Texte von Hugo Rupp

Die Aufstellung

 

Es gab niemand, der etwas von sich zeigte. Da war niemand, der Angst zeigte. Da war niemand, der einsam war. Das zeigte niemand her. Das gab auch niemand zu. Wer einsam und verloren war, der zeigte nichts davon, und niemand konnte etwas davon sehen. Denn niemand zeigte was von sich. Von sich und seiner Einsamkeit. Niemand schien das zu merken, wenn jemand einsam war, alleine war und sich nicht selbst zu helfen wusste. Da war nichts unterhalb der Haut und hinter ausdruckslosen Augen. Da hatte nichts zu sein und das gehörte sich auch nicht, dass ausgerechnet dort was wäre, wo nichts zu sein hatte. Es gab nichts Unsichtbares in uns Kindern. Das Unerhörte war, dass es die Sehnsucht und die Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung eines Kindes gar nicht gab. Wir hatten nichts zu sein. Wir hatten auch nichts zu bedeuten. Wir durften nicht mal etwas andeuten. Wer sich was wünschte scheinbar ohne Grund, der hatte keinen Grund zu haben, der hatte keinen Wunsch und keinen Grund dazu. Uns fehlte nichts, uns Kindern hatte nichts zu fehlen. Es gab keinen, der einsam und verloren war. Der sich nach jemand sehnte. Kein Kind war hoffnungslos, das sollte so erscheinen. Es gab kein Kind, das abseits sich hinstellte. Man stand nicht einfach abseits da. Das ging gar nicht. Niemand stand abseits und allein. Das durfte es nicht geben. Nur zur Bestrafung irgendwelcher Sünden, stand ein Kind abseits dann. Das wurde hingestellt. In eine Ecke hingestellt und ausgestellt.

Nimm deine Hände aus den Hosentaschen, sagt Vater immer wieder.

Man zeigt nicht seine Unbeholfenheit.

Stell dich gerade hin. Nicht schief. Gib acht wie du dastehst!

Man zeigt nicht, wenn man schief ist und gebrochen dasteht. Man hat das nicht zu zeigen. Wir halten uns gerade. Wir gehen gleich. Wir gehen alle so, damit niemand was merkt. Wir sollen nichts von unserm Elend zeigen.

Nimm deine Hände aus den Taschen.

Die Arme angelegt, die Schultern hochgezogenen. So will mein Vater mich als Kind nicht sehen.

Hörst du mir zu. So wie du da stehst will dich niemand haben.

Der Trainer sagte, dass er mir nach dem Training noch etwas zu sagen hätte, dass ich noch zu ihm kommen sollte. Er hätte mich für das nächste Spiel mit aufgestellt. Dazu müsste ich ihm aber noch ein Passbild und die Erlaubnis meines Vaters bringen. Den Spielerpass wollte er gleich mit mir ausfüllen. Das könnte man gleich jetzt machen. Mein Name und so weiter. Ich stand vor ihm und freute mich. Er hatte mich tatsächlich aufgestellt. Ich würde also spielen dürfen. In einer echten Mannschaft, auf einem echten Fußballplatz, in einem echten Ligaspiel. Es fehlte noch die Unterschrift des Vaters. Er gab mir etwas mit, das sollte dann mein Vater unterschreiben. Das sollte ich ihm dann zurückgeben. Ich sehe diesen Raum noch vor mir und meine Freude auch und diesen Spielerpass, der mir so groß und wertvoll war.

Mein Vater drehte völlig durch, er schimpfte, schrie mich an, nachdem ich ihm zuhause stolz von meiner Aufstellung berichtet hatte. Er ließ mich nicht mitspielen. Er sagte einfach kategorisch nein.

Viele Jahre später erzählte er mir, dass sein Stiefvater ihn grün und blau geschlagen hätte, weil er sich nicht an den ausdrücklichen Befehl, nicht an einem Fußballspiel des Ortsvereins teilzunehmen, gehalten hätte. Sein Stiefvater hätte das auch nie erfahren, wenn er nicht in diesem Spiel drei Tore geschossen hätte. Denn genau das stand dann in der Zeitung und eben auch sein Name, der des Torschützen.

Diese Schläge habe ich nie vergessen und das wollte ich dir ersparen, sagte er.

Dass alles gut war und zu meinem Besten. Dass alles gut gemeint war von ihm. Dieses Zeug musste ich als Kind schlucken. Mit diesen Lügen bewahrte ich meinen Vater.

Mein Vater hasste den Vereinsfußball und hasste Journalisten. Er hasste es, wenn er im Fernsehen Fußballer sah, die sich freuten und sich nach einem Torerfolg um den Hals fielen. Er hasste es, wenn die Leute jubelten und sich freuten. Das alles hasste er, aber über seinen Stiefvater, der ihn Zeit seiner Kindheit und später noch mit Hass und Gewalt überzogen hatte, sagte er nichts. Mein Vater konnte über alles herziehen und sich über alles und jeden empören, aber über seinen Stiefvater und die Gewalt und seine stumme Mutter, verlor er nie ein Wort.

Niemand durfte ihn in Frage stellen. Nichts und niemand durfte meinen Vater daran erinnern, was er erleiden hatte müssen und ertragen, ohne ein Wort des Widerstands. Das war es, was ich solange nicht mehr spüren hatte können. Die Art und Weise, wie er kleine, selbst kleinste Anzeichen von Gegenwehr und Anteilnahme, Kummer und Wut, an mir vernichten hatte können. Wie er verhinderte, wie er bei jeder kleinsten Regung Freude, gleich aufging wie ein Tollwütiger.

Was müssen die sich jetzt schon freuen. Das Spiel ist doch noch nicht vorbei. Muss man sich das ansehen. Ist das jetzt modern, sich schon am Anfang so zu freuen. Sich schon beim kleinsten Dreck um den Hals zu fallen.

Mein Vater ging bei jeder Äußerung von Schmerz und Freude, Hilflosigkeit und Trauer, auf und davon. Auf und davon.

Wie kann man nur so unvernünftig sein. Schon jetzt sich so zu freuen.

Das also war das Gleiche und Identische, was meine Mutter auch so sagte und von sich gab, und auch so an sich hatte. Was beide so festhielt, was beide an sich hatten. Was beide an und für sich im Verborgenen hielten. Was sie mir zu bedenken gaben. Was ich behalten sollte.

Freu dich nicht an dir. Freu dich nicht mit dir und auch nicht mit den anderen. Freu dich niemals.

Mein Vater, selbst in der Kindheit eine Geisel, nahm mich in seiner Nähe, in Geiselhaft. Er war ein Geiselnehmer, und ich musste mit meiner Kindheit bei ihm in Geiselhaft, für meine Kindheit bei ihm und für ihn büßen.

Ich musste bei ihm Buße tun, ich musste ihm im Grunde immer wieder nur versprechen, indem ich jeden Laut und Jubel, jede Freude, jedes Leidwesen, nur immerfort vor ihm und mir verbarg und unterdrückte, dass ich mich niemals dazu äußern würde, nicht über das, niemals zu dem, was ihn und mich anging, was ihn und mich anspringen konnte, warum er wütend wurde und schließlich blindwütig auch um sich schlug.

Was ihn anging, das sollte mich nichts angehen. Mein Vater wollte nie mehr seine Kindheit sehen und nie mehr etwas davon mitkriegen und fühlen. Er wollte nicht, dass ich, egal mit welcher Äußerung, ihn daran noch erinnern würde können. Er löschte dazu jede Nähe aus. Er löschte jede Art Verbindung zwischen sich und dem Gefühl der Trauer aus, dass es etwas und jemanden gegeben hatte, der ihn so wütend und so hassend hatte werden lassen.

Deswegen fällt der Hass so unvermittelt und so grundlos, fraglos und vernichtend auf ein Kind und ist dann so verheerend und unverständlich und schmerzhaft, wenn nicht mal der Hassende, der seinen Hass austrägt, über die Herkunft seines Hasses etwas wissen will. Denn wüsste er, woher das stammt, dann müsste er den Hass nicht mehr an Unschuldigen und Sündenböcken und an Kindern ausüben und auslassen.

Ich konnte mich nicht ohne Hass bewegen. Der Hass war schon so früh zu mir gekommen.

Mein Vater warnte unentwegt. Er warnte mich vor bösen Menschen, er warnte mich vor allerlei Gefahren, er warnte mich, dass mir im Leben niemand etwas schenken würde. Mein Vater warnte mich vor Niedertracht, Ausbeutung, Gier und Arroganz und dem Gehabe Mächtiger. Er warnte mich vor Krieg und Hungersnot, Gefangenschaft, vor Ratten und Verlogenheit. Doch vor sich selbst und seinem Hass, da warnte er mich nicht. Vor seinen Hassausbrüchen gab er nie etwas bekannt. Sich selbst vergaß er dabei vollständig, wenn er, ein Irrer, wütend schrie und tobte, dass alles doch verkommen sei, weil jeder nur auf sich und seinen Vorteil schauen würde. Ich war auf meinen Vater angewiesen, deshalb sah ich den Baum vor lauter Wäldern nicht. Mein Vater war für mich als Kind vollkommen überwältigend und deshalb auch so unfassbar gewesen. Er hatte mich vor allem und vor jedem nur gewarnt. Der Hass sprang selbstverständlich auf mich über. Ich lernte nichts so sehr von ihm, als anders sein und andere zu hassen müssen.

Wenn dir jemand begegnet, bei dem du merkst, dass er dir Böses antun will, dann nimm gefälligst deine Beine in die Hand und lauf davon, so schnell wie du nur kannst. Lauf weg!

Das gab er mir als Ratschlag mit. Das hat mich so zerrissen und an den Rand des Wahnsinns auch gebracht. Ich konnte mich vor ihm und seinem Hass nicht schützen. Vor ihm und seinem Hass konnte ich nicht weglaufen. Ich konnte nicht vor meinem Vater flüchten. Ein Kind kann nicht fliehen.

Das schlimmste aber war, ich musste an mir zweifeln, an meinem Wunschgefühl, worüber ich mich freuen hatte können und was mir Spaß gemacht hatte. Was ich gern tat, was ich auch weiterhin gern tun würde. Laut Vaters Reden war alles falsch von mir empfunden worden. Er machte das nicht nur zu nichts, was mir doch eine solche Freude schon bereitet hatte. Ich zweifelte an mir, weil ich den Vater nicht in Zweifel ziehen konnte. Als er mir Fußballspielen rigoros verbot und untersagte. Ich zweifelte an mir und meinem Wunsch, an meiner Sprache für mich selbst, am eigenen Empfinden. Ich zweifelte an meiner Freude selbst. Ich zweifelte an dem Gefühl, dass daran etwas falsch gewesen war, wie ich mich doch gefreut hatte. Das ließ mich ratlos werden.

Einsicht in den Hass wird von dem Gefühl begleitet, und ist erlösend für ein ehemaliges Kind, dass es doch gar nichts für den Vater konnte, dass er ein Ungeheuer war.

Denn ohne einen Zeugen, konnte ich nie und niemals mir das merken, wie ungeheuerlich zerstörerisch mein Vater für mich wirklich war. Das ist ein Grund zur Freude, dass ich mich endlich wieder sehen kann, ohne den Hass. Ein Kind muss diesen Hass erleben können, um davon frei zu werden. Die Übertragung hört dann auf, dass doch im Grunde alles und auch jeder letztendlich hassenswert erscheint. Denn das war Vaters Einstellung und Position. Ich nahm dann diese Einstellung auch an. Es blieb mir gar nichts andres übrig.