Texte von Hugo Rupp

Der Unterschied

 

Tu nichts, was deinen Vater ärgern kann. Tu nichts, was deinen Vater ärgert und in Rage bringt. Tu nichts um deinen Vater noch zu ärgern. Tu nichts, was ihn aufregt. Du weißt, wie sehr er sich aufregen kann. Du weißt, wie wütend er dann wird. Er ist dann völlig außer sich. Er ist dann nicht er selbst. Hörst du mir zu? Verstehst du, was ich meine!?

Ich tue das, wonach ich immer schon gesucht habe. Ich suche nach den Worten meiner Eltern, und ganz besonders denen meiner Mutter. Was sie für mich bedeuten.

Du weißt doch, wie er ist. Du kennst ihn doch, wie leicht er eingeschnappt sein kann. Tu nichts, wenn ich dir sage, sage nichts zu ihm. Hörst du. Hörst du mir zu. Sag nie was über das, was ich dir über deinen Vater sage, direkt zu ihm. Hörst du!? Niemals!

Tu nichts, was deinen Vater wütend machen kann. Du weißt, wie er das hasst, wenn man ihm widerspricht. Du weißt, wie wütend er da werden kann, wenn man ihn etwas fragt, das er nicht hören will. Du weißt, was er dann immer sagt.

Er beißt dann auf den Nagel seines rechten Daumens und schaut mich an. Er überlegt. Die Zähne mahlen und seine Kiefer schieben, schaben.

Du sollst doch deinen Vater nicht so ärgern. Hast du nicht zugehört, was ich dir gestern Abend vor dem Zubettgehen noch sagen wollte, dass du ihn, wenn er von der Arbeit kommt, nicht immer etwas fragen sollst. Das kann dein Vater dann nicht haben, wenn man ihm dann noch mit den Fragen kommt, wenn er nach Hause kommt, sich auf sein Abendessen freut, dann kann er deine Fragen nicht ertragen, sagt sie.

Die Mutter ist Botschafterin, der Engel mit den Worten, der alles, was der Vater sagt, erklärt, auslegt nach Bestem Wissen und Gewissen. Sie ist der Engel ohnegleichen, sie ist diejenige für mich, die Gott erklärt. Sie weiß etwas von ihm, das nicht einmal er selbst zu wissen scheint. Botschaft von meinem Vater ist ihr Werk. Sein Dunkel, seine Düsternis, die Gnadenlosigkeit für andere und mich, ihn aufzuhellen, aufzuklären, nachdem er zugeschlagen hat und wütend wird und um sich schreit und tobt, und alle Welt zum Teufel und zum Verrecken schickt. Wenn Vater ums Verrecken schreit, dann ist sein linkes Auge aufgeregt und zittert, zuckt, und seine kleinen Finger rollen sich, und kratzen an der Handfläche. Wenn er die Zunge noch verdreht und seinen Mund ein wenig öffnet, dann spuckt er seine Worte förmlich aus.

Mutter/Muttersprache

Sie übte die Gewalt an mir, ohne sie förmlich an mir auszuüben. Das habe ich solange nicht verstanden. Gewalt-tätig war sie für mich, doch konnte ich die Tat mir niemals merken. Ich stand da immer neben ihr, wenn sie von seiner Macht und seinem Einfluss redete. Sie machte sich mit ihren Worten, mit ihrer Botschaft über meinen Vater, unbezwingbar; sich selbst zu einer Unsichtbaren.

Ich war ihr Opfer für die Rache. Sie rächte sich, für die Erniedrigung und Kaltstellung aller Gefühle ihres Kindes, das sie einmal gewesen war. Sie rächte sich. Sie sollte als Kind niemals aufbegehren und niemals etwas gegen ihren Vater sagen. Sie rächte sich für ihr Stillhalten müssen. Für unentwegtes, immerzu zu allem schweigen und verschwinden und die Hände auf dem Rücken halten müssen. Sie rächte sich dafür, dass sie niemals dagegen etwas tun konnte. Sie rächte sich dafür, dass ihr niemand jemals gestattet hatte, was gegen ihren Vater und ihre Mutter vorzubringen.

Die Botschaft meiner Mutter war, dass niemand sich befreien könnte, und was noch schlimmer war, dass niemand sich befreien sollte, weil Vater doch für die Familie sorgen würde. Er täte alles nur erdenkliche zum Wohle derer, die ihm gehorchten und angehören würden. Die Freiheit als Gefühl kann so einem System nicht angehören. Sie kann einem System, dem keine Freiheit innewohnt, das keine Freiheit vorlebt, noch propagiert, gar nicht entspringen.

Sag doch endlich, was dir fehlt. Sag doch, was los ist. Mach endlich dein Maul auf! Sag gefälligst, was dir fehlt. Was ist los? Hör doch endlich auf mit diesem Flennen. Sag halt, was dir fehlt. Immer nur mir was hier vorzujammern. Sag doch endlich, was dir fehlt. Mach dein Maul auf, sagen beide immer wieder.

Wie soll ich vor meinen Eltern sprechen? Wie soll ich den Eltern sagen, was ich fühle und was in mir vorgeht? Wie soll ich vor jemand beichten, vor dem ich Angst habe? Wie soll ein Kind etwas von sich berichten, wenn es Angst hat vor Erniedrigung?

Sag doch, was dir fehlt?

Mach gefälligst jetzt dein Maul auf, sagt der Vater. Ich hab das Weinen deines Sohnes satt, sagt er und schaut zu meiner Mutter. Vielleicht sagt er dir ja später etwas, mit dem du etwas anfangen kannst. Mir reicht es jedenfalls.

Siehst du, jetzt hast du deinen Vater vertrieben. Schau, jetzt ist er weg. Jetzt hast du es geschafft, dass dein Vater sich nicht mehr in den eigenen vier Wänden wohlfühlt, sagt sie.

Worte, Laute, mein Dafürhalten, alles was ich jemals von mir gab, hat die Mutter mir zerkleinert. Sie hat jede Äußerung, die ich von mir gab, in den Fleischwolf reingegeben und zerrieben. Ihr Gesicht und ihre Zähne, ihre Kiefer, ihr Gehör, ihr Grimassen schneiden, wenn sie was von mir nicht mochte, und sie mochte gar nichts, was mir auf der Seele lag. Wie sie ihre Finger rieb und drückte, wenn ich in der Nähe lag. Wie sie mir das ansah und anmerkte, wenn mir was auf meiner Seele lag. Meine Mutter wollte davon gar nichts hören. Meine Mutter konnte gar nichts davon hören, was erniedrigend gewesen war. Was mich kleiner machte wie ein Tier, das den Schrei selbst nicht ertragen kann. Für sich schreien kann ein Tier. Doch ein Kind kann das verlernen. Weil die Demutshaltung sein Gefühl für sich zerkleinert, wenn es in die Hose macht, voller Angst und noch mehr Zweifel über das Gefühl, was es haben könnte, doch nicht haben kann. Wut als Beichte vor den Eltern. Wut auf meine Mutter/Muttersprache. Wie soll ein Kind das ertragen?

Deshalb zittern später noch die Beine, wenn auf eine Beichte, auf die Beschreibung eines Kampfes hin, wenn auf ein Bekenntnis, nur die Stille folgt. Wenn Erniedrigungen endlich aus dem Munde eines Kindes, endlich aus dem Kerker und dem Keller kommen, und der zuhört, kann und will sich nicht empören, wird die Beichte über die Erniedrigung wieder nur Erniedrigung. Auskunft geben, beichten von Verbrechen, werden als Erniedrigung empfunden, wenn die Hörer vor der Wahrheit eines Kindes wieder nur zurückschrecken. Dieser Schrecken der Medusa, ist die Angst, die ein Kind zurückwirft in den Keller, sein Verlies, wo die toten Stimmen lagern. Wo Betäubung vorherrscht und kein Klagen. Klaglos abgesagt, gesagt, gesagt und nie verwunden, weil die Stimme jetzt versagt. Botschaft meiner Mutter: Rede nicht mit einer Stimme, wenn die Stimme schon versagt. Überschlage dich nicht mit der Zunge. Deine Wut ist niemals angebracht.

Meine Wut ist niemals angekommen.

Sag doch was dir fehlt!

Sie war für mich als Kind, nur die Verkünderin und niemals Täterin. Sie war, wenn Vater mich auf ihren Hinweis hin, bestrafte, dann meistens abwesend. Doch was ich immerzu vergaß, wenn sie mir Strafen, Kopfwaschen, mir meinen Kopf gehörig zu waschen, androhte, dass die Verkündigung durch sie schon reinste Folter war. Wie ich davon schon zitterte, was sie mir nur in Aussicht stellte.

Deswegen wurde ich so andachtsvoll. Aus Angst vor der Erniedrigung, aus Angst, dass das, was meine Mutter sagt, auch kommt, eintreffen wird. Vorhersehung der Strafe. Wenn meine Mutter spricht, von hinten kommt und meinen Kopf anspricht und mich mit Dreck und Grind beschmutzt und wieder nur beschädigt.

Nur Grind und Dreck und Schmutz bist du. Du starrst vor lauter Dreck. Du bist verschissen wie nur was. Wie kann man sich nur so einscheißen. Wie kann man nur so dreckig sein, sagt sie.

Ich musste das verstehen lernen, erst an mir selbst, dass ich mit meiner Mutter gar kein Mitleid haben konnte. Man kann sich selbst nur retten und sich fühlen, wenn man mit jemand kein Mitleid hat, der einen fortwährend beleidigt und mit den Lügen noch mehr hasst.

Was fehlt dir denn schon wieder?

Mir fehlt die Liebe insgesamt.

Ich höre Amseln reden, um vier Uhr früh. Jetzt weiß ich was mir fehlte.

Was fehlt dir denn schon wieder?

Die Freude, Liebe und Lebendigkeit.

Was fehlt dir?

Man kann nicht wütend werden, wenn man sich dafür hasst. Man kann Gefühle nicht betrügen. Nur sein Empfinden dafür, kann man verschwinden lassen. Man kann nicht lieben, wenn man sich für die eigne Kindheit schämt und hasst. Man kann die Wut nicht finden, wenn man wie seine Eltern hasst.

Dagegen konnte ich mich niemals wütend wehren, das war es, was mich so verdross, wie furchtbar willkürlich und kaltblütig mich meine Mutter immer nur wegschloss. Blindwütig reagierte sie auf jeden Schrei, auf jede Träne, jeden Ton, von mir, und jedem anderen Geschöpf. Sie konnte einen Vogel anschreien. Sie schrie mich an, für jeden Tropfen, den ich für mich vergoss und lobte mich für jedes Leid, das ich dafür vergaß.

Die Mutter war nicht wirr. Sie war blindwütig. Für mich. Wenn jemand einen Menschen immerzu erschreckt, dann ist er doch blindwütig. Sie schrie, sie schimpfte ohne Maß und Zweifel und ohne Überlegung. Wie er zuschlug, auch ohne jedes Maß. Sie waren beide blindwütend. Die Mutter schützte blindlings meinen Vater, wenn er zuschlug und schimpfte, schrie. Wie Vater immer meine Mutter schützen sollte, wenn sie mich ablegte, mich in den Abgrund fahren ließ und mich fortwährend nur erschreckte. Er deckte ihre blinde Wut, ihr Schrecken und Erschrecken, mit seinem Schweigen zu. Mein Vater und die Mutter waren beide blindwütend. Sie hatten keinerlei Begriff von ihrer Angst, die sie in ihren Körpern trugen. Sie schlugen augenblicklich auf mich an, wenn ich in Not, der Liebe und des Trostes so bedurft hätte. Gerade darauf schlugen sie wie Kettenhunde an und los. Sie reagierten immer nur erschreckend. Wie tolle Hunde auf der Jagd nach Angst und Beute. Wenn sie zusammen mich anbellten, ließ ich in mir was los. Ich schloss in mir dann meine Augen, unsichtbar gegenüber ihrer Gier, nach Blut und Rache.

Sie waren beide blindwütig.

Welch eine Last, realisiere ich erst jetzt, mir beide, der eine wie die andere, für meine Suche nach der Wahrheit wirklich waren und wie erdrückend dabei, weil sie sich beide, vollkommen blind für die Verbrechen des jeweils anderen, Deckung und Schutz auch gaben. Sie drückten gegenüber ihrer Ausübung, der blinden Wut an mir, stets für den anderen die Augen zu. Sie deckten damit die Verbrechen. Ich kämpfte jede Nacht in meinen Träumen mit der Frage, wie kann ich blinde Wut ertragen und trotzdem weiterschlafen. Ich wünschte mir so sehr, mit einer andern Sprache aufzuwachen.

Bist du jetzt endlich wach!

Die blinde Wut sucht Sündenböcke, weil sie nicht sehen und nicht fühlen kann, wer die Verursacher des Leidens in der Kindheit wirklich waren, und was die gute Wut nur kann: als Vorbedingung einer Heilung.

Dagegen huste ich und keuche, hechle, kratze, belle ich, seitdem ich bellen kann, gegen die blinde Wut der Eltern, und mein Sündenbockdasein.

Wer hasst, kann nicht mitleiden. Man kann kein Mitleid haben, wenn man sich für die eigne Kindheit hasst. Darüber lässt sich auch nicht streiten, weil man die Wahrheit seiner Kindheit braucht, um die Gefühle zu ertragen. Weil kein Kind seine Eltern später braucht, die es nur hassten und solange quälten. Blindwütigkeit der Eltern nur ertragen und nie in Frage stellen dürfen, ist doch unendlich grausam, weil es ein Kind zwingt, jemand zu lieben und zu mögen, auf den es wütend ist und den es deshalb gar nicht lieben kann.

Jetzt fällt mir plötzlich auf, was ich als kleines Kind vor meinen Eltern hatte und was sie nicht verstanden, von dem sie aber immerzu zurückschreckten, wann immer ich das zeigte: die Leidenschaft. Ich hatte etwas, was meinen Eltern gänzlich fehlte. Die Leidenschaft für sich und an und für sich. Sie hatten keine Leidenschaft. Sie waren blindwütig, sadistisch, kalt, ehrgeizig, gierig und gehässig. Sie waren bösartig und grausam. Sie hatten aber keine Leidenschaft. Sie konnten sich nicht freuen. Deshalb war meine Liebe so vergeblich.

Wie kann ein Kind nur andauernd so schreien, sagt er.

Wie kann man nur so zornig sein, so klein und schon so laut. Wie kann man nur so zornig sein, sagt sie.

Das darf doch wohl nicht wahr sein. Jetzt geht das schon wieder los, sagt er und sie.

Die Leidenschaft, die rettete mein Leben. Das war mein für mich sein, mein leidenschaftliches Eintreten, für mich, und mein Bedürfnis in der Not. Mit Leidenschaft hab ich für mich gekämpft. Mit Leidenschaft rettete ich mein Leben. Verknüpft mit meiner Freude, war meine Leidenschaft doch das, was Vater ganz genau so wie die Mutter, von Anfang an bekämpften und mir kaputt machten. Sie machten blindwütend kaputt, was nur die gute Wut zum Vorschein bringen kann, die Leidenschaft für sich, um seine Freude zu beleben.

Ich schämte mich dann später jeder Leidenschaft. Und ich versteckte sie. Denn so gehorchte ich blindlings, natürlich ohne das zu ahnen, den blindwütigen Eltern.