Texte von Hugo Rupp

Die Ausnutzung / Die Beleidigung

 

Die Ausnutzung

Warum nahmen sie nie meine unerbittliche, meine unablässige Gesellschaft übel? Irgendetwas Besonderes hatte mich klarer erkennen lassen, daß ich den Kleinen nahezu an meinen Schal geheftet hatte und daß die Art, in der unsere Gefährten vor mir angeordnet waren, den Eindruck erwecken könnte, ich hätte Vorsorge getroffen gegen irgendeine Gefahr oder Rebellion.

Henry James, Das Durchdrehen der Schraube, The Turn of the Screw

Die Inszenierung einer Ausbeutung als Kind. Der Traum. Mein Traum ist ihrer Inszenierung nachempfunden. Die Frau im See, wie meine Mutter immer war, wie sie sich vor mir inszeniert hatte.

Vor meiner Mutter musste ich mein Leid verbergen.

Jetzt ist es wieder gut. Schau einfach nicht mehr hin, dann tut dir nichts mehr weh. Siehst du den Baum dort und die Katze? Schau mich gefälligst an.

Die Ablenkung, Verkleidung, Inszenierung, nur weg von Leid, nur immer ganz schnell weg. Die Frau im See, verstummte nicht nur mich, sie war selbst stumm vor Schreck und Todesangst, das dachte ich, doch gleich war sie auch wieder froh. Und lächeln konnte sie. Verwirrt, verrückt gemacht hat mich die Frau, die mir die Tränen aus den Augen wusch.

Dass niemand etwas davon sieht, geht sie mit mir ins Bad und stellt mich auf den Stuhl. Dann wäscht sie mein Gesicht. Dann dreht sie meinen Kopf und hebt ihn an, dass ich gefälligst in den Spiegel blicke, zu ihr, zu ihrem Spiegelbild.

Ein dummes Kind schreit dann, wenn gar nichts ist!

Dann wischt sie mir mit einem Handtuch mein Gesicht.

Die Frau, die sich in einen See aus Blut eintaucht und untergehen lässt.

Als Inszenierung eines Untergangs.

Leid inszenieren, aufzeichnen und aufschreiben.

Als wäre alles Leid in mir verkrampft und seit der Kindheit nicht aus mir gekommen. Die tote Frau im See, auf ihrem Floß, der Stuhl, und ringsum Blut. Und ihre Augen groß vor Aufregung.

Sie inszenierte ihren Tod, um meine Äußerungen zu bekommen. Die Fassungslosigkeit. Mein Schrecken, meine Reaktion. Mein Weinen und mein hilflos mit dem Finger gegen ihren Körper stupsen. Die Panik, meine Unbeholfenheit. Aus Freude zu zerstören. Die Inszenierungen des Schreckens. Zeig deine Wunde jetzt gefälligst her. Los, endlich raus damit. Sag schon, zeig doch was in dir steckt. Ich werde dir nicht helfen. Dir hilft niemand. Zeig das auch her. Dass man doch niemand trauen kann. Sie lacht, und meine Augen schmerzen. Dann steht sie auf, geht weg, denn meine Tränen sind nichts wert, sind billiger als Schatten.

Dir fehlt doch was! Ich sehe doch, dass dir was fehlt. Glaubst du, ich merk das nicht!? Glaubst du vielleicht, dass eine Mutter das nicht merkt, wenn ihrem Kind was fehlt!? Glaubst du, ich bin so dumm und merke nicht, was los ist in der Schule. Glaubst du ich merke nicht, wenn du mich anlügst oder mir etwas verschweigst?! Mich kannst du nicht anschmieren.

Die Mutter weint, dann schaue ich sie an. Sie schüttelt sich und wischt sich alle Tränen weg. Als wären ihre Tränen weggerutscht, verdreht sie ihren Kopf und schüttelt sich.

Jetzt bin ich also wieder da. Dass ich feststellen kann, dass sich ein Kind das Weinen nicht verbieten kann.

Sie heilt mich, wenn sie meine Tränen stillt, hab ich gedacht. Sie heilt jetzt meine Wunden, indem sie mit mir spricht und mein Gesicht abwischt, und wieder, wieder, wieder. Den Schweiß wischt sie auch weg. Und meine bittren Tränen. So hat sie meine Krankheit weggewischt.

So, jetzt geht’s wieder, sagt sie.

Zu sehen, wie sie ihr blaßrotes Gesichtchen nicht krampfhaft verzog, nicht einmal aus Verstellung zu dem Ungeheuer hinblickte, auf das ich hingewiesen hatte, sondern sich statt dessen einzig mir zuwandte mit einem Ausdruck von unerbittlichem, schweigendem Ernst, einem völlig neuen und nie an ihr gesehenen Ausdruck, der gleichsam in mir zu lesen, mich anzuklagen und zu verurteilen schien – das zu sehen war ein Schlag, der das kleine Mädchen selbst irgendwie in eine unheilvolle Gestalt verwandelte.

Henry James, Das Durchdrehen der Schraube, The Turn of the Screw

Die Mutter, die die Todesspiele spielt. Die sich vor mir versteckt.

Sie kam um Zuwendungen zu erhalten. Von mir, von einem Kind, das noch nicht sprechen konnte, wollte sie etwas hören und bekommen. Deshalb sprach sie in mich und schimpfte unaufhörlich weiter. Sie wollte meine Äußerung, etwas das ihr gefiel, und wenn ich das nicht geben konnte, dann wollte sie Stillschweigen. Dann wollte sie, dass ich gefälligst meinen Mund hielte. Als eine Form von Zuwendung, dass ich ihr so gehorchte. Sie wollte immer was von mir. Wie schrecklich anstrengend das ist. Geben zu müssen, wenn man doch gar nichts hat, und Mutter sich nicht rührt. Ob es mein Husten war, mein Schleim, mein Fieber oder meine Alpträume. Oder die Angst. Ob es mein unaufhörliches Bemühen war, der Mutter Aufmerksamkeit zu schenken, wenn ich nur neben ihr, vor dem Fernseher saß. Sie weinte, und ich schaute dabei zu. Dann wischte sie sich ihre Tränen weg, wie sie das früher schon bei mir getan hatte. Wie ihr die eignen Tränen lästig waren und ihre eigne Reaktion auf was, das sie nicht haben und verstehen Konnte. Sie sah sich Filme an, die sie zum Weinen brachten und dabei wollte sie doch gar nicht weinen. Sie wollte nicht gerührt werden. Nur Zuwendung. Nur das. Nur immer eine Äußerung, mit der sie selbst zufrieden sein konnte.

Was ich von meiner Mutter lernte: Die Not des Kindes, wie wunderbar ist sie doch auszubeuten. In Not, das Notbedürfnis eines Kindes nutzen. Sich Zuwendungen zu verschaffen.

Die Frau im See, die Inszenierung immer wieder in den Träumen. Verlassen müssen, bedeutet für ein Kind, dasselbe wie verlassen werden. Ein Ganzes heißt, verlassen sein. Verlassen sein, begreift ein Kind nie ganz, oder es stirbt, an dieser furchterregenden Äußerung. Ein Kind kann seine Mutter nicht verlassen. Ein Kind kann nicht alleine sein. Die Frau im See schreit stumm. Sie weiß, die Mutter wusste das, was ich nur jeden Tag ertragen hatte müssen. Deshalb lacht sie im See bei ihrem Untergang im Blut, auch unter Schmerzen jubelt sie. Sie weiß, was ich nicht wissen kann. Nicht wissen darf, ist für mich überlebenswichtig. Die Äußerung des stummen Schreis. Triumph der Mutter über Einsamkeit. Sie kann tatsächlich tun und lassen, was sie will. Ich kann sie nicht aufhalten und begreifen.

Wie ihre Vögel, die sie später hielt, die nur so lange mit ihr spielen sollten, solange sie sich das auch wünschte. Drei Vögel, starben alle spätestens nach einem halben Jahr. Sie schrie sie an, wenn sie ohne Erlaubnis pfiffen. Sie schlug auf ihre Käfige. Sie ließ sie fliegen, dann sperrte Sie sie wieder ein. Den letzten rührte sie dann nicht mehr an. Den ließ sie einfach hocken.

Wo ist der Vogel?, fragte ich.

Tot, sagte sie.

Und was hast du mit ihm gemacht?

Ich hab ihn weggeschmissen.

Wie weggeschmissen?

Na, mit der Schaufel in den Mülleimer.

Ich wusste nicht als Kind, dass es was gibt, das ohne Schuld entsteht, aus reinem Mitgefühl heraus, für ein Kind da sein mögen.

Nur wer ein Kind beschützt und nicht alleine lässt in seiner Not, kann es mit Sicherheit ausstatten, weil dann ein guter Geist in seinem Innern ruht, der diesem Kind zur Seite steht.

To expand on this, let me go back to a creative writing seminar held on winter afternoons in the early 1950s at the University of Minnesota. The teacher was Allen Tate, a distinguished poet and literary critic. Our subject for many sessions was Henry James’s The Turn of the Screw, in which a governess tries to shield her two protégés from a ghostly presence but in the end fails, and they are killed. I was completely convinced that this was just a straightforward ghost story, but Tate said no, Henry James is up to more than that. The governess is not the heroine of this story. She is the villainess. It is not the ghost who kills the children but the governess’s hysterical belief that a ghost exists. I couldn’t believe this at first, but reread the story and saw that Tate was right. You can interpret it either way.

How could I have missed it?

Tate explained that James was able to achieve this magic through the use of the first -person narrator. Tate said that the first person is the most difficult form because the writer is locked inside the head of the narrator and can’t get out. He can’t say „meanwhile, back at the ranch“ as a transition to another subject because he is imprisoned forever inside the narrator. But so is the reader! And that is the strengh of the first-person narrative. The reader does not see that the governess is the villainess because what the governess sees is all the reader ever sees.

Robert M. Pirsig, Vorwort zur englischen Ausgabe, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten: ein Versuch über Werte, Zen and the Art of Motorcycle Maintenance: An Inquiry into Values

Das schlimmste ist und war für mich Unwissenheit. Dass ich nicht wusste, wer oder was das war, das mich zu Tode so erschreckt hatte. Wer mich alleine ließ. Ich selbst, das dachte ich sogar. Ich selbst lass mich allein. Ich bin mein eigner Feind. Unwissenheit umgab, umklammerte mich in der Brust wie eine Druckschnalle. Sie machte meinen Atem flach und sie beherrschte mich und die Bewegung meines Körpers. In mir, an mich, an etwas Fremdes angebunden sein. Niemals zu wissen, wie weit ich gehen kann und will, ohne mich umzudrehen. Mich ständig umzudrehen müssen. Und fürchtete mich auch dabei, mich irgendwann selbst zu verlieren. Ohne ein Wissen um die Ursache der Angst, die in mir war, weswegen ich so zitterte. Ich wusste wirklich nicht, wer meine größte Feindin war; der Bösewicht in meinem Leben. Die Mutter, die mich töten kann. Ich dachte später noch, sie wüsste nicht genau, wie sie mich mit ihren Worten, Äußerungen, erschrecken konnte. Doch das kann nicht die Wahrheit sein. Das war auch niemals wahr gewesen. Ich sah doch selbst, dann als Erwachsener ganz klar, wenn ich jemand erschreckte. Wie ein Kind steht, mit seinen Augen und dem ganzen Körper voller Angst. Den Schrecken sah ich und ich wusste auch, dass ich mit Schrecken jemand verfolgen konnte. Ich sah und fühlte diesen Schrecken gleich. Doch Schrecken gegenüber einem anderen ausüben, war für mich völlig ungefährlich. Ich merkte doch beim anderen das gleich, deswegen war ich auch beteiligt.

Das Wissen darüber, bewirkt, dass ich mich heute nicht mehr fürchten muss, vor ihrer neuerlichen Erscheinung. Ich kann nicht mehr unwissend sein und auch nicht mehr unwissend werden. Die Mutter war kein Geist. Sie war so böse zu mir.

Unwissenheit war immer das Entsetzlichste in meiner Einsamkeit als Kind gewesen. Dabei war mir das gar nicht klar, dass ich mich so sehr fürchten musste, weil ich nicht wusste, wer oder was das war, das mich so ängstigte und so erregte. Das Schreckliche zuhause war, dass meine Mutter niemals aufhörte, mit dem Erschrecken und mich aufregen.

Sie machte mir solch eine Angst, ohne zu wissen doch warum. Sie stahl mir meine Ursache und ließ mich mit der Wirkung ganz allein. Sie strafte mich mit ihrem Schrecken und Erschrecken. Dabei war ich vollkommen unschuldig. Ich konnte nicht nach Wissen suchen. Das kann ein Kind nicht tun.

Das war der Schrei! Der Laute und der Stumme gleichermaßen. Zu schreien, um endlich auch zu wissen, um die Erfahrung zu empfinden, was das denn ist, wer das denn ist, der meine Seele derart peinigt.

Deswegen zog ich später aus, um meine Angst wegzubekommen und jenen bösen Geist endgültig zu verjagen, der, wie sich schließlich dann herausstellte, in Wirklichkeit doch meine eigne Mutter war.

Ich hatte eine solche Angst vor ihr, weil sie die Not, in der ich mich befand, ausnutzte, um von mir etwas noch zu bekommen. Im Grunde ließ sie mich Benzin saufen und lachte, wenn ich meinen Mund verzog. Sie machte sich darüber lustig, wenn sich in mir alles verzog. Das ist, sein Kind vergiften.

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends

wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts

wir trinken und trinken

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Aus: Todesfuge, Paul Celan

Die Beleidigung

Ich habe mich wohl schon tausendmal über diese Fähigkeit des Menschen gewundert, das höchste Ideal neben der niedrigsten Gemeinheit in seiner Seele hegen zu können, und beides mit vollkommener Aufrichtigkeit.

Fjodor M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow

§103 Das Ideal, in unsern Gedanken, sitzt unverrückbar fest. Du kannst nicht aus ihm heraustreten. Du muß immer wieder zurück. Es gibt gar kein Draußen; draußen fehlt die Lebensluft. – Woher dies? Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen

Emotionale Blindheit ist wie ein Wahn, ein Zug der durch alle Haltepunkte rast…


Aus: Leserbrief von R., an Alice Miller, Die reiche Seele, Sonntag 14 April 2007

Rühr das nicht an.

Hast Du noch immer nicht genug davon!?

Jetzt hast Du es kaputt gemacht.

Ich kann das gar nicht länger mehr mit ansehen.

Jetzt gib schon her!

Hörst Du mir überhaupt noch zu!?

Jetzt sind sie weg! Jetzt hast Du sie verscheucht. Weil Du nicht auf mich hören konntest. Jetzt sind die schönen Vögel weg.

Nur unverzeihlich sein zu müssen.

Unsichtbar in sich sein.

Unsichtbar in sich leiden.

Unsichtbar sein

ist

unverzeihlich sein müssen.

Dem Kind nichts zu verzeihen. Kein Fehler durfte sein. Und keine Schwäche zeigen. Kein Ungehorsam musste sein. Kein Widerrede üben. Wie bei der Polizei oder dem Militär. Nur Schreien eines Vorgesetzten Folge leisten. Schreien begreifen. Und keine Widerrede üben dürfen. Nichts wird demjenigen verziehen, der Widerrede leistet. Kein Widerstand; leider. Nur gegenüber allem unverzeihlich sein zu müssen, steht gegen Liebe und sich selber mögen. Sich selbst zu verzeihen.

Du sagst jetzt nichts. Ich will jetzt nichts mehr von dir hören. Schau dir nur deinen Mantel an! Siehst du die Flecken? Hab ich das nicht gesagt: Pass auf! Hab ich das nicht gesagt: Fass das nicht an!? Hab ich das nicht gesagt: Du sollst dort nicht hinlangen!? Hab ich dir das nicht tausend Mal gesagt!?

So unverzeihlich wurde ich gemacht.

Mir selbst gar nicht verzeihen können, mir selbst niemals verziehen haben. Niemandem verzeihen können.

Wenn ich nur mein linkes Bein zuerst benutzte. Wenn ich meine linke Hand nur hob, wollte Vater sie mir schon abhacken. Wenn ich das nur wieder spüre, wie der Vater schaute, wenn er mich anschaute, wenn ich etwas machte, das ihm nicht gefiel. Dieser Unmensch gegen mich und meine Kindheit. Wie er Gift um Gift in mich und meine Augen trieb, wie er mich für nichts verhaften hatte können, wenn ihm etwas nicht gefiel. Wie mein Vater Fehler sehen konnte, wo gar keine waren. Wie er mir befahl. Wie er mir Befehle geben konnte, ohne dass ich was verstand. Nur mein Körper bog sich um Verzeihung. Immer wieder drehte ich die Füße. Drehte meine Hände.

Fehleranalyse.

Wer ein Kind missbraucht, lehrt es unverzeihlich sein zu müssen, gegen den Verstand. Keine Fehleranalyse möglich. Meine Eltern machten keine Fehler. Keine Fehler meiner Eltern.

Wer ein Kind misshandelt, lehrt es unverzeihlich sein zu müssen, gegen den Verstand. Selbst als Opfer unverzeihlich sein zu müssen, gegen den Verstand, gegen eignes Körperwissen. Keine Nachsicht mit sich haben. Keinerlei Verstand. Kein Gefühl mehr für sich haben. Keinerlei Verstand. Mitgefühl für sich nicht haben können. Keinerlei Verstand. Nicht verstehen können, heißt aber, keine Nachsicht mit sich haben. Keinerlei Bedauern. Keinerlei Verstand. Keine Anteilnahme für sich üben. Keinerlei Verstand. Keinerlei Vertrauen. Anteilnahme töten.

Kein Verzeihen üben können. Keinerlei Verzeihung für mich. Keinerlei Verzeihung für mich haben. Und als Opfer ganz allein, distanzieren müssen. Von mir selbst als einem Opfer sprechen müssen; ohne die Distanz zu einem Täter. Unverzeihlich sein zu müssen, bindet ein Kind an die Täter, bringt ein Kind um den Verstand.

Nicht verlassen konnte ich die Eltern. Nicht verlassen, diese Art von Menschen. Nicht verlassen ihren Hass.

Mutters ewig vorwurfsvoller Blick. Unverzeihlich sein zu müssen. So als wäre das verständlich, dass ihr Vorwurf sein muss. So als wäre das verständlich. Dass die Mutter unverzeihlich sein muss. Weil sie gar nicht anders konnte. So als wäre das verständlich, nachvollziehbar und verstehbar. So als wäre das Verstand. Dass sie gar nicht anders konnte.

In der Einsamkeit ersticken, daher kommt das also. Ohne Atem, nicht mehr für mich sein zu können. So war das also. Dieses Gift also, dieses unverzeihlich sein, änderte mein Wesen.

Unverzeihlich sein zu müssen, ist im Grunde blanker Hass. Fluch, der ein Kind an die Eltern bindet, immer nur das falsch Gelernte an sich üben und ausüben müssen. Unverzeihlich sein zu müssen, richtete mich hin, mich und alles zu verfluchen, wonach ich dürstete, wonach ich mich sehr sehnte. Alles als unverzeihlich zu verfluchen, was an ein Gefühl erinnert. Unschuld, Liebe nicht mehr erwecken.

Unschuldig gehasst zu werden, ist schier unerträglich schmerzhaft für ein Kind.

Sie schaute mich dann eine Zeit lang einfach nicht mehr an.

Wie mir das jetzt einfällt nach Jahrzehnten, wie sie wieder zu mir kam und dann meinen Blick, mein Suchen nach Vergebung, immer nur verweigert hatte.

Wusch mich, zog mir die durchgeschwitzten Sachen aus. Zog mir was Neues an und ging dann ohne ein Wort weg.

Deshalb schaute ich am Morgen und an jedem nächsten Tag, voll Verzweiflung in die Wände; wusste nicht warum.

Unverbesserliche Art der Mutter wahren und bewahren. Falsches Lernen aufbewahren, als gäbe es gar keine andre Möglichkeit und Art. Als gäbe es nur für sie Ausreden, und niemals für mich selbst; ein Kind. Ich durfte nicht auf ihre Unverzeihlichkeit hin regieren. Ich durfte daraufhin nichts äußern. Dazu nie etwas sagen. Nicht einmal leises Wimmern. Denn Wimmern kam bei meiner Mutter gar nicht an.

Ich will das jetzt nicht hören! Hörst du!?

Ganz unmöglich war das für mich, etwas vor der Mutter auszudrücken. Wut war nicht erlaubt.

Und als ich noch voll Zorn und unterdrückter Wut vor ihr wegrennen wollte, hielt sie mich einfach an und ließ mich nicht mehr los. Sie lächelte und freute sich und plötzlich ließ sie mich dann wieder aus. Ich habe schließlich ganz vergessen, was das für mich war. Dass meine Mutter unverbesserlich gewesen ist und unverzeihlich jeder Art und Weise gegenüber, die sie nicht verstand.

Das schlimmste für mich war, als mir mein Gefühl dann sagte, ich sei unverbesserlich. Ich sei ein unverbesserliches Kind. Ein Kind, das Zucht und Ordnung und Bestrafung brauchen würde, nötig habe, sonst könnte aus mir gar nichts weiter werden. Dass ich zu dumm und unverbesserlich selbst sei, das dachte ich. Das musste ich für meine Mutter glauben. Deswegen war sie doch so unverzeihlich. Deswegen musste sie doch überhaupt so unverzeihlich zu mir sein.

Ich fand nicht mehr heraus, wer oder was mir eine Freude machen hätte können. Ich fand nicht mehr heraus aus meiner Fehlerhaftigkeit. Aus meinem Fehler machen müssen. Ich war doch unverbesserlich und machte deshalb Unverzeihliches. Ich musste an die Flüche meiner Mutter denken, an ihre Mahnungen. Es war doch immer alles schon von mir, egal was ich gemacht hatte, stets fehlerhaft und unverbesserlich für sie gewesen. Ich hatte keine Ahnung von Gesundheit. Ich wusste gar nicht, was das sei.

Ich war doch für sie da, ein ideales Opfer für die Mutter. Ich musste doch ihr unverbesserliches Opfer sein, das für sie unverzeihlich war und dauernd Unverzeihliches nachproduzierte. Ich war doch ungesund für sie und krank. Sonst hätte sie sich doch um mich gar nicht gekümmert. Ich musste doch für sie krank sein, als ideales Opfer, und nichts von meinem Schmerz verkünden. Ich musste husten, husten, heiser sein.

Ich war so dumm und unverbesserlich und schließlich unverzeihlich, damit sich ihre Flüche doch bewahrheiten konnten. Ich suchte doch von Anfang an nach einer Möglichkeit, die Mutter zu erreichen. Ich war doch lieber unverbesserlich und dumm und nicht gescheit und unverzeihlich jedem andern gegenüber, als so allein, wie ein Kind nur sein kann, ohne ein Gegenüber.

Ich hatte alles doch getan, wie jedes Kind das machen würde, damit die Mutter endlich mit mir spricht. Damit sie endlich mit mir spricht. So schützte ich mich dann in meiner Einsamkeit mit meinen Selbstbezichtigungen und meinem selbst verfluchen. Ich redete doch unentwegt über mein unverbesserlich und unverzeihlich sein müssen.

Denn jedes Mal, wenn ich Gefühle zeigte, verletzte mich dafür doch meine Mutter. So dachte ich als Kind, Gefühle zeigen wäre ein Fehler. Gefühle haben, unverzeihlich. Solange ich Gefühle zeigen und noch haben würde, solange würde ich für meine Mutter unverbesserlich nur sein. Das einzige, was meine Welt, in der ich leben musste, noch verbessern würde, das wäre, still sein, still bleiben und nichts mehr von mir zeigen. Das ideale Kind. So wurde ich für mich selbst unerreichbar. Ich konnte doch nicht wissen, dass meine Mutter mir unentwegt das Falsche beibrachte.

Gefühle haben, macht mir Angst.

Doch das war Mutters Einstellung. Ihr machte alles Angst, jedes Geschöpf, das sich selbst äußern konnte und sich äußern wollte. Ihr machte alles Angst, das nach Gefühlen roch, so aussah und sich auch noch so anhörte. Ich machte meiner Mutter Angst, wenn ich nach ihrer Nähe suchte. Ich machte meiner Mutter Angst, solange ich Gefühle äußerte; deshalb verfluchte sie mich fortwährend und ließ mich dann allein.

Doch ohne die Gefühle, bleibt man für sich nur unerreichbar. Ohne die Wut, kommt man bei sich nicht an. Ohne die Wut findet kein Mensch wieder in seine Nähe; aus seiner Einsamkeit heraus.

Die Beleidigung

Die Mutter tat nichts anderes, als mich für mein Gefühl damit zu strafen. Wonach ich später immer wieder suchte, für andere, war die Beleidigung, die für mich adäquate Steigerung des Ekels und der Verachtung gegenüber jedem Nächsten. Wenn sie zu mir was sagte. Wie ich mich ansatzlos und tödlich mit den Worten später wehrte. Beleidigung. Die Mutter reagierte auf mich unentwegt beleidigend. Sie hatte alle meine Äußerungen als Kind entwertet, niedergemacht. Mit Ekel in den Augen, meine Liebe, mein Trostbedürfnis, auch wenn ich krank war, nur beleidigt. Deshalb lacht sie auch unentwegt. Sie macht sich lustig über mein Unglück und mein Verhalten.

Deshalb erwartete ich auch, wenn jemand hinter mir ging oder neben mir, wenn meine Wege sich mit einem Fremden kreuzten, ganz automatisch eine Art Beleidigung. Vielleicht spuckt jemand mich jetzt an? Vielleicht sagt irgendjemand was zu mir? Vielleicht passt jemandem einfach mein hier sein nicht. Als Ausdruck eines Ekels und einer tiefen Abneigung. Ich nahm die Abneigung so hin, als gäbe es gar keine andre Möglichkeit, auf mich zu reagieren. Als würde das zu mir so passen, dass jeder mich so kränkt, wie meine Mutter ursprünglich. Der Hass der Mutter auf mich Kind. Jetzt finde ich endlich nach Hause. Die Angst vor jeder Art Berührung, Emotion, die Angst der Mutter vor Gefühlen. Sie strafte mich dafür, für mein Gefühle haben; mit ihrem abfälligen Verhalten. Beleidigt wurde ich von ihr von Anfang an. Beleidigt war ich so zutiefst, von Anfang an, dass ich das später nicht mehr wusste, warum ich immerzu auf eine Art Beleidigung, auf eine Kränkung wartete. Warum ich stets bereit sein musste in mir drin, notfalls gleich kränkend auch zu antworten. Denn was am schlimmsten war für mich als Kind, das wusste ich dann später nicht mehr, war die Beleidigung, ein unverbesserliches Kind zu sein, zu dumm, um brav und still zu sein, zu dumm, um mich zu ändern. Auf mich musste doch jeder unverzeihlich reagieren, auf so ein unverbesserliches Kind.

Wie ich das heute erst verstehe, wie abfällig die Mutter auf mich reagierte. Als wäre die Kränkung eines Kindes etwas natürliches, gewöhnliches, im Grunde völlig unbedenklich.

Ein Kind kann sich nur mit Wut gegen Beleidigungen wehren.