Texte von Hugo Rupp

Der Unterschied

 

Meine Mutter konnte mich alleine lassen. Sie konnte das. Von Anfang an. Sie konnte ohne mich weggehen. Ich dachte immer, sie könnte, weil sie ja damit drohte, später, für immer wegzugehen, mich für immer zu verlassen, und sich umzubringen, zu sterben, sie könnte jederzeit weggehen. Aber sie konnte das tatsächlich, weil sie das von Anfang an gekonnt hatte. Meine Mutter hatte diese Fähigkeit. Sie konnte mich alleine lassen, auch wenn ich furchtbar schrie. Sie konnte das Gegenteil davon nicht: Sie konnte mich nicht nicht alleine lassen.

Ein Kind kann das nicht realisieren. Ich konnte als Kind nur die Fähigkeiten realisieren und sie für die einzig möglichen auch so verstehen. Mutter kann weggehen, wann immer sie auch will. Sie kann das, weil sie das tut und weil sie das auch getan hat. Ich hätte das nicht gekonnt. Mutter konnte das. Ich hätte Mutter, wenn sie geweint hätte und sich an mir festgehalten hätte, nicht alleine lassen können. Meine Mutter konnte mich alleine lassen. Meine Mutter lehrte mich, jeden alleine lassen zu können, der schreit und Nähe sucht und sich einsam und verloren fühlt und ganz allein. Dass man sich verlassen kann. Dass man sich und jeden anderen verlassen kann. Verraten und verlassen, jederzeit, an jedem Ort. Sie konnte mich alleine lassen, weil sie es immer wieder getan hat. Sie konnte mich alleine lassen. Das habe ich als Kind niemals verstanden. Ich habe das als Kind nie so gesehen, dass sie etwas tut, weil sie das kann und tun muss, und dass das mit mir nichts zu tun hat. Diese Fähigkeit besaß meine Mutter. Dass ich ihr das nicht beigebracht habe, wusste ich nicht. Ich dachte, meine Mutter hätte diese Fähigkeit wegen mir entwickelt, dass ich also schuld sei, verantwortlich dafür, dass sie mich verlassen konnte. Dass sie mich verlassen musste. Dass ich auch dafür schuld bin und verantwortlich, wenn sie mich verlassen würde. Ich musste denken, dass sie das, ein Kind verlassen und alleine liegen lassen, nicht schon vorher, schon vor mir konnte. Sie hätte mich auch allein im Kinderkrankenhaus gelassen, wenn Vater ihr nicht befohlen hätte, bei mir zu bleiben. Meine Mutter blieb nur bei mir, weil ihr das mein Vater befohlen hatte. Sie hatte die Fähigkeit mich allein zu lassen. Dass sie unfähig war, bei mir zu bleiben und mich zu trösten, konnte ich nicht wissen. Ich musste lernen, mich allein zu lassen. Ich musste lernen, mich in Ruhe zu lassen. Ich musste lernen, mich in Frieden zu lassen. Ich musste lernen, meine Mutter endlich mit meinem Weinen in Ruhe und in Frieden zu lassen. Ich lernte, meine Mutter vor mir und meiner Not zu beschützen. Ich lernte, mich vor ihr mit meiner Not zu verbergen. Ich lernte mich und meine Not zu verheimlichen. Ich lernte mir Not zu verheimlichen. Ich lernte mich verbergen. Mich mit meiner Unfähigkeit, mich zu verlassen und mit dem Schreien aufzuhören. Ich musste als Kind schreien, aber Mal um Mal wurde meine Fähigkeit zu schreien, wenn ich mich alleine fühlte, immer schwächer. Ich lernte still sein, zu verstummen. Ich lernte mich verstummen. Ich lernte mich mit der Hölle des allein seins zu begnügen. Mich alleine lassen. Ich lernte das von meiner Mutter. Sie konnte mich alleine lassen. Sie konnte das. Sie konnte mich mit meinen Schmerzen alleine lassen. Sie konnte mich mit allen meinen Schmerzen alleine lassen. Sie konnte mich mit all meinen Sorgen und Nöten alleine lassen. Zuhause und beim Arzt, im Krankenhaus und beim Zahnarzt, in der Schule, irgendwo und überall. Sie konnte, ganz egal was mir passierte, was geschah, geschehen würde, gehen und wegschauen, nichts mit alledem zu tun haben. Sie konnte, wenn ich ihr meinen Schmerz zeigte, mir Sorgen machte und Kummer hatte, mich alleine lassen. Ich wusste nie, dass die Verlassenheit, verlassen sein, bedeutete, dass Einsamkeit, allein sein und allein sein müssen, allein gelassen worden sein, bedeutet hat. Ich wusste nicht, dass mein allein sein eine Ursache und einen Grund auch hat. Dass mein allein sein, ein Beweis für die Fähigkeit meiner Mutter ist, mich allein zu lassen, dass sie die Fähigkeit besaß. Mich ließ sie alleine weinen. Sie konnte das. Sie konnte das, mich ganz alleine weinen lassen.

Ich kann das nicht mehr. Seitdem ich weiß, was das bedeutet, wie sich das anfühlt für ein Kind. Ich kann mich nicht alleine weinen lassen, wenn ich in Not bin und mich einsam fühle. Ich kann das nicht mehr tun. Das ist der Unterschied nun zwischen uns in der Geschichte meiner Kindheit. Dass ich mich nicht alleine lassen werde, weil ich das nicht mehr kann. Dass diese «Unfähigkeit» ein Vermögen ist, weiß ich erst heute, Dank anderer, die das schon vor mir wussten.

Children never cry without reason. Many times they are not consciously aware of their reasons, but nevertheless crying proves their distress. It is very cruel to leave distressed children alone, for what they most need then is the warm presence of a loving person. Then the source of the trouble can appear in their mind, and they can learn to trust, to express themselves in another, more understandable, way, and screaming is no longer necessary. Screaming should not be seen as a bad behavior. It is only a signal of pain.

Alice Miller, aus: From Rage to courage

…verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von Deinen. Und wenn ich mich vor dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüßtest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehen, wie vor dem Eingang zur Hölle.

Franz Kafka, aus: Brief an Oskar Pollak

We face not only the possibility of a spring without songbirds, but a future without people who care or notice the difference.

Robin Karr-Morse and Meredith S. Wiley, aus: Ghosts from the Nurserey