sie. Sie ist nicht da.

Du siehst sie, und sie ist nicht da.

Hat es einmal nicht weh getan?

Nein.

Ich weinte, wenn sie gehen wollte. Ihr Weggehen war immer Spiel, wie alles, was sie tat, mich immer nur an Spielerei, Nicht-Ernst erinnert.

Was tut sie nicht?

Das weiß ich nicht.

Lass einfach deine Ahnung weg, sie könnte dich begreifen.

Sie lässt sich nicht begreifen. Sie lässt sich nicht von meiner Gegenwart begreifen. Ich kann die Wut ihr nicht vermitteln. Ich muss es in Gedanken tun, in Bildern, die nur mir gehören. Es ist, als hätte ich gar keine Wut. Nur etwas, das mich an die Wut erinnert. Nur einen Widerschein, nur eine Art Erinnerung vom Anfang her. Ein Bild, das niemals Wirklichkeit auch war. Als gäbe es mich selbst auch nur als Bild, als einen Abzug meiner selbst. Als wäre ich die Projektion und nicht die Mutter meine. Mit meiner Wut bin ich verschwunden. Es ist, als müsste ich mich selbst entwickeln, nach ihrem Vorbild nun als Bild verstehen. Als Abbild ihres Wunsches, niemals die Liebe zu behaupten. Niemals die Mutter anzugreifen, ihr Bild von ihrer Liebe. Sie kann mich nicht begreifen. Nicht wenn ich für sie wütend bin, wenn ich sie hassen wollte.

Sie konnte mir weh tun, wie sie gerade wollte und spurlos dann verschwinden.

Grausamkeit

nutzlos,

zwecklos,

unnütz,

unbrauchbar,

nichtsnutzig,

Steh da nicht so nutzlos rum und tu gefälligst deine Hände aus den Hosentaschen, sagt er zornig.

Steht da rum und hält Maulaffenfeil. Komm her und hilf gefälligst, wenn du schon zusehen willst.

Wenn dir kalt ist, rühr dich. Dann wird dir schon von allein warm werden.

Ich wollte dich etwas fragen, sage ich.

Etwas Gutes will ich hoffen, sagt er und lächelt.

Ich kann mich an meine Frage nicht erinnern. Ich erinnere mich an eine Antwort: Was habe ich davon? Was bringt mir das? Kann man damit Geld verdienen?

Warum soll ein Kind Fragen stellen?

Du antwortest gefälligst, wenn dich jemand fragt. Nicht eher. Hörst du. Man redet nicht unaufgefordert!, sagt er.

Warum kommst du erst jetzt damit? Warum bist du nicht schon früher damit zu mir gekommen? Vielleicht hätte man noch etwas machen können. Hättest du deinen Mund früher aufbekommen… Nun ist es zu spät dafür, sagt er.

Du bist doch zu nichts zu gebrauchen. Schau dir nur wieder diesen Saustall an, sagt er.

Du nichtsnutziger Kerl! Dich kann man zu nichts gebrauchen. Was soll nur aus dir werden!?

Du würdest mir kein Geld bringen. Dich kann man nicht verkaufen. Wer würde wohl für dich bezahlen? Mit zwei linken Händen! So wie du aussiehst, so dreckig wie du immer bist, sagt er und schaut mich an und lächelt.

So wertlos, wie mein Vater mich mit seinen Worten macht, so fühle ich mich auch. Ich messe mir selber keinen anderen Wert bei, als jenen, den meine Eltern mit mir teilen.

Ich habe keinen Wert. Nichts was ich habe, hat einen Wert. Nichts was ich tue, hat Wert. Ich bin als Kind für nichts zu haben.

Du bist noch weniger als nichts. Du bist gleich zweimal nichts!, sagt er voller Zorn.

Vater verachtet meine Wertlosigkeit und dass es nichts nützt, wenn er etwas sagt und mich verflucht, weil das auch wieder nichts nützt. In seinen Augen hilft nichts von dem, was er sagt, damit ich endlich nützlich werde. In seinen Augen bin ich zu nichts zu gebrauchen. Ich weiß nicht, was er damit meint. Ich weiß nicht was Nutzen bedeutet.

Was rege ich mich auf. Das ist doch vollkommen sinnlos, dass ich mich so aufrege, sagt er.

Was regst du dich nur immer wieder auf, sagt sie.

Kannst du nicht einfach einmal nur geradeaus gehen, ohne hin zufallen.

Kannst du nicht einmal ohne hinzufallen gehen. Kannst du nicht einmal geradeaus gehen, ohne in die Luft zu schauen.

Kannst du nicht einmal nur das tun, was ich dir sage. Ist das zuviel verlangt, sagt er beleidigt.

Wo schaust du nur immer wieder hin. Was gibt es da zu schauen!?

Da spielt die Musik! Da schau her.

Mich schau an. Nicht dahin.

Wo schaust du denn schon wieder hin!?

Wie dumm muss man denn sein, wenn man den Fehler immer wieder macht, nicht einmal, zweimal, nein, dreimal, viermal, fünfmal, immer wieder, sagt er.

Merkst du denn nicht, was du da tust?, fragt er.

Merkst du denn nicht, wie weh du ihm, deinem Vater tust, sagt sie.

Ich gehe an der Hand des Onkels. Ich habe keine Angst. Wir sind in den Bergen. Auf einem Ausflug.

Wie schaust du denn den Onkel an, sagt sie.

Merkst du denn nicht, was du dem Vater antust, als würdest du den Onkel lieber haben. Lieber als deinen eignen Vater!?

Ich schäme mich und schaue weg. Ich darf mich nicht bei andern Menschen unterhaken. Ich darf nicht zeigen, dass ich den Onkel mag. Ich darf keine Zärtlichkeit finden.

Zuhause ist es doch am schönsten.

Wir sind jetzt wieder zu Hause. Hier gibt es keine anderen Leute und keine Ablenkung. Zu Hause gibt es niemand, der Vater ablenken könnte. Hier ist es immer gleich, weil Vater immer gleich ist. Weil Mutter immer gleich ist. Hier haben die Worte anderer keine Gültigkeit. Hier hat Vater das Sagen. Vater mag reden und Befehle geben. Mutter gibt ihm recht und wenn er mich zusammenstaucht, dann geht sie in die Küche. Später schaut sie mich dafür nicht an.

Gab es jemand, dem du etwas von dir erzählen konntest?

Nein.

Gab es jemand, dem du deinen Hass und deinen Zorn auf deine Eltern zeigen konntest?

Nein.

Du schämst dich?

Ich hätte ihn so gern gehasst. Ich durfte meinen Hass nicht merken. Ich hätte mich verraten und wäre vor den Eltern aufgefallen. Auffällig sein war, was Vater hasste. Wenn Vater etwas fühlte, wie ein Hund die Angst aufspürt, wenn jemand ihm nicht Angst und Furcht, entgegen brachte, wenn jemand seinen Augen, Blicken, trotzte, dann griff er zu und an.

Ich konnte die Verachtung meines Vaters, für mich, nie ändern. Er schuf für mich das Klima Angst und das Gefühl, ihm schutzlos ausgesetzt zu sein.

Bejahung

Für die Hand des Onkels, für die Schritte neben ihm, ohne Predigt, ohne Mahnungen, neben meinem Onkel nur zu gehen, und ihm nahe sein. Nur nicht meinen Ärger zeigen, dachte ich schon wieder, nur nicht mein Gefühl ihm zeigen. Beides musste ich verstecken, meine Zuneigung und Liebe und den Hass auf meinen Vater. Immer beides zu verbeißen.

Stelle ich mir heute mein Gesicht von damals vor, sehe ich den Vater und die Mutter über meinen Zügen, mein Gesicht mit ihren überziehen. Ich als Maske für die beiden. Sie verformen mein Gesicht. Meine Kiefer hin und her, meine Stirn beruhigt, glatt gestrichen, nur damit mein Zorn nicht sichtbar ist.

Mutter reibt mir Zeichen in die Stirn, während Vater meine Kiefer zieht.

Du sollst nicht lieben, sagt er unentwegt, du sollst mich doch nicht lieben.

Du hörst jetzt auf mich so zu lieben. Mutter schreibt mit ihren kleinen Fingern Worte in meinen Schweiß.

Du sollst mich nie verlassen, niemals sollst du weggehn, hörst du!

Vater bläst in mein Gesicht, rundet meinen Kopf mit seinen Händen, drückt an meinem Kopf. Meine Stirn wird plötzlich runder, schaut mir ins Gesicht, direkt in die Augen. Vater haucht die leisen Worte. Wie von Geistern längst Verstorbener, die auf Feldern liegen unter Gras, wo sein Vater liegt, auf dem Schlachtfeld mit den vielen Toten. Redet wie durch Nebel.

Du sollst Liebe nicht herzeigen. Zeig keine Liebe her. Ich will keine Liebe sehen, nie mehr Elend ihres Scheiterns. Ich will nicht vergessen müssen, sinnlos sich zu sehnen, nach der Liebe Ausschau halten, unentwegt nach dem Vater aus dem Krieg, wo er ist, wie es ihm wohl geht. Ich will nie mehr Ausschau halten müssen nach dem Rettungsschimmer. Ich will nie mehr an der Liebe hängen. Sag: ich will nicht mehr lieben!

Mutter hört nur zu und feuchtet meine Backen, die jetzt glühen. Drückt mir ihre Finger ins Gesicht, will dass ich sie liebe.

Du sollst meine Finger kennen lernen, meine Finger sollst du fassen, greifen, meinen Fingern sollst du glauben und vertrauen. Meine Finger halten dich, sonst bist du allein. Meine Hände halten dich, sonst bist du allein. Wo ich bin, ist Gefahr, Gefahr mich zu verlieren. Verlieren wirst du, immer nur verlieren und dich jedes mal dann ängstigen. Ich weiß, wie das ist, Mutter jeden Tag verlieren.

Du sollst kein Kind mir sein.

Ich will keine Kinder.

Das offene Geheimnis

Ich brauche keine Stimmen, die mich plagen und mich wecken.

Du sollst mich nicht wecken, du sollst mich nicht wecken. Ich will nie mehr wieder wissen müssen, wie es bei mir zu Hause war, unter meinem Bruder, unter meiner Mutter, die mich wegschickt und vergaß. Schluss, aus. Schluss. Ich will mich nicht länger denken, was da noch geschehen ist in den Nächten ohne Nähe. Ich will nicht noch einmal einsam sein, sagt er mit den Augen eines Habichts; ohne jede Regung. Kommt mit seinem spitzen Schnabel meinen Augen immer näher.

Sieh mich nun gefälligst an, oder ich hack dir deine Augen aus.

Er!

Er hat mir das Rätsel hinterlassen, für das ich keine Lösung finden konnte. Wie man lieben und nicht lieben kann. Wie kann man sich sicher sein. Wie kann Liebe für sich selbst unsichtbar und nicht spürbar sein?

Ich wusste nicht, dass das nicht geht, dass das nicht Liebe ist. Dass daraus niemals Liebe wird, aus dem Verdrehen der Gefühle, aus dieser Ablenkung. Ich sollte mich nicht sehen. Mich sollte ich nie sehen und selbst fühlen.

Du sollst mich ansehen,

wenn ich mit dir rede.

Und schau gefälligst her,

wenn ich schon mit dir spreche.

Ich musste für den Hass verfügbar sein, den er mir mit den Augen überreichte.

Nun nehme ich ihn an, nach all den Jahren, kann ich seinen Hass tatsächlich spüren.

Das hab ich nie gewagt, den Hass auf mich, von ihm, für mich bejahen und bestätigen. Das hätte mich als Kind umgebracht. Der Hass auf alles Lebende, den Vater stets verkörperte, den konnte ich in mir nicht fühlen. Das Lieben-Müssen hat mich also doch gerettet. Die Liebe schützt auch hier das Kind, sie war die letzte Hilfe und die einzige. Ich fühle heute erst den Hass auf mich gerichtet und schaue nicht mehr weg. Ich konnte das nie wirklich fühlen. Ich schlage meine Augen nicht mehr nieder, ich sehe diesen Hass auf alles kindliche, auf mich das Kind gezielt. Kein Kind kann diese Wahrheit merken, dass seine Eltern ihm nicht wohlgesonnen sind. Es muss sie doch mit aller Macht verdrängen, sonst stürbe es an seiner Einsamkeit.

Den Hass, auf dich gerichtet, fühlen, befreit das Kind und dich. Du musst nicht länger das verstecken, was du schon längst zu wissen glaubtest. Du weißt jetzt, was du fühlst. Dein Zorn ist ausgebrochen für dich und gegen seine Grausamkeit.