Texte von Hugo Rupp

Der Fänger

 

Es geht um mich, den ich vor ihr nicht zeigen darf,

wenn sie mich liegen lässt und wenn sie geht

und Türen schlägt, und wenn ich ohne Ahnung bin,

wie es jetzt weiter geht.

Ich bin hier ohne eine Rettungsmöglichkeit,

nur meine Schreie, mein unaufhörlich Weinen

macht noch Sinn. Weil meine Einsamkeit

nicht zu ertragen ist,

weil niemand da ist,

der sie trägt.

Wenn du so weiter schreist, bitte. Aber mich brauchst du dazu nicht, sagt sie und schaut mich an.

Sie schaut, als würde sie die Luft anhalten, dann geht sie weg.

Ich rede immer nur mit ihr, mit meiner lautlos, stillen, wenn sie weg ist, für mich toten Mutter. Das was ich immer schon verstehen musste, das wiederhole ich, solange bis ich selbst dran glaube und mich in meinem Glauben drehe wie ein Rad. Solange bis mir schwindlig wird. Ich spreche mit mir selbst. Ich spreche mich, es ist schon wieder beten. Ich spreche, bis ich auch das glaube, was ich mir sage, das was sie mir vorspricht, das was sie mir vorbetet. Ich lerne ihre Sprache, das was sie mir mit Blicken sagt. Das was sie mir mit ihren Augen auch bedeutet. Das was sie unaufhörlich für sich spricht, für mich, das was sie mir verspricht. Das was sie immer wieder spricht, die Worte, die sie betet. Sie will, dass ich gehorsam bin, dass ich auf ihre Worte höre. Dass ich die Zeichen, Gesten, ihre, in ihrem Sinn verstehe.

Ich komme erst,

wenn du mir deine Not nicht zeigst,

wenn du mir nicht mehr wütend bist

und böse schaust,

sag ich mir selbst.

Ich bete unaufhörlich diese Szene. Ich bete sie solange auf und nieder, bis ich nicht mehr erkenne, wer hier von wem nun spricht. Wer hier in seiner Not missachtet wird und für die eigene missbraucht. Ich drehe mich und schreie, dann kann ich plötzlich nicht mehr schreien.

Jetzt sind wir wieder gut, sagt sie und steht an meinem Bett.

Ich fange leise doch zu weinen an, weil ich mich über ihr Erscheinen freue.

Sie sieht mich lächelnd an.

Wer wird denn gleich so böse sein, sagt sie, wer wird denn jetzt schon wieder weinen.

Ihr hin und her, ihr ewig korrigieren, ihr ewig nur Enttäuschung geben und auch ausdrücken, in jedem ihrer Blicke, in jedem Wort, ist ihre Art Enttäuschung.

Darüber dass du weinst,

darüber, dass du leidest,

darüber, dass du dies auch zeigst,

darüber, dass du wütend bist,

darüber, dass du dich auch freust,

sie schließlich doch zu sehen,

darüber, dass du bist,

darüber, dass du fühlst,

darüber, dass du das nicht ändern kannst,

darüber, dass du immer wieder ihre Nähe suchst,

darüber ist sie stets enttäuscht.

Du weinst so bitterlich, weil sie auf deine Tränen böse wird. Auf deine kleinen Tränen, auf deine Tränen der Enttäuschung, dass sie für dich nichts übrig hat, das sich mit dir erwärmt. Du wartest auf die Liebe. Das Kind, das seine kleinen Tränen weint, das wartet unaufhörlich auf den Blick Verständigung, auf eben dieses Zeichen Liebe, auf das es so verzweifelt wartet, auf das Verschwinden seines Mangels, auf die Erlösung seines Schmerzes, auf das Verschwinden seiner Einsamkeit. Du schaust sie an und wartest stets vergeblich. Sie ist kein Trost.

Mit diesem Warten auf die Liebe, bleibt deine Art Enttäuschung fest verbunden und erhalten.

Solange du, das ehemalige Kind, die Liebe immer noch erwarten musst. Solange werden deine Hoffnungen betrogen, in deinem Sinne auch enttäuscht, solange werden deine Art Erwartungen auch immer auch enttäuscht, wie du doch stets enttäuscht als Kind, von deinen Eltern warst, so wie sie von dir immer schon enttäuscht gewesen sind, für das du überhaupt nichts konntest.

Die Mutter kam doch immer wieder und wollte doch ein andres Kind, sie wollte nicht dein Fühlen. Sie wartete, solange bis du ruhig warst. So warst du ihr genehm. Sie wollte dieses Wüstenkind, das sie in seine Wüste schickte. Sie schickte dich dorthin und ließ dich dort allein. Du solltest deine Wut verlieren. Du solltest dort alleine sein. Allein in einer Wüste, allein mit deiner Einsamkeit, allein und ohne Laute.

Es schaut so aus, als wärst du später immer nur dorthin gegangen, um dort die Liebe zu erfinden. Als wäre in der Wüste selbst, die Liebe irgendwo verborgen und vergraben. Als müsstest du die Einsamkeit aufsuchen, um dort die wahre Liebe auch zu finden.

Wie schrecklich für ein Kind. Sie hat dich in die Einsamkeit geschickt, dass du die Wut verlierst, dass du aufgibst, dich selbst und deine Art des Fühlens.

Das was du von ihr lernen musstest, das war dich zu verlassen. Solange du dich nicht verlässt, wird sie dich stets verlassen. Solange du dich nicht verlässt, wird sie nicht näher kommen. Solange du nicht aufhörst, mit deiner Wut für deine Art Gefühle auch zu kämpfen, solange wird sie dich nicht mehr berühren. Nur wenn du deine Wut vergisst, dann wird sie dich doch lieben.

Fass mich nicht an, schreit sie.

Du sollst sie nicht berühren.

Und tu die Finger aus dem Mund, sagt sie.

Du sollst dich nicht berühren.

War das, was du als Kind in deinen Armen,

Beinen,

Füßen,

Zehen,

und deinen kleinen Fingern,

am Ohr

und auf den Lippen immer schon verspürt hast,

die Sehnsucht nach Berührung,

die Sehnsucht nach der Nähe,

der Wunsch des Körpers nach Geborgenheit?

Die Liebe in Gedanken?

War das jemals erfüllt, nach deinen Aufenthalten in der Wüste? War Warten jemals etwas anderes, als Warten auf die Liebe?

Wenn du sie anlachst, schaut sie böse, wenn du in Wut gerätst, geht sie, und wenn du weinst, schimpft sie dich aus, und wenn du schluckst und schluckst und immer leiser wirst, verzweifelt jetzt, dann lächelt sie. Sie hat kein passendes Gefühl für dich. Du sollst dich ihr anpassen. Das ist es was du tust, was du tun musst, um zu überleben.

Sie schreit dich immer wieder an, sie wütet gegen deine Tränen, sie wütet in dein Bett hinein, mit ihrem roten Kopf. Sie schreit dich an, bis dass du so erschrickst, dass du erstarrst. Du frierst und zitterst und Kälte ist in deinen Fingern. Du hörst die Finger nicht, die du zu Fäusten immer machst, du hörst die eignen Finger nicht. Dein rechtes Ohr ist kalt. Dein Auge zuckt, doch kommt kein Laut aus deinem Mund. Wer dich nicht kennt, der kennt dich nicht, du willst dich selbst nicht wieder kennen. Du willst nie wieder wütend sein, dich auch nicht wieder freuen, du willst nie wieder ängstlich sein, du kennst dich nicht. Du wirst dich nun verlassen und auf die Frau mit rotem Kopf, die dich geschüttelt hat, auch hören. Du willst nie mehr dir Nahsein für dich fordern. Du willst nie mehr in Not geraten.

Der Junge war ja völlig außer sich. Ich musste ihm eine geben, damit er wieder zu sich kam, sagt sie.

Du sollst dir selbst weh tun, das will sie doch. Du sollst dir selbst nur immer schaden. Du schadest dir, das sagt sie dir, wenn du die Wut ergreifst. Sie tut dir weh, wenn du die Wut ergreifst. Sie tut dir wegen deiner Wut nun weh.

Sie beißt mit ihrem Mund in deine Nähe.

Wenn du nicht gleich mit deiner Schreierei aufhörst, dann fängst du dir noch eine ein, sagt er.

Er fängt dich ein und hält dich fest. Er hält dich fest am Kragen fest. Er zieht dich zu sich ran, dann bückt er sich zu dir und schaut dir mitten ins Gesicht. Er ist der Fänger.

Da bleibst, sagt er.

Er ist der Fänger, der mich hält, der mich nicht gehen lassen will und auch nicht stehen lassen will.

Er beißt auf seine Zähne und seine Augen spucken.

Du bettelst förmlich um die Prügel, sagt er und lächelt.

Er sagt das so, als wäre das nicht einmal seine Frage. Als wäre das die Frage eines Fremden. Als wäre das die Bitte eines Hundes an seinen Herrn, der seine Prügel wünscht, wie einen Knochen. Als wären Prügel eine Nahrung, die tägliche Ration.

Er schlägt mir seinen Handschuh ins Gesicht. Ich hasse ihn dafür. Er kann das sehen. Das ist ihm ganz egal, wie er jetzt vor mir steht und mich betrachtet, als wäre ich rein gar nichts wert. Ich bin jetzt wieder in der Wüste, doch jetzt mit meinem Herrn und Meister, der mich bestraft, so wie es ihm beliebt, und der Gefallen hat an dieser Art Bestrafung. Ich kenne Kinder und auch Hunde, die sich wie ich als Kind wegducken, wenn sie den Handschuh kommen sehen. Wenn sie die Hand, die ihnen näher kommt, verzweifelt wegverwandeln wollen, und die sich für ihr Scheitern schämen, dass sie die Hand nicht aufgehalten haben, dass sie die Hand nie aufgehalten haben. Sie schämen sich, weil sie dem Vater einst Gelegenheit gegeben haben, sie zu schlagen.

Ich folge meinem Vater. Ich gehe hinterher und schaue ihn nicht an. Er dreht sich immer wieder um und lächelt jedes mal. Ich sehe, auch wenn ich in den Boden schaue, sein Gesicht. Ich sehe ganz genau, dass er mich auslacht, wenn er schaut. Er lacht mich aus.

Er fängt mich und er lässt mich wieder los. Er schlägt mich, wie es ihm beliebt. Er tut das, wie er will. Er lacht sogar darüber. Es ist noch mehr in diesem Blick, den ich von ihm bekommen habe, den ich von ihm einst lernte, den ich doch immer wieder nur aufs neue von ihm lernen musste. Die Verachtung war ihm immer wichtig. Dass er sich über Schmerzen lustig machen konnte. Dass sich die Menschen schinden und er darüber lachen kann. Dass ihm das Schinden Freude macht. Ganz automatisch. Ich habe das gelernt. Die Übertragung seines Hasses auf alles kindliche, auf jedes kindliche Gefühl, auf jede Gegenwehr und eigne Sprache, auf jedes Wort, das mir und ihm zuwider ist und gegen mich und ihn gerichtet.

Du ahmst ihn schließlich nach. Das ist es, was dich vor der eigenen Kindheit schützt, zu retten scheint, vor allem was dort vorgefallen ist. Damit das Kind verstummt. Das Kind ist schließlich Zeuge seiner selbst. Nur dieses Kind kann wissen, dass es von seinen Eltern stets gefangen wurde, dass immer, wenn es etwas von sich zeigen, geben wollte, die Eltern dies verhindert haben. Sie fühlten nicht. Sie fingen ein und gaben sich nicht wieder. Sie haben dich doch immer nur verlassen, damit du deine Wut, die für dich ist, für sie verlierst. Du solltest sie für sie verlieren und sie dir selbst versagen.

Was ist denn jetzt noch!? Was willst du denn schon wieder!? Jetzt hör doch endlich auf uns so zu quälen!

Nun hör doch endlich auf uns zu bedrängen.

Ich wartete auf ein Gefühl, das mich erlösen würde. Wenn sie sich reuen würden, dann wäre ich erlöst. Dann wäre die Gerechtigkeit für mich erreicht. Ich lernte aber anderes, erbarmungslos zu sein. Das hat das Kind gelernt, für sich und gegen andere. Sie hatten kein Erbarmen, das habe ich gelernt, erbarmungslos zu werden. Erbarmungslos der Kindheit und den Andern gegenüber.

Ein Kind des Fängers wird ein Fänger werden, wenn es die eigne Kindheit nicht in sich entdeckt.

Der Fänger ist erbarmungslos; wie jener Ort, an dem er lebt. Die Wüste ist kein Ort für einen Menschen, der nach Verständnis sucht, nach einem Zeugen.

Jetzt spürst du endlich diese Grausamkeit. Die darin liegt die Eltern immerzu zu lieben, sie ständig wieder neu, von neuem lieben müssen, wie sie es von dir fordern und sich von dir auch offen wünschten. Und wie es ist, dich selbst und deine Schmerzen abzulehnen; dich zu verstecken.