Texte von Hugo Rupp

Der ideale Köder

 

In a second study, Teicher drew upon the childhoods of 554 adults. This study found that the highest correlations were between maternal verbal abuse and a heightened risk of personality disorders, including borderline, narcisstic, obsessive-compulsive and paranoid personality disorders. This finding is surprising considering that child welfare officials overlook this form of abuse entirely. In response to an overwhelming number of children in need of protective services, current state and federal priorities are focused almost entirely on the impact of physical and sexual abuse, which may actually have fewer long-term negative consequences.

SCARED SICK,The role of Childhood Trauma in Adult Disease, von Robin Karr-Morse, with Meredith S. Wiley, 2012

Schnäuz dich! So ist es gut, sagt sie. Reiß dich gefälligst jetzt zusammen! Und gib mir endlich deine Hand, damit wir weitergehen können.

Mein Lego-Haus war ohne Fenster. Die Mutter baute es dann um. Sie machte Fenster rein und machte einen Bungalow daraus. Ein Haus, das sie gern hätte haben wollen. Ich baute nur ein Abbild meines Heims, Zuhause. Ich baute, wie und wo ich war. Ein Wohnhaus ohne Fenster, ein Raum, ein Block, ein Bunker ohne Ausstiegsmöglichkeit; Verlies.

Schnäuz dich gefälligst, wenn ich mit dir rede, sagt sie. Ich will mich nicht mit einem Jungen unterhalten, dem Rotz an seinen Fingern klebt und unter seiner Nase. Du kannst nicht einmal richtig atmen!

Die Angst vor meiner Mutter war ein Schiff, das unaufhörlich in mir schwankte. Mir wurde davon schwindelig und übel, von ihren widersprüchlichen Befehlen. Wenn meine Mutter kam und wieder mit mir schimpfen wollte.

Wenn du noch einmal in der Nase bohrst, und mich anfasst mit deinen Dreckfingern, dann schneid ich dir den Finger ab. Verstehst du mich! Verstehst du, was ich sage, sagt sie. Was schaust du mich so an. Verstehst du nicht, was ich dir sagen will. Und schau mich nicht so an. Ich hab genug von deiner Drenzerei und deinem Husten und dem Schniefen. Das eine sag ich dir, jetzt kommt der Finger weg. Beim nächsten mal ist wirklich Schluss. Dann schneid ich dir den Finger ab. Mit einer Gartenschere. Die ist noch schärfer als ein Stemmeisen. Du weißt, wie scharf. Dass du mir nicht den Dreck an meinen Mantelkragen schmierst. Kannst du das jetzt verstehen!?

Sie lachte immer nach dem Zorn. Nach ihren Wutausbrüchen. Ich konnte ohne Lachen später auch nicht wütend sein. Ich lachte so, als wäre nichts gewesen, als wäre alles nur zum Schein, doch nur ein Scherz gewesen. Mein Lachen, und das meiner Mutter machte mich unsichtbar. Unsichtbar wurde meine Angst vor ihr.

Schau hin, wie das dein Vater macht! Wie schön der schnäuzt. Nimm dir doch ihn als Beispiel.

Damit ich meine Eltern kommen höre, damit sie mich nicht überraschen, mache ich nicht länger Lärm, und kein Geräusch. Ganz leise, nur damit ich sie auch kommen höre. Der Vater hinter allen Bildern von Bedrohung. Mein Vater über allem. Er predigt in mir ohne Punkt und Komma. Er schimpft unaufhörlich in mir weiter. Er wettert gegen alles weiter. Vater hasst alles, was er nicht verstehen kann. Und Mutter fürchtet sich vor ihm, und das beruhigt den Verstand. Deshalb will ich wie Vater sein. Ich schnäuze mich wie er. Ich tue das für sie. Ich tue so, als würde ich verstehen. Ich weiß nicht, wie das geht. Ich schnäuze und versuche gut zu schnäuzen, damit sie nicht in Luft aufgeht und explodiert. Ich sehe schließlich aus wie er. Damit mir nichts geschieht, sie ist dann auch beruhigt. Deswegen bin ich er.

Nur Ruhe geben müssen, ändert den Verstand. Immer nur Ruhe geben müssen, macht intolerant. Immer alles unterdrücken müssen, macht ein Kind kaputt. Immer alles unterdrücken, macht ein Kind dumm für sich. Dummheit wird erworben durch Gehorsam und verstehen müssen. Das verstehen müssen, was die Mutter meinte, wenn sie etwas zu mir sagte, und der Vater klagte hinterher. Sonst verliert er den Verstand. Vater braucht jetzt seine Ruhe. Sonst verliert er den Verstand, sagt er. Vater, Vater über alles. Vater, Vater, der Verstand. Der bewegt die Mutter in die Küche, sonst verliert sie den Verstand. Mutter tobt in ihrer Küche. So belebt sie den Verstand.

Wenn du nicht gleich still bist, wird etwas geschehen, sagt sie.

Ich darf den Verstand niemals verlieren. Und wenn doch, würde Mutter durchdrehen, mich an Wände klatschen und dann aus dem Fenster schmeißen. Vater schlägt mich lieber tot, denn so bewahrt er den Verstand.

Wenn du jetzt nicht den Mund hältst, werde ich noch den Verstand verlieren. Ehe das passiert, stopfe ich dir endgültig das Maul.

Das ist sein Verstand. Dass ich für den Vater meinen Mund halte, sonst verliert er den Verstand.

Schnäuze wie mein Vater, denn das ändert den Verstand. Vater ist dann ruhig und die Mutter auch. Wenn ich nicht mehr huste, nicht mehr schniefe, Rotz aufziehe und nicht länger klage, weine, schreie, bleibt mir der Verstand. Vater haut mich dann nicht mehr in den Boden, Mutter lässt dann meine Finger dran, schneidet mir auch nicht den Zipfel ab, wenn ich in die Hose mache.

Dir muss man den Verstand wohl einprügeln. Ohne Gewalt scheinst du nichts zu verstehen und von dem zu behalten, was ich dir versuche hier beizubringen, sagt er.

Mein Gehorchen müssen, seine Schläge änderten meinen Verstand.

Mit Hass verfolgte ich dann später jene, die sich benahmen wie ein „ungezogenes“ Kind. Liebe und Gehorsam gibt es nicht zusammen. Ich redete in mir, mit mir, in Vaters und in Mutters Sprache. Mir fiel nicht auf, wie grausam meine Sprache davon wurde und wie ich mich fortwährend selbst damit angriff. Ich schrie als kleines Kind drei Monate ununterbrochen durch. Ich wehrte mich so gegen meine Muttersprache. Bis ich besinnungslos geworden, aufgab. Ich konnte meine Ohren nicht verschließen. Die Sprache der Gewalt, macht ein Kind krank. Die Sprache der Gewalt, ist für ein Kind Gewalt; gewalttätig. Ein Kind wird davon krank vor Angst.

Nach jedem Wort, war ich allein damit. Ich war allein mit der Gewalt der Eltern. Ich war allein mit ihren Drohungen, Andeutungen, Verwünschungen und Flüchen. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, sagt jemand. Das übergeht die Wahrnehmung und die Gefühle eines Kindes vollkommen. In meiner Sprache sah, erkannte ich den Vater und meine Mutter endlich wieder, wie sie zu mir, für mich von Anbeginn an waren.

Wie es mich verriss, wenn Vater mich anschrie, oder meine Mutter mit mir reden wollte, später, wie sie sagte, wurde mir schon übel, schwindelig, wenn ich sie nur davon reden hörte, wenn sie auch nur andeutete, dass sie etwas mit mir zu besprechen hätte. Niemals konnte ich ohne Angst auf ein Gespräch mit meinen Eltern hoffen. Ich reagierte schon mit Angst vorher.

Alle Gesichter auf den Bildern ohne Mund gezeichnet. Nicht schimpfen, rufe ich in mir. Bitte nicht wieder schimpfen. Bitte nicht, ruft dieses kleine Kind in mir. Bitte nur nicht wieder schimpfen. Nicht wieder schimpfen, bitte nicht, sagt dieses Kind. Bitte nicht schon wieder mit mir schimpfen. Bitte nicht andauernd fluchen.

Sei still!

Die Wahrheit ist für mich, dass ein Kind, das immer nur verteufelt wird und vor den Kopf gestoßen, sich nicht mehr orientieren kann.

Ich drehte mich dann ängstlich nur im Kreis, um eine eigne Achse, ausschließlich um mich selbst, solange niemand meine Not bemerkte und niemand mich auf meine Not hin anstieß. Denn Orientierungslosigkeit bedeutet, die Herkunft der Gefühle zu vergessen. Warum ich wütend bin, warum ich traurig werde, warum ich so verachtet worden bin, und dass mir davon übel wurde und dann Durchfall bekam, warum ich Vater nicht mehr sehen wollte und meine Mutter nicht mehr hören. Warum ich so mein Leid verlor, die Orientierung durch Gefühle.

Dass es um mich geht und die Möglichkeit mit Freude aufzuwachsen, mit Freude auch zu leben. Dass diese Möglichkeit von meinen Eltern erst verhindert wurde. Dass die Gefühle mich lebendig machten.

Ich hatte immer das Gefühl, ich würde meinen Eltern eine Last sein, eine Bürde, Schande. Dabei konnten sie sich selbst nicht freuen. Sie konnten sich doch selbst gar nicht erleben. Das konnte ich als Kind nicht fassen. Sie hatten keine Freude mehr. Sie konnten keine Freude mehr empfinden. Sie wussten nicht mehr wie sich Freude anfühlte. Gedankenlos geführt von unbewusstem Hass, zerstörten sie mir mein Empfinden, die Freude an mir, an sich.

Ich war mir meiner Angst sehr wohl bewusst, doch niemals meiner unterdrückten Freude, die ich verstecken hatte müssen. Die Möglichkeit, dass ich mich so wie jedes Kind, an meiner Freude orientieren kann. Dass Freude in mir ruht und nur heraus will, hätte ich nie gedacht, als Orientierungshilfe.

Die Freude war mein Mund. Mein Mund war meine Freude, der sich für meine Eltern schloss. In meinem Schrei war Lebensüberdruss, den ich für meine Eltern leugnete. Mein Mund ist endlich wieder frei, geöffnet. Mit Freude kommt hervor, dass die Gefühle in mir überleben konnten. Dass meine Freude gar nicht möglich war, solange ich nicht gegen meine Eltern rebellierte und mir die Freiheit nahm, zu fühlen was ich konnte, mit Wut als Orientierungshilfe.

Wage es nicht, noch einmal so mit uns zu sprechen, sagt er.

Die Mutter sah, sie merkte mir das an, wenn ich noch etwas sagen wollte.

Pass auf was du jetzt sagst, sagt sie. Du wirst es später vielleicht bereuen!

Die Umkehrung der eignen Worte. Sie und mein Vater haben das niemals bereut, was sie und wie sie zu mir sprachen.

Bereuen, später büßen müssen, für nicht vergeben, nicht vergessen und nicht still halten. Der Schwindel, der ein Kind von seiner Wut abhält.

Ich war ihr Köder. Ein Kind als Fänger für die eignen Ängste seiner Eltern. Ein Fänger, der ein Köder seiner Eltern ist, ohne dass dieses Kind das wissen kann. Ein Kind kann nicht erkennen, wenn es ein Köder seiner Eltern ist, die mit ihm nach dem Bösen und Verborgenen in ihren Seelen fischen. Ich hing an ihrem Haken, wenn sie Geschichten mir erzählten, die sie als Kinder selbst gehört hatten. Die gleichen Horror-Märchen, voller Befürchtungen und Ängsten. Von einem Fremden, Schwarzen Mann, der Kinder holt und mit sich nimmt, und allem Bösen. Und sie erzählten diesen gleichen Mist, die Litanei von Untergängen und Bestrafungen, als Folge von Zuwiderhandlungen, wenn ein Kind nicht zuhört und nicht gehorsam ist und brav, nicht hören will, dann muss es für die Eltern endlich fühlen. Weil es den Schwachsinn, den es ernst nehmen muss, ja gar nicht fassen kann, den meine Eltern mir verpasst hatten. Geschichten voller Angst und Blut, unfassbar für ein Kind, und meine Eltern lachten. Sie lachten über meinen Schwarzen Mann und auch den König, der die Kinder töten lässt und alle Kinder abschlachtet, und Moby Dick und seinen weißen Wal. Sie machten mir mit ihren Ängsten Angst. Ich kann das gar nicht fassen, dass sie dabei noch lächeln und noch lachen, wenn ich vor Angst mir meine Decke über den Kopf ziehe, die meine Mutter wieder wegzieht und glatt streicht, und deine Finger nicht unter, sondern über deiner Decke in der Nacht, sagt sie, damit ich mich aus Angst nicht wieder selbst anfasse, weil das der Vater hasst. Dann geht sie aus dem Zimmer und lässt mich ganz allein. Ein solches Kind kann nicht mehr realistisch denken lernen, weil es doch Angst vor jedem Wort bekommt, von den Geschichten seiner Eltern, die nur von Quälereien und Verzweifelten und von Getöteten, im Grunde nur vom Töten handeln. Ich blieb allein mit meinen Höllenqualen. Ich war ihr Lebendköder für die Beute, die sie doch niemals wirklich sahen. Dass sie nach ihren Eltern fischten, selbst nach den Urhebern der gleichen Höllenqualen, das wussten sie ja nicht. Das blieb ja im Verborgenen, weil sie die Angst, die ich vor ihnen hatte, gar nicht ernst nehmen konnten. Denn hätten sie das je getan, wäre die eigne Angst, der Grund für ihr verbrecherisches Handeln, doch aus dem Schatten der Verdrängung und Verleugnung ans Tageslicht gekommen. Sie selbst als Köder ihrer Eltern, um deren Kindheit in der Verleugnung festzuhalten. Kein Köder für die Wahrheit. Ein Köder für die Lüge, die jedes Kind, das nur gehorchen muss, auch frisst, es bleibt ihm gar nichts andres übrig, weil es doch nicht verhungern kann. Es sei zu seinem Besten, die Eltern so zu fürchten. Gewalt ist stets begründet, berechtigt von den Eltern, weil sie dem Schutz des Kindes dient.

Sie zogen mich mit den Geschichten auf. Ich hing an ihrer Angel, ein Kind, das seinen Eltern Liebe schenkt und ihre Lügen glauben muss. Ich zappelte daran unaufhörlich. So machte ich mich aufmerksam. Ich war ihr idealer Köder. Ich fand dann später ideale Köder für mich, ich nahm ihr Zittern und ihr Zappeln wahr. Ich sah es in den Augen, in ihren Schultern und am Rücken, wie sie sich fortbewegten, als würde ihnen jemand unaufhörlich folgen und im Nacken sitzen. Als müssten sie sich unentwegt auch fortbewegen, umdrehen und sich umblicken, doch ohne einen festen Punkt, ohne Fixierung, ungenau, als würde ihren Blick doch immer etwas trüben. Die Orientierungslosigkeit. Denn sie bewegten sich wie ich, ohne dass ich das wusste. Ich suchte immer schon nach gleichen Vorbildern, wie meine Eltern das getan hatten, ich suchte nach dem ähnlichen und gleichen, weil ich doch keinen Zeugen hatte, der mir mit seinem Bild aus meiner Kreisbewegung helfen hätte können. Ich blieb wie meine Eltern auf der Suche nach dem idealen Köder, in dem ich mich selbst spiegeln und wiederfinden konnte. Ich war so nicht allein und fand nur meinesgleichen. Jemand der seine Kindheit auch verleugnet hatte.

Die lebensrettende Funktion der Verdrängung in der Kindheit verwandelt sich später beim Erwachsenen in eine lebenszerstörende Macht.

Alice Miller, Das verbannte Wissen