Texte von Hugo Rupp

Die Abwehrhaltung

 

Sie lachten über mich. Sie lachten alle, als ich taumelte und meine Stimme komisch klang und nicht mehr gehen konnte, lachten sie. Als ich dann plötzlich wackelte und schwankte, weil meine Augen schwammen, schaukelten, verlachten sie mich noch mehr, noch viel lustiger, weil meine Beine weich wurden. Dann hielt mich Vater auf und machte ihrem Lachen kurzerhand den Garaus. Er nahm mich und ich schaute. Dann wusste ich schon nicht mehr, wo ich war. Auf seinem Arm, in seiner Hand, in welchem Raum, wie viele Menschen noch da waren. Dann später, gleich am nächsten Tag und Tage später immer noch. Sie lachten Wochen, Jahre später noch, wie ich mit zwei am Geburtstag der Mutter meines Vaters Wein getrunken hatte und dann so lustig war. Ach nur ein Schluck. Nur ein Schluck kann nicht schaden. Die Frau mit ihrem bösen Lachen war seine Mutter. Die böse, dunkle, schwarze Frau, die mich begutachtete, die mich nicht haben wollte, für niemand, die überhaupt nicht wollte, dass ich da war, die mein Dasein gar nicht mochte, sagten sie, was braucht der eigene Kinder, sagte seine Mutter. Das hat der Bruder schon. Was braucht der jetzt auch noch ein eignes Kind. Das sagten sie dann später immer wieder, da war die Frau schon tot. Sie hatten alle aber nur gelacht. Ach lass im doch, wenn er das will, auch einen Schluck, wenn er das Glas doch haben will, dann lasst ihm doch den Schluck. Was kann ihm schon passieren, sagte sie. Die böse, alte Frau in ihrem schwarzen Kleid, das dunkel wie die Kohle war. Kohlrabenschwarz, wie ihre Augen und ihr Mund, wie sie erschien, wie sie mich musterte bei jedem Blick nur neidisch, böse und gehässig, grausam. Wie sie den Mund, die Lippen zumachte und an den Lippen sog als würde sie was kauen, die Schmatzgeräusche wie ein Schwein, ein wildes, böses, und Borsten auf den Oberlippen, wie sie mich ausstach mit den aufgeblähten Nüstern, tatsächlich wie ein Schwein, die böse, böse, alte Frau.

Wie wir am Grab des Jungen standen, hinten in der letzten Reihe und Witze machten, dass Kränze nicht sehr passend wären, weil er doch ertrunken sei, da wären Rettungsringe doch viel passender als Grabbeigabe, statt Erde sollten sie ihm einen Rettungsring auf seinen Sarg legen. Wir lachten, und mein Lachen tat mir weh. Ich konnte es schon selbst nicht mehr ertragen, dass ich tatsächlich Witze bei der Beerdigung des Sohnes einer Freundin machte, der in einem See ertrunken war. Er konnte nicht gut schwimmen. Wir lachten uns dort hinten schief und fühlten nichts als Unbedeutendheit. Als wäre Unglück unbedeutend. Als gäbe es nichts wirklich wertvolles, nichts was uns ernst und traurig oder irgendwie nur anders hätte stimmen können. Wir wären wütend noch geworden, wenn uns jemand das Witze machen vorgeworfen hätte. Wir lachten nicht am Abgrund. Wir tanzten nicht auf dem Vulkan, wir machten Witze über einen Jungen, der mit 14 Jahren ertrunken war. Wir lachten über alles, den Tag, die Sonne, und den dummen Vater, der seinen Sohn und die Familie schon lange verlassen hatte. Wir lachten über jede Äußerung des Schmerzes, wir amüsierten uns darüber, wie die Leute standen, zu nah, zu eng, dass manche tuschelten und nuschelten, dass einige sogar weinten. Die Mutter weinte nicht. Wir wollten schleunigst wieder weg und lachten einfach weiter, wir lachten und dann gingen wir den kurzen Weg zum Friedhofstor und um die Ecke. Wir rauchten eine Zigarette und achteten darauf, dass jeder, der uns sah auch sehen konnte, dass wir uns amüsierten. Wir lachten alles Unglück aus. Wir lachten über unsre Schuhe und dass sie schäbig waren. Gerade richtig für den Tag, gerade schäbig, abgestoßen und nicht geputzt, gerade richtig um das Unglück lächerlich zu machen. Wir machten selbst das Unglück lächerlich. Im Grunde machten wir uns über alles lustig, über jede Äußerung. Die Schadenfreude war Verzweiflung jetzt, von der wir gar nichts wussten. Wir wussten nicht, das wir verzweifelt waren. Wir wussten nichts von unsrem Unglück. Wir wussten nichts von unserer Begierde, das Lachen auszulachen, mit Lachen endlich alles auszulöschen, den Tod, das Leid, jedes Gefühl, das Leben und das Sterben, den Tag, die Nacht, nichts sollte vor uns sicher sein, nichts sollte Ernst erregen, nichts sollte stehen bleiben dürfen, nichts sollte fest sein und begreifbar. Wir waren unbegreiflich roh, wir waren unbeschreiblich grausam. Uns juckte nicht der Tod, nicht eines Jungen, uns juckte überhaupt nichts mehr. Wir waren unbeschreiblich grausam mit unserem Vermögen, ein Leid zu ignorieren. Wir lachten über alles Leid. Es fiel uns gar nicht auf, dass wir das Leid verlachten. Es fiel uns gar nicht auf, dass wir das Leid verachteten. Es fiel uns gar nicht auf, dass wir nicht einmal mehr im Ansatz wussten, was Leiden, Unglück überhaupt bedeuten konnten. Wir hatten keinerlei Bedeutung mehr. Für uns nicht und für keinen anderen. Für uns bedeutete das alles nichts. Nur über was wir lachen konnten, war noch bedeutend. Nur Lachen war nicht unbedeutend.

Ich sehe doch, wie Vater immer lächelt, wie er sich förmlich kugeln will, vor lauter Lachen, wenn ich was mache. Wie er andauernd lacht, wenn ich was tue. Ich höre, sehe seine Lachaugen und weiß bestimmt nicht, was er meint. Er lacht vollkommen losgelöst von mir. Ich weiß nie, was er meint, wenn er mich auslacht. Er lacht auch über Weinen. Dann schimpft er zwischendurch. Das ist doch wirklich nur zum Lachen. Das kann doch alles nicht wahr sein, sagt er. Das ist doch lächerlich. Mein Vater hält das jetzt nicht länger aus. Ich weiß nicht, was er meint. Ja soll ich etwa weinen, sagt meine Mutter immer wieder.

Wenn Vater Schmerzen hat, darf niemand lachen. Dann ist Karfreitag. Wenn Vater leidet ist Karfreitag. Dann gibt es keinerlei Musik, nichts lustiges im Fernsehen, nur Tod und schwarze Kleidung. Wenn Vater krank ist, ist es still, weil Stille herrschen muss, damit mein Vater auch bestimmt wieder gesund wird. Er braucht die Ruhe für sich selbst. Mein Vater benötigt die gesamte Ruhe der gesamten Welt. Wenn er krank ist und leidet, muss die Welt dunkel sein und still und auch stillhalten, bis er wieder etwas sagt. Erst wenn Vater wieder etwas sagt und dabei lächelt, ist die Zeit der Stille vorbei. Vater erklärt die Zeit der Stille für beendet. Und wenn er dann wieder lachen kann, muss ich mir wieder überlegen, wie ich ihn zum Lachen bringen kann. Denn Lachen ist die beste Medizin. Ich muss den Vater heilen. Mit Lachen. Damit er wieder lachen kann. Denn krank ist dieser Mensch vollkommen unausstehlich. Krank ist mein Vater noch viel schlimmer. Wenn er im Bett liegt und von dort die Welt regiert, muss sich die Welt um seine Krankheit drehen, um sein Bedürfnis nach dem Schlaf, nach seiner Heilung und Genesung, dann darf nichts schief gehen, sonst wird er liegend wütend.

Mein Vater liegt im Bett und schreit und schimpft und flucht. Er zittert dabei leicht, denn seine Worte wollen plötzlich nicht mehr kommen.

Er hatte sich tatsächlich an seinen Flüchen selbst verschluckt, so heftig schimpfte er und drosch mit seinen Worten auf die Menschheit ein. Ich sah das und erschrak. Wie kann ein kranker Mensch nur so gehässig sein und boshaft gleichermaßen? Wie kann jemand nicht aufhören, nicht endlich einmal selbst still sein und einmal nicht die Welt verfluchen? Wie furchtbar ist das Fluchen meines Vaters. Die Mutter steht im Gang und lacht. Sie lacht dabei tatsächlich. Sie schüttelt sich, dann geht sie in die Küche. Sie steht dort, weint und schüttelt sich vor Lachen. Das hat der Mann gemacht. Der war mein Vater. Der hat bestimmt, was lachhaft ist und was nichts wert ist, über das zu lachen sich nicht einmal lohnt. Das gab es auch. Da lohnt nicht einmal mehr ein Lächeln. Der Vater löschte jedes Leid. Der löschte jede Kindheit aus. Der war so voller Hass und schier unendlicher Verachtung, dass er die Vögel hasste, wenn er doch seine Ruhe haben wollte, musste, damit er wieder gesund würde. Die Vögel, sie hinderten ihn mit ihrem Singen, dass er gesund würde. Bei diesem Lärm kann man nur kränker werden, sagt er. Bei diesem Lärm kann ich nicht heilen, sagt er.

Mein Vater lachte niemals über sich. Das war vollkommen ausgeschlossen. Das gab es nicht, das hat es nie für mich gegeben. Ich habe das niemals erlebt, dass er sich selbst belächelt hätte. Das Lachen meiner Mutter war reinste Abwehr, reine Verzweiflung über diesen Menschen. Ich habe das als Kind niemals verstanden. Der Vater hat mich doch erschreckt. Er war für mich, zuhause, krank, nur Schrecken und erschreckend. Er war vollkommen losgelöst, vollkommen seinem Hass ergeben und gleichermaßen ausgeliefert. Er konnte seinen Hass nicht stoppen. Er fluchte einfach weiter. Er hörte nicht mehr auf. Er hasste unabhängig weiter, auch ganz egal was man ihm tat. Ob meine Mutter ihm das Essen brachte und ihn kämmte, wusch, egal ob sie ihm seine Stirn abtrocknete, besänftigend auf ihn einredete. Er hörte nicht auf. Er konnte nicht aufhören, erst als er heiser wurde, dann noch mal schimpfte und die Welt verfluchte, sank er zurück und war erschöpft.

Das schrecklichste jedoch, was ich damals nur nicht verstand und was kein Kind wirklich verstehen kann, war, dass er doch seinen Hass nicht stoppen konnte. Er konnte nicht mehr aufhören. Der Hass sprach aus ihm unablässig. Er konnte seine Grobheit nicht beenden. Da kam nichts anderes hervor. Er konnte sich nicht selbst helfen. Er konnte diesen Hass nicht einmal stoppen. Mein Vater war nicht seiner Krankheit ausgeliefert. Er war das Opfer seines Hasses. Er konnte nicht aufhören. Das hat mein Lachen ausgelöst. Ich fing dann auch an mit dem Lachen, wenn etwas schrecklich war und schmerzte, wenn ich im Grunde nur zerspringen wollte, platzen, mich übergeben, sterben, und in Luft auflösen. Ich lachte dann wie sie. Ich lachte gegenüber allem. Ich lachte über mich. Ich lachte über alles. Weil niemand diesen Mann zum Schweigen bringen konnte, weil er der Herrscher in den vier Wänden war, weil niemand seine Macht in Frage stellen konnte, weil niemand sich das traute. Die Ehrfurcht war dann später noch zu groß. Ich hatte niemals wieder solche Angst, wie damals mit dem Vater, als er den Hass nicht mehr beherrschen konnte, wie jedes Wort nur noch mehr hassen wollte, hassen und nichts anderes. Mein Vater war nicht lächerlich. Er war für mich entsetzlich grausam, furchterregend. Das Lachen meiner Mutter über ihn, war ihre Abwehrhaltung. Sie hätte niemals vor ihm lachen können, das hätte sie niemals gewagt. Mein Vater war für mich als Kind nicht lachhaft. Er war es später dann, wie alles Unglück für mich und noch viel mehr. Die Schadenfreude über meinen Vater aber, war einmal Angst vor ihm gewesen. Beschreibbar und verständlich endlich. Dass ich mich auch mit Lachen schützen musste später. Dass ich nicht still sein konnte, noch Witze reißen musste über einen toten Jungen. Dass ich den Vater hasste und auch wie nichts sonst fürchtete, das wusste ich doch nicht. Mein Lachen über alles war die Lösung, mein Lachen über alles Böse. Mein Lachen galt im Grunde mir und meinem eigenen Unglück. Es galt dem eignen Hass, den ich in mir verlachte. Den ich verlachen und verlachen musste; die Wut auf meinen Vater.

Einsam sein, wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftigt aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff.
Und wenn man eines Tages einsieht, daß ihre Beschäftigungen armselig, ihre Berufe erstarrt und mit dem Leben nicht mehr verbunden sind, warum dann nicht weiter wie ein Kind darauf hinsehen als auf ein Fremdes, aus der Tiefe der eigenen Welt heraus, aus der Weite der eigenen Einsamkeit, die selber Arbeit ist und Rang und Beruf? Warum eines Kindes weises Nicht-Verstehen vertauschen wollen gegen Abwehr und Verachtung, da doch Nicht-Verstehen Alleinsein ist, Abwehr und Verachtung aber Teilnahme an dem, wovon man sich mit diesen Mitteln scheiden will. …

Aus: Rainer Maria Rilke; Brief, An Franz Xaver Kappus, Rom, am 23.Dezember 1903