Texte von Hugo Rupp

Die Behandlung

 

Margared Mead weist darauf hin, daß der Säugling durch schwimmendes Spielzeug jeder Art, von der Berührung zur Mutter abgelenkt wird. Sein Interesse ist also mehr auf Dinge als auf Personen gerichtet.

Aus: Ashley Montagu Körperkontakt

Sie versteckte sich vor mir, dass ich sie suchen sollte. Als ich sie gefunden hatte, durfte ich sie nicht berühren. Als ich sie erweckt hatte, da durfte ich sie nicht anrühren. Nur als Tote durfte ich sie anfassen. Nur als Tote sollte ich sie anfassen. Als sie da lag und tot spielte, sich tot stellte, sollte ich sie anfassen. Eine tote Mutter durfte ich berühren.

Clay kam auch zu dem Schluß, daß das Kind, das nicht genug Berührung von der Mutter erfahren hatte, sich ihr auch nicht nähert.

Aus: Ashley Montagu Körperkontakt

Wenn ich sie berühre, wacht sie wieder auf. Wenn ich sie berühre. Wenn ich nicht mehr sie anrühre, wenn ich nicht an Mutter denke, rührt sie sich nicht mehr.

Soll an meine Mutter, muss an meine Mutter denken, sonst wacht sie nicht auf. Muss nach Hause kommen. Muss nach Hause gehen, gleich nach Hause, nach der Schule, sonst stirbt sie daheim, wenn ich nicht nach Hause komme. Wenn ich sie nicht nach der Schule suche, ist sie nicht daheim. Wenn ich nicht nach meiner Mutter rufe, ist sie nicht daheim. Wenn ich nicht nach Hause gehe, bin ich ganz allein.

Suche, suche, nicht berühren.

Soll nach Hause kommen, sonst ist sie allein.

Ihre Spiele, immer nur, dass ich ihr nach Hause folge, dass ich wieder komme, zu ihr heim. Wenn ich sie nicht mehr vermisse, bin ich ganz allein.

Es ist interessant, daß Mütter, die ihren Kindern nicht viel taktile Anregungen gaben, sie doch ermutigten, mit ihnen zu spielen. Es ist beinahe so, als sei ihnen der direkte physische Kontakt und die damit verbundenen Gefühle unangenehm, aber der indirekte physische Kontakt durch Spiele, zum Beispiel durch einen Ball, ein Plastiklöffelchen oder das Stäbchen von Mikado als Ersatz akzeptiert werde.

Aus: Ashley Montagu Körperkontakt

Ich versteifte, wenn sie etwas von mir wollte. Wenn sie später etwas von mir wollte, war gleich Angst bei mir. Weil sie etwas von mir wollte, war die Angst vor ihr. Weil sie etwas von mir wollte, war ich ängstlich, übervorsichtig, weil sie immer etwas von mir wollte.

Wenn ich furchtsam war, kam sie nicht zu mir. Wenn ich schlafen sollte, blieb sie nie bei mir. Kam dann später immer wieder, immer wieder selbe Zeit.

Schrecklich, wenn sie mit dem Trost rumspielte. Rumerzählte, wie ich nach ihr suchen würde, rumerzählte wie ich sie nicht fand. Rumerzählte wie ich ängstlich wäre, furchtsam wie ein kleines Kind. Wie sie mich mit meiner Angst bloßstellte und erzählte, wie ich ängstlich schaute und an ihren Beinen hing. Spiele die so trostlos waren, so als wäre nichts gewesen. Wenn ich weinte, wenn ich schluckte, nichts verstand.

Ihre Distanziertheit verband ich mit mir selbst. Verband sie selbst mit Haut und Haaren und mit meinem Mund. Machte meine Augen zu, nur damit ich nichts verstand. Licht war ohne sie wohl möglich, doch das konnte ich nicht sehen. Hatte jeden Augenblick den Schatten ihrer Augen im Gesicht. Ihre Angst in meinen Augen. Dreh und Angelpunkt der Sehnsucht eines kleinen Kindes. Erster Fixstern der Berührung. Meine Mutter Erde.

Vielleicht wäre es richtiger zu sagen, daß die Tabus, unter denen die zwischenmenschlichen Beziehungen stehen, aus der christlichen Tradition der verschiedenen Glaubensbekenntnisse erwuchsen. Eine der großen negativen Errungenschaften des Christentums ist, daß es die Freude am Berühren zu einer Sünde machte.

Aus: Ashley Montagu Körperkontakt

Wie ausgeliefert man der Sünde ist, wenn sie täglich propagiert und dem Kind selbst vorgehalten wird, immer nur als Ablehnung, Feindseligkeit gegenüber den normalen Wünschen eines Kindes nach Berührung.

Kein Weinen mehr und keine Tränen mehr. Keine Träne mehr vor meiner Mutter. Keine Träne mehr vor ihr. Selbst im Angesicht des Todes, ganz egal was auch passiert, werde ich sie nicht berühren, ganz egal was auch geschieht. Keine Rührung mehr für sie. Rühr mich nicht mehr. Ich berühre keine Tiere, ich berühre niemand mehr. Suchte mein Arme, suchte die Berührung selbst. Suchte damals noch im Fieber, nach der Möglichkeit für mich, doch noch mal berührt zu werden.

Winnicott war der Ansicht, daß das physische Halten des Kindes eine Form der Liebe, ja, vielleicht die einzige Äußerung der Liebe sei, die eine Mutter ihrem Kind erweisen könne. Das gilt nicht weniger für den Vater oder irgendeinen anderen Menschen. Wie Winnicott sagte: Es gibt Menschen, die ein Kind lieben können, und andere, die dazu nicht fähig sind; die letzteren wecken in dem Kind sehr schnell ein Gefühl der Unsicherheit und bringen es zu jammervollem Weinen.

Aus: Ashley Montagu Körperkontakt

Die Illusion und Sehnsucht, Wirklichkeit des kleinen Kindes, dass doch irgendwann die Mutter oder auch der Vater kommt und mich halten werden, ist die Festung meiner Einsamkeit. Diese Festung zu verlassen und die Sehnsucht, dieses Warten auf die Liebe aufzugeben, ist die letzte Möglichkeit seine Liebe zu befreien von der Tyrannei. Von Vergeblichkeit und Hass, die Gedanken eines Körpers, dass es irgendwie noch möglich sei, die Berührung nachzuholen, doch noch in den Armen beider Eltern aufgehoben werden. Heilige Familie spielen, immer eines selben Geistes, ich bin in der Mitte, wie das Jesuskind, Mutter hält mich und der Vater steht dabei. Dreieck, proklamierte erste, ideale Liebe. Dieses Bild träumte ich vor Jahren.

Wenn das ehemalige Kind endlich weiß und auch fühlen kann, dass das Verhalten seiner Eltern der Grund für sein jammervolles Weinen war, kann es als Erwachsener aufhören das Verhalten seiner Eltern sich und jedem anderen gegenüber zu erklären.

Vielleicht kann es auch das erste Mal in sich etwas hören, was ihm seine Eltern nicht beibrachten, dass etwas gewesen ist, auch wenn niemand das bestätigt hatte. Dass etwas gewesen ist, was in seinen schlimmsten Träumen immer wieder kam, dass etwas gewesen ist, was sich niemals zeigen durfte, nicht einmal in einem schwarzen Mann. Dass die Mutter es berührte, immer wenn sie kam. Dass sie mich berührte, immer wenn sie zu mir kam. Dass sie mich berührt hatte, immer wenn sie kam. Dass sie sich zu mir legte, immer wenn sie kam, wenn sie zu mir kam, legte sich an meine Seite, wenn sie zu mir kam, sagte rutsch ein wenig rüber, wie sie zu mir kam, durfte ich mich nicht mehr rühren. Wie es auch so kam, durfte ich mich nicht berühren, wenn sie zu mir kam, durfte ich mich nicht mehr selbst berühren, wenn sie zu mir kam, musste damit auch aufhören, wenn sie zu mir kam, dass ich mich nicht mehr umarmte.

Das erste mal vielleicht kann dieses Kind jetzt endlich Luft holen und sich selbst in sich ausbreiten, denn die Festung Einsamkeit ist jetzt aufgesprengt; Ende der Geschichte. Einsamkeit der Kindheit hat ein Ende, mit dem Grund dafür.

Niemals sich berühren, ohne Schande oder Scham. Niemals mit sich reden, ohne Schande ohne Scham. Niemals etwas sagen, was von innen kam. Niemals zeigen, was ich fühlte. Niemals was berühren. Nichts mehr mit sich anfangen. Keinerlei Berührung, ohne eine Scham, nicht einmal allein in einem Körper. Angst vor den Gefühlen, schließt den eignen Körper aus. Löscht das Licht im Inneren, löscht die Freude und die Liebe, löscht ein Kind vollkommen aus.

Muskelanspannung als ein Mittel, emotionell störende Gefühle unter Kontrolle zu halten, ist schon sehr häufig beobachtet worden.

Aus: Ashley Montagu Körperkontakt

Mutter floh vor den Berührungen des Vaters. Floh aus seinem Bett. Vater war auf mich dann wütend. Auf mich und meinen Husten, auf meine Einsamkeit war Vater wütend, auf mein allein sein war der Vater wütend, dass ich nicht mal alleine schlafen würde können, beklagte er vor mir am Morgen. Dass man mich nicht alleine lassen könne, das wäre noch nicht möglich. So groß und noch ein Kind, das an der Brust der Mutter hängen würde, das sagte er und lächelte so bitter, dass ich gleich zuckte und mich unwillkürlich kleiner machte.

Kann nicht allein in seinem Bett schlafen. Das kann es doch nicht geben, dabei bist du schon groß und kommst bald in den Kindergarten. Das kann ja heiter werden, sagte er. Dort kannst du nicht zu deiner Mutter rennen, wenn dir was fehlt. Dort musst du schon allein zurechtkommen.

Ich schämte mich. Ich hatte Mutter nicht gerufen. Mein Vater klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch. Sein Anrecht, seine Wohnung, sein Haus, sein Tisch, sein Bett, Besitz des Vaters, alles seins. Er pochte auf die Gegenwart, er fluchte darauf, auf mein nicht mal alleine schlafen können. Mir fiel auch gar nicht auf, dass er doch nicht alleine schlafen wollte. Er konnte das doch scheinbar nicht, was ich doch endlich können sollte. Doch ich verstand den Vater überhaupt nicht. Nur schämen, dass ich mich wieder schämen sollte, das wusste ich. Er machte mich deswegen schuldig, für etwas, das ich nicht bekam, Berührung, Zärtlichkeit und Trost. Ich hatte das doch nie bekommen. Ich hatte das doch so vermisst, wie jedes Kind, das keine Liebe kennt; genauso wie mein Vater.

Als ich dann später neben meiner ersten Freundin lag. Wir lagen unbeweglich da, wir wagten uns nicht zu berühren. Wir fassten uns nicht an, wir lagen auf der Couch wie Fische, den Mund nach oben offen, Vorsicht bei jedem Atemzug, um nur nichts falsch zu machen. Wir konnten uns nicht rühren, es fehlten in uns Vorbilder, wir wussten nicht warum. Wir achteten auf unsren Atem, Zug um Zug, und nichts war unwillkürlich. Wir waren zwei Gefangene, die nichts von ihrer Freiheit wussten. Wir hauchten uns nicht einmal an, wir wussten beide nicht, wie wir uns rühren und berühren hätten können. Wie wussten nichts von Zärtlichkeit, wir hatten keine Ahnung von uns.

Wir hatten Angst vor der Berührung, als wäre sie unheimlich und fremdartig, als wäre Zärtlichkeit eine Gefahr und nicht im Gegenteil, wir damit sicher und beschützt, vor Kälte und Feindseligkeit in unserer nächsten Nähe.

Es gibt Eltern, vor allem Väter, die es für wesentlich halten, dem Kind vor der Züchtigung zu sagen, warum es geschlagen wird. Man kann auf diese Weise wenigstens lernen, das Zufügen von Schmerz von einem Austoben der Gefühle zu unterscheiden. Die Nazis waren darin besonders geschickt, und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß ihre gefühllose Unmenschlichkeit zum großen Teil ihrer frühkindlichen Erziehung, bei der taktiles Erleben weitgehend vernachlässigt oder als Medium der Strafe angewandt wurde, zuzuschreiben war. Das ist wohl die schlimmste Formung, die ein Kind erfahren kann.

Aus: Ashley Montagu Körperkontakt

Kein Kind schreit nach Bestrafung. Kein Kind ruft nach Schlägen und Beschimpfung. Kein Kind verführt die Eltern. Kein Kind will seinen Vater töten. Die Übergriffe der Erwachsenen sind niemals Liebe.

Der Ödipus-Komplex ist eine Phantasie eines Erwachsenen, ein Traum eines Erwachsenen, der sich und seine Eltern vor der eignen Kindheit schützt, der Armut an Berührung, an Trost und Mut, Lebendigkeit und Freiheit. Der Ödipus-Komplex ist eine Phantasie, denn er behandelt die Bedürfnisse eines Erwachsenen und nicht die eines Kindes. Ein kleines Kind kann sich den Tod eines Erwachsenen in seiner Vorstellung nicht leisten. Es kann die Vorstellung dafür nicht aufbringen, woher soll dieses Wissen kommen? Woher soll dieses Vorbild für den Tod des Vaters kommen? Der Ödipus-Komplex ist eine Schuldzuweisung, in die Vergangenheit und Kindheit. Freuds Phantasie sucht nach dem Schuldigen in einem Kind. Nach Schuld in einem Opfer. Er bringt für sich die Phantasie ins Spiel und er bestraft sich damit nachträglich, als Kind, für sein unschuldiges Bedürfnis nach Berührungen. In der Verführungstheorie schiebt er die Taten des Erwachsenen, der Phantasie des Opfers zu. Ein Kind kann sich nicht wehren.

Freud hat sich selbst mit seiner Phantasie, der Phantasie eines Erwachsenen, behandelt. Wie er sich damit auch behandelt hat, mit seiner Phantasie, so hat er später alle anderen behandelt. Genau so ungerührt. Der Ödipus-Komplex behandelt seine Phantasie. Er hat damit die Phantasie behandelt und nicht die Wahrheit eines Kindes.

Er schiebt in jede Sehnsucht nach Berührung eines Kindes Schuld. Er spricht dem Kind die Unschuld in der Berührung ab. Er widerspricht im Grunde dem Bedürfnis eines Kindes nach Liebe und nach Anteilnahme. Er macht den Wunsch danach selbst schuldig.

Das bildest du dir doch nur ein!

Das ehemalige Kind soll nicht nach seiner Wahrheit weiter suchen. Es soll die Macht der Phantasie jetzt endlich anerkennen. Es soll endgültig jetzt verdrängen um seine aufgestaute Wut, die eines Kindes, nicht zu ergreifen.

Der Kastrationskomplex ist eine Phantasie, die Deckerinnerung eines Erwachsenen, ein Schutz. Sie schützt das ehemalige Kind vor seiner einst realen Angst und seinem Schmerz und seiner nie gefühlten Wut, gegen die Väter, die Urhorde, die Rotte seiner Ahnen, den Männerbund, der ihn beschnitten hat und ohne Mitleid war und einem Trauma beiwohnte, ohne den Funken Empathie, der ein Kind retten kann mit dem Gefühl für sich und gegen jene, die ihm als Kind weh taten. Sie fassten ihn mit einem scharfen Messer an, und das soll Liebe sein? So wird ein Kind mit Schmerz und Angst verbunden. Aus einer Angst vor der Gewalt, die keine Phantasie und auch kein Traum in Wirklichkeit verhindern konnte. Die Angst vor der verletzenden Berührung und diese Angst verhindert ein Entkommen daraus, solange das nicht klar und deutlich ist: Gewalt ist niemals eine Art von Phantasie und Liebe. Mit einem Reich an Phantasie verhindert man jedoch Empörung. Was ein Kind aber nötig hat in seiner Not, ist die Empörung eines Zeugen, damit es wirklich wissen kann, was es empfindet.