Texte von Hugo Rupp

Die Angst des Vaters

 

Sie weint in meiner Nähe. Ich fasse sie sanft an. Berühre ihren Arm am Ellenbogen. Sie zuckt und reißt sich los. Sie schüttelt ihren Kopf und wischt sich ihre Tränen weg. Sie geht. Ich höre sie noch Schlucken.

Sie drückt mir eine Decke aufs Gesicht und hält mir meine Nase zu. Ich höre Blut in meinen Ohren. Die Augen drehen sich und ich mit meinen Augen. Ich sehe weißes Licht. Erst mit der Decke, die sich plötzlich wieder hebt und mein Gesicht freigibt, kommt Dunkelheit in mich und unbekannte Töne. Ich atme plötzlich schneller.

Zehn Jahre später lege ich eine Decke auf meine kleine Schwester. Ich lege sie auf ihr Gesicht. Sie schläft dabei, und nichts in mir ist mit Erinnerung verbunden, an mich und meine Mutter.

Ich mag nicht ängstlich sein.

Ich betrete eine Bühne. Geschminkt, weiß im Gesicht, sitz ich auf einem Stuhl. Auf der Tribüne, rings um mich, um die Bühne laufend, stehen die Besucher. Ich bin die Attraktion, wie auf dem Jahrmarkt oder einer Anhörung. Ich habe meinen Mund geöffnet und starre in ein Licht nach oben, zu einem großen Deckenscheinwerfer, wie ein Patient, in einem Hörsaal vor Studenten. Ich sage nichts. Ich warte, dass sie mir etwas zuflüstern, dass die Souffleuse mir was sagt. Doch sage ich kein Wort. Ich höre jetzt auch eine Stimme, die fern und leise aus einem Lautsprecher was spricht. Ich höre eine Männerstimme, doch höre ich nicht, was sie sagt. Ich sage nichts. Die Menschen um mich werden ungeduldig, doch sage ich bis zum Ende der Vorstellung nichts. Das ist die Darstellung, die ich den Menschen von mir gebe. Mein Gesicht ist eine weiße Maske.

Ich stehe auf und gehe aus dem Raum. Ich sitze jetzt an einem Tisch, an einer Bar, Kantine. Ein Regisseur setzt sich zu mir und sagt, dass ihm das sehr gefallen hat. Dass ich geschwiegen habe. Wie ich das Schweigen darstelle. Er ruft nun einen jüngeren Mann herbei, den Nachwuchsschauspieler, dem meine Vorstellung nicht wirklich zusagte, doch gibt er mir die Hand. Sie haben wirklich Schweigen dargestellt, sagt nun der Regisseur fast andächtig.

Die Sonne ist mein Vater. Das grelle Licht. Der Scheinwerfer, der meine Augen blendet. Ich schaue blind in sein Gesicht.

Er schlägt mich vor der Mutter und meiner kleinen Schwester. Ich wehre mich nicht. Ich spüre keinen Schmerz. Ich zeige mein Gesicht, weiß, stumm, gleichgültig. Vater ist außer Atem. Ich huste leicht und schaue in den Boden. Mutter und Schwester weinen leise. Er sagt, ich kann jetzt in mein Zimmer gehen und lächelt ein klein wenig so, als würden wir uns doch verstehen.

Wir sind an einem See. Am Horizont ist schwarzes Licht. Das Rot des Sonnenuntergangs ist düster und verfärbt mit Blut.

Ihr Freunde seid im Wasser. Ihr sollt dort einen Ball mit euren Knien halten. Doch dreht euch das im Wasser um. Ihr haltet eine Zeitlang unter Wasser aus, dann lasst ihr los, taucht auf und schnappt nach Luft. Ihr dürft auch nicht ans Ufer kommen. Ihr müsst nur immer weiter kämpfen, ein jeder gegen jeden. Ich schaue euch vom Steg aus zu. Ich knie dort.

Sie hält die Stirn in Falten und schaut mich strafend an. Sie schaut mich an, als täte es ihr leid, dass sie mich immer strafen muss. Dass sie dem Vater sagt, dass jetzt Bestrafung fällig ist. Sie schaut mich an, dass ich mir Sorgen machen muss, dass ich für sie mitleide.

Wie ich da vor ihr stehe, gebückt und Mitleid haben soll, für sie und meinen Vater und ein Gefühl der Dankbarkeit.

Am Berg.

Ich bin am Berg. Bin zweieinhalb und stehe auf der Rampe. Hinter mir ist Wildnis, Dschungel, Bäume, Sträucher, Lianen, Pflanzen, am Hang. Ich schaue nach unten zu Omas Haus, wo sie jetzt im Laden sitzt. Ich bin ganz allein hier rauf, weil ich mutig bin und auch allein schon gehen kann. Ich stehe da und sehe, dass unten welche vorbei gehen und Richtung Haus der Oma, aber vorbei gehen und nicht hinein. Hinter mir ist die Burg, wo ich schon war, nur außen und nie drinnen, weil dort nur alte Menschen sind, die niemanden mehr haben und deswegen allein dort wohnen müssen, die keiner mehr besucht und die nicht mehr wollen, dass sie einer besucht.

Der Vater geht jetzt hin und her. Dort unten sehe ich ihn. Zuerst geht er am Haus vorbei, dann kommt er wieder, dann bleibt er stehen und schaut; genau wie ich. Ich mache, was Vater macht, wenn er mit mir eine Runde dreht. Er geht und bleibt dann stehen und schaut und lächelt und dann geht er wieder weiter. Ich mache das. Ich warte, bis er wieder weiter geht, dann gehe ich auch weiter. Ich kann das auch, was Vater kann. Er sieht mich nicht. Ich mache das, was Mutter immer zu Hause macht. Wegrennen und verstecken. Sie geht, dann höre ich nichts mehr von ihr und dann suche ich sie und finde sie hinter einem Vorhang. Wenn ich sie dann sehe, tut sie erschrocken, und ich erschrecke auch, dann lächelt sie. Ich kann mich auch verstecken, aber sie findet mich sofort, und wenn sie mich findet, sagt sie, hab ich dich. Vater spielt zu Hause keine Spiele. Er hat genug davon, wenn er nach Hause kommt, sagt er. Er schaut nach oben, hat mich gesehen. Ich lächle jetzt erst recht. Jetzt hat er mich. Er kommt nach oben und geht ganz schnell. Die Hand hat er am Geländer und schaut mich an. Was machst du denn hier, fragt er und schnauft. Ich lächle und sage nichts, was soll ich sagen, verstecken spiele ich, wie Mutter, muss ich doch nicht sagen, das kann er doch sehen, das weiß er doch, er weiß doch sowieso alles. Ich schaue, und er schlägt zu. Ich stolpere. Ich schaue, aber sehe nur seine schiefen Zähne und sein Mund ist offen und er sagt, dass er das nie mehr wieder sehen will, dass ich weg laufe. Ich weine und schaue auf den schiefen Mund und wie er tobt. Heb deinen Hut gefälligst auf, sagt er. Ich hebe meinen Hut auf, der mir vom Kopf gefallen ist. Wie lange soll der noch im Dreck dort liegen? Ich hebe meinen Hut auf, den mir Mutter gemacht hat, mit der Feder an der Seite, die ist von Oma. Wenn du nicht gleich aufhörst zu weinen, lasse ich dich hier, sagt er. Ich lasse dich hier stehen und dann kannst du schauen, wie du wieder nach Hause kommst. Dann kannst du beweisen, ob du den Weg nach Hause findest. Weg laufen kannst du. Aber wieder nach Hause finden, kannst du das auch, sagt er und sein Mund ist immer mehr zusammen. Ich sehe seine Zähne jetzt nicht. Er kneift den Mund zusammen. Er hat mich ins Gesicht geschlagen mit dem schwarzen Handschuh an. Wenn du schon so groß bist, um alleine auf Wanderschaft zu gehen, dann findest du vielleicht auch schon, wenn es dunkel ist, nach Hause, sagt er. Er reißt meinen Arm und zerrt mich von der Rampe. Willst du hier bleiben, sagt er und schreit mich an. Ich sage nichts und mein Arm tut weh. Er zerrt und zerrt und zieht und lässt dann wieder los. So was, sagt er, geht einfach weg, ohne etwas zu sagen. Haut einfach ab, sagt er. Er bleibt abrupt stehen und reißt an meinem Arm. Das machst du nie wieder, hörst du, sagt er. Mich so zu erschrecken!

Ich muss nach Hause kommen. Im Traum such ich nach Lösungen, um nicht zu Haus zu sein. Ich suche dort nach Möglichkeiten zum nicht nach Hause kommen. Ich suche Möglichkeiten, um keine Angst zu haben. Ich klettere an einer Glasfassade. Kein Fenster öffnet sich.

Ich suche nach dem offnen Herzen.

Später sagt Mutter, nachdem er ihr alles erzählt, dass ich meinen Vater nie mehr so erschrecken darf. Nie mehr, hörst du, sagt sie und schaut mich an, dass ich erst recht erschrecke. Wein nicht, sagt sie, du hast keinen Grund dazu. So was tut man nicht. Einfach davon zu laufen. Was würdest du denn sagen, wenn wir einfach weg gehen würden, ohne ein Wort und dich einfach stehen lassen würden. Was würdest du denn sagen, wenn wir dich einfach, wenn es schon dunkel ist, draußen an einer Ecke stehen lassen würden und einfach weggingen!? Ich fürchte mich vor ihr, wenn sie mir droht, wenn ich ihre Augen sehe. Ich weiß auch, dass Vater es ernst meint, wenn er seine Zähne zeigt, wenn er den Mund aufreißt, so weit, dass man noch seine Lücke sieht, wo keine Zähne sind. Deinem Vater einfach wegzulaufen, sagt sie. So darfst du deinen Vater nie mehr erschrecken. Hörst du mich, sagt sie.

Die Vogelscheuche, die allein auf einem Feld, Tag und Nacht stehen muss. Die bin ich, und alle können mich so sehen. Ich habe Angst vor dem zu Hause sein, vor dem nach Hause kommen. Ich habe Angst allein zu sein und vor dem nicht mehr heim kommen. Ich habe Angst allein zu sein, allein zu bleiben, für immer nur allein zu sein. Ich kann nicht ohne Hilfe weg. Ich bin die Vogelscheuche. Nicht einmal Vögel kommen in meine Nähe. Kein Fuchs, kein Hase in der Nacht. Niemand, der mich besucht und eine Weile neben mir sein will. In mir ist Wut vergraben, so tief in meiner Erde. Doch alle sagen, Schweigen ist Gold. Ich muss auf meine Eltern hören und sie verstehen lernen. Ich muss nach Hause dürfen. Wenn Vater will. Ich kann nicht zeigen, was ich mag. Ich kann nicht zeigen, was ich nicht mag. Ich kann nicht, nein, sagen. Ich kann nicht, nein, zu meiner Mutter sagen. Ich kann nicht sagen, dass mir was fehlt, weh tut. Ich kann nicht sagen, dass sie mir weh tut. Ich kann nicht sagen, dass Vater mir weh tut. Das kann ich nicht, weil ich sonst böse bin. Ich kann nicht sagen, aufhören. Ich kann nicht, bitte nicht!, sagen. Sie mögen mich dann nicht. Sie mögen keine Tränen und keine Schmerzen haben. Sie mögen mein Gesicht nicht sehen. Wenn ich unglücklich schaue, dann lächeln sie. Sie lachen mich wie eine Kerze aus.

Schule der Grausamkeit.

In der ersten Klasse Volksschule zeigt keiner eine Reaktion für den Geschlagenen. Wenn die Lehrerin zuschlägt, schweige ich. Alle schweigen. Ich schaue in die Bank, dann wieder auf die Bestrafung, dann an die Tafel, während die Lehrerin wieder einen Mitschüler ohrfeigt. Wir haben alle keinen Sinn und kein Verständnis für die Schläge.

Ich schaue an die Decke auf die Deckenleuchte und höre leises Brummen. Es hört sich an, als murmle wer in der Leuchtstoffröhre vor sich hin. Ich starre auf den Scheinwerfer. Sie schlägt noch einmal zu, dann hört sie auf. Sie lächelt, schaut zufrieden. Wir sitzen still und schauen zu. Wir zeigen nichts. Kein einziger von uns.

Ich zeige keine Tränen, wenn sie mich schlägt. Ich rege mich dann auf, wenn einer doch dann weint, dann würde ich am liebsten schreien. Du darfst nicht weinen, möchte ich am liebsten in seine Ohren schreien. Du weinst doch nicht. Du brauchst hier nicht zu weinen, möchte ich am liebsten zu ihm sagen. Ich mag nicht, wenn sie weinen. Ich weine nicht. Ich mag keine Tränen sehen.

Liebe.

In der dritten Klasse hatte ich einen Mitschüler, der aus ärmlichen Verhältnissen kam und sich in der Schule sehr schwer tat. Er war immer ruhig. Er saß immer nur still da und sagte nie etwas. Ich kannte seinen Vater, weil mein Vater über ihn gesagt hatte, er sei so dumm wie sein Vater. Er machte seine Hausaufgaben nicht. Nachdem ihn die Lehrerin darauf anspricht, sagt er nichts. Er schaut nur in die Bank und sagt nichts. Er sagt überhaupt nichts. Er sitzt allein. Niemand sitzt neben ihm. Sie schimpft ihn nicht. Sie schreit ihn nicht an. Sie verflucht ihn nicht. Sie schaut ihn an und lächelt. Dann fängt er zu weinen an. Am liebsten würde ich ihn schlagen. Weil er nicht folgt. Er weint lautlos. Sie geht zu ihm und berührt seine Schulter. Sie spricht mit ihm jetzt leise. Sie schaut ihn an, ich zittere vor Wut. Er schluckt und schluchzt und sagt etwas, das wir nicht hören. Ich möchte aufspringen. Sie hört nur zu. Sie soll ihn endlich schlagen, damit er aufhört mit dem Weinen. Sie schimpft ihn aber nicht. Sie legt ihm ihre Hand auf seine rechte Schulter und streichelt ihn. Zweimal. Jetzt hau ihm endlich eine runter, sag ich in mir. Am liebsten würde ich aufstehen und hingehen und ihn ohrfeigen. Ich beiß auf meine Lippen. Ich will, dass sie ihn schlägt. Dass sie ihn endlich hier vor allen schlägt. Der lügt doch wie gedruckt. Und sie steht da und lächelt nur. Sie schlägt ihn nicht. Ich scharre mit den Füßen. Sie streicht ihm übers Haar. Sie lächelt. Ich könnte ihn zerreißen. Sie lässt ihn einfach sitzen und sagt nichts weiter. Dann fährt sie fort mit ihrem Unterricht, als wäre nichts gewesen.

Sie lässt ihn ungestraft. Ich kann das nicht fassen, dass jemand ohne Vorwurf und Bestrafung bleiben kann, für Tränen und Verfehlungen.

Nach der Schule gehe ich zu jedem hin und sage, dass der bestraft gehört. Der muss bestraft werden. Er muss bestraft werden, sage ich. Aber keiner hört mir zu. Alle sind froh, dass die Schule aus ist. Das bin ich nicht. Was soll ich zu Hause. Ich stehe da, und alle gehen heim.

Ich bin artig. Kein böses Kind. Ich mache meinen Eltern keine Schande. Ich weine nicht.

Hass.

In mir ist Hass, der kein Mitleid haben kann, mit einem, der sich schämt und still ist, mit Tränen in den Augen, den Blicken aller ausgesetzt, mit Angst und einem unbestimmten Zittern. Die Angst vor Schlägen, Strafen, Spielen, und keinem Mitgefühl dabei. Ich kann kein Bild ertragen, das einen zeigt, vergeblich suchend und Ausschau haltend, nach allen Seiten hin, die Hände offen, die Arme ausgebreitet, mit seinem Wunsch nach Hilfe, Trost und Rettung. Ich höre Schuld in jedem Weinen. Ich höre die Beschuldigung, die eine Strafe nach sich zieht. Kein Mitleid mit dem Weinenden.

Was stehst du da wie eine Vogelscheuche! Komm endlich her. Wir gehen jetzt, sagt er und schreit mich an.

Nicht-Weinen.

Schau mich gefälligst an, wenn ich schon mit dir rede. Ich will ihn nicht anschauen. Schau deinen Vater an, wenn er mit dir spricht, sagt sie. Du musst verstehen, was dein Vater sagt. Ich soll Nicht-Weinen lernen. Verstehst du, was ich sage? Verstehst du, was ich dir sagen will, sagt er. Verstehst du, was dein Vater dir begreiflich machen will, sagt sie. Verstehst du, was wir dir andauernd sagen? Verstehst du deine Eltern?! Auch wenn ich nichts verstehe, soll ich verstehen. Verstehst du jetzt? Verstehst du endlich, was wir von dir wollen? Ihr wollt, dass ich verstehe. Wir wollen, dass du immer bei uns bleibst. Verstehst du, was wir sagen. Wir sind doch deine Eltern. Wir haben dich doch lieb. Ich nicke ein klein wenig. Du sollst nicht weglaufen, sagt sie und ihre Augen leuchten. Sie starren und sind groß, wie die von großen Fischen. Sie schaut und ihre Lider gehen auf und zu, wie Mund auf einer Mundharmonika. Du sollst nie wieder weglaufen. Hörst du? Du darfst niemals mit einem Fremden gehen. Hörst du, sagt sie. Bleib immer schön in unsrer Nähe, dann kann dir nichts geschehen. Und schau jetzt endlich deinen Vater an, sagt sie. Ich schaue ohne Schauen. Ich weiß nicht, wie ich schauen soll. Ich will nicht in die Augen meines Vaters blicken. Er lächelt mich so seltsam an, dass ich schon wieder Angst vor ihm bekomme. Wie er die Hand jetzt hält. Er macht jetzt einen Schritt zu mir. Ich hebe meine Hand. Was soll denn das, sagt sie. Niemand schlägt dich. Ich mach mit beiden Händen Fäuste und halte sie an meine Hosennaht. Der Vater lächelt wieder. Du musst uns das versprechen! Verstehst du, was wir sagen. Du darfst nie wieder weglaufen. Hörst du. Wir können dich sonst nicht beschützen. Verstehst du, was ich sage? Ich nicke. Einfach davon zu laufen. Was da passieren kann. Wenn nun ein Fremder kommt und dich mitnimmt, sagt sie und schaut mich lächelnd an. So schaut sie, wenn sie Vaters Haare wäscht. Das mag er gern, und sie mag gern, wenn Vater dabei ruhig wird und müde. Ich zittere. Dann bist du ganz allein und niemand kann dir helfen, sagt sie. Ich zittere und friere. Was tust du dann?, sagt sie, und Vater nickt zustimmend. Ich weiß es nicht. Am liebsten würde ich schon wieder weinen. Weinen wird dir dann auch nichts nützen, sagt sie. Ich schaue in ihre Augen. Sie sind wie schwarze Kohlen. Wie Schneemanns Augen. Dann kannst du rufen, wie du willst, und niemand wird dich von uns hören, wenn dich ein Fremder mit sich nimmt. Ich mache meine Fäuste auf. Am liebsten würde ich die Eltern jetzt umarmen. Das mag die Mutter aber nicht. Jetzt schau nicht so mitleidig, sagt er. Ich schnaufe schwer. Jetzt ist es aber wieder gut, sagt sie. Er dreht sich um und geht zum Fenster. Sie macht den Knopf von meiner Jacke auf und geht in ihre Küche. Leg deine Sachen ordentlich auf einen Bügel, sagt sie. Ich blicke mich nach beiden um. Dann geh ich in mein Zimmer. Mir ist so kalt. Am liebsten würde ich mich brennen. Die Hände auf die Herdplatte beim Ofen legen und meine Stirn ans heiße Blech.

Ich setze mich auf meine Bettkante und reibe meine Hände. Ich lege sie mir zwischen meine Beine und drücke sie mit meinen Knien sanft und vorsichtig. Zerbrechlich, wie Flügel einer Taube. Vater wärmt meine Hände so, dass er sie nimmt, in seine packt, zusammenfaltet wie zwei Flügel, bis meine wieder wärmer sind. Ich weiß genau, was seine Hände tun, wenn sie mich wärmen. Er legt auch seine Hand auf meine Schulter. Sie ist mir nicht zu schwer. Ich weiß genau, was gut ist und was nicht. Er reißt an meiner Hand und quetscht mir meine Finger. Ich kenn den Unterschied. Ich weiß was über Hände!

Die Hände in der Kirche. Die beten, halten sie vor sich, und alles ist ganz still. Sie stehen da und sitzen auch, sie schweigen und sie murmeln. Sie schauen alle niemand an und alle sind allein. Ganz oben hängt ein rotes Licht und ein nackter Mann mit aufgehängten Armen. Er friert und er hat Angst, das sehe ich. Ich sehe, dass jemand ihn geschlagen hat. Er zeigt auch keine Angst. Ich möchte vor dem Anblick zittern, doch kann ich das nicht tun. Ich muss auch hier vollkommen ruhig sein und mich still halten. Ich darf mich nicht verraten. Ich muss vor meinem Vater knien. Der Vater lächelt. Mein Vater fürchtet nichts und niemanden. Bist du auch immer brav! Das fragen welche die mich nach der Kirche sehen. Bist du schön brav zu deinen Eltern. Niemand fragt mich nach meinen Eltern. Sei nur schön brav, dann kann dir nichts passieren.

Ich muss nur um Verzeihung bitten. Nur so vergeht die Schuld. Die Mutter sagt: Du musst ihn um Verzeihung bitten. Du bittest deinen Vater um Verzeihung! Ich schaue. Dann bitte ich. Verzeihung, sage ich. Er hat um seine Schläge doch gebettelt, sagt er zu ihr und lächelt. Er schüttelt seinen Kopf. Vergebung für die Schläge. Er schlägt und er vergibt mit seinen Schlägen. Das sei zu meinem Besten. Strafe muss sein, sagt sie.

Wut.

Ich muss die Wut verbergen, dass meine Finger ruhig werden, wenn ich der Mutter gegenüber sitze und Lego Steine gebe, die sie dann für mich steckt. Sie baut ein Haus für mich. Ich kann das nicht, sagt sie. Ich mache keine Fenster in mein Haus, und das gefällt der Mutter nicht. Die Häuser zittern, wenn ich sie festhalte. Am liebsten würde ich sie schlagen. Am schönsten ist, sie zu zerreißen und in kleine Stücke schlagen. Das was die Mutter baut, kaputt zu machen. Sie schaut dann traurig und enttäuscht. Was mir gefällt, ist Häuser einreißen. Die Häuser auszuschütteln. Die Häuser zittern lassen. Wenn ich sie in die Legotonne haue. Ich reiße gerne Steine weg. Ich mag die Häuser nicht, die meine Mutter baut. Ich mag die Häuserzeile nicht, die meine Mutter für mich malt, mit Wachsmalkreiden. Gerade wie ein Strich. Die Häuser und die Fenster, die Türen und die Straße. Gerade mit dem Lineal. Sie malt für mich ein Bild, als Fleißaufgabe. Die Häuser stehen still und stumm. Der Mond ist aufgegangen. Auch goldne Sternlein prangen. Wenn ich ein Bild so malen dürfte, wie ich es will, dann würde alles durchgestrichen sein und schief und nicht gerade. Ich würde alles einreißen, zerkratzen und durchstreichen. Die Häuser umdrehen, aufs Dach. Ich stellte sie auf ihre Dächer und drehte jedes einzelne wie einen Kreisel, dass allen, die in ihnen wohnen, schwindlig wird. Ich hau den Menschen ihre Häuser um die Ohren. Ich schüttle sie in ihren Häusern, ich schüttle alle raus. Damit sie alle rauspurzeln und wie betrunken gehen, dass ihnen auch ihr Lachen mal vergeht wie mir, wenn Vater mich so schüttelt. Mit beiden Händen hält er mich und lässt mich um sich wirbeln. Ich möchte alle auch so schütteln, dass ihre Angst zum Vorschein kommt, wie ich mich fühle, wenn er mich fliegen lässt.

Er hält mein eines Bein und meine andre Hand, dann lässt er mich im Kreise sausen, bis mir schlecht wird. Er lächelt, lacht und lächelt, und mich reißt alles mit. Er setzt mich ab, ich taumle, drehe mich und falle hin, dann muss ich mich übergeben. Er lächelt immer noch, die Mutter muss jetzt putzen. Ich mache Fäuste zum Zerspringen und schreie, während sie das tut.

Die Häuser, die sie malt, sind mein Beweis, dass nichts von alledem, was hinter Fenstern ist, nach außen dringt. Wie meine Mutter mit dem Lineal die Häuser in die Wachsmalkreidenfarbschicht kratzt, so soll es sein. Kein Mensch ist auf dem Bild, kein Mensch, der etwas sieht. Niemand ist da gewesen. Hat sich mit mir gedreht, hängt mit dem Kopf nach unten, bis seine Augenlider flackern. Die umgedrehten Augen. Ich fliege wie der Zeiger seiner Uhr, wenn Vater seine Uhr vorstellt. Die Haare stehen mir zu Berge.

Ich richte mich jetzt auf. Ich stehe wacklig auf den Beinen. Ich fasse niemand an. Ich will alleine stehen. Mein Vater reicht mir lächelnd seine Hand. Ich mache Fäuste. Ich will die Hand nicht fassen und anfassen. Er lächelt wieder. Er lächelt und sie wischt Erbrochenes vom Teppich weg. Ich sehe auf den Boden, verziehe meinen Mund und fange an zu weinen. Doch das ist nicht mein leises Weinen. Ich schreie meine Tränen an. Dann schreie ich heraus. Ich schrei so laut ich kann. Da zittern gleich die Wände, sagt Vater lächelnd. Ich habe keine Ähnlichkeit mit meinem Vater. Ich schreie ihn jetzt an. Ich schreie meine Mutter an. Sie rutscht auf allen Vieren über ihren schönen Teppich, um noch zu retten, wie sie sagt, was noch zu retten ist, und murmelt dabei Worte. Sie hustet auch, weil sie sich ekelt. Und Vater schaut da zu. Er streckt die Hand in meine Richtung. Ich bebe und ich zucke und ich zittere, ich winde mich und wackle und will um nichts auf dieser Welt, wie Vater immer sagt, ich will um nichts auf dieser Welt, die Hand anfassen, die er mir reicht. Ich will sie nicht berühren. Sie ist Pesthand, das Böse, das es gibt. Ich will die Scheißhand meines Vaters nicht berühren. Ich will den Vater nicht berühren. Ich will nicht, dass er mich anlangt. Er soll die Scheißhand wegnehmen. Ich tobe und ich schreie auf der Stelle. Ich fasse dich nicht an. Nur keine Sorge, sagt mein Vater, zuckt, lächelt und schaut spöttisch. Er ist beleidigt. Ich schnaufe immer noch. Ich fasse dich schon nicht mehr an, sagt er. Die Mutter sieht den Vater an. Sie hat jetzt Angst vor ihm. Sie sieht das Unausweichliche, dass Vater einfach geht und sie mit mir alleine lässt. Für sie ist das ein böses Ende, wenn Vater einfach geht. Jetzt hör doch wieder auf, sagt sie zu mir. Niemand tut dir hier weh. Hier tut dir niemand was! Jetzt ist es wieder gut, sagt sie und schaut dann in den Teppichboden. Ich höre sie und achte nicht darauf. Ich stehe mit den Fäusten da und hebe meine Hände, ich werde mich verteidigen und wehren, wer mich anrührt, dem werde ich es zeigen. Ich bin zwei Jahre alt und noch ein halbes Jahr dazu. Ich bin kein halbes Kind. Ich bin ein ganzes Kind.