Texte von Hugo Rupp

Das vergessene Kind

 

Sie schmückt mich mit dem Indianerkostüm, das sie mir für den Kinderfasching geschneidert hat. Sie ist besonders interessiert am Schmücken. Sie hat aus einem Rupfen ein Kostüm gefertigt. Sie hat es kunstvoll auch verziert. Sie hat da Stunden über Stunden an meinem Kostüm genäht. Es soll das schönste im Kindergarten werden. Ich soll am schönsten angezogen sein. Sie macht es nur aus Rupfen und das sticht, wenn ich es trage, es juckt und sticht und dann setzt sie mir eine Perücke auf aus schwarzem Haar. Sie steckt mir eine Feder ins Haar und lacht, dann prüft sie alles noch und sagt dann, so jetzt kannst du dich vor den Spiegel stellen. Sie lacht, während wir zum Spiegel ins Schlafzimmer gehen. Da stehe ich und sehe wie ein fremdes Kind, wie ein Mädchen aus. So will ich nicht in den Fasching gehen. Als Mädchen Indianer.

Meine Mutter sieht meinen Widerwillen, auch wenn ich nur schaue, sie sieht alles, wenn ich nicht mag, was sie mit mir anstellt, sieht sofort, wenn ich nicht mag, was sie mag, und dass ich es nicht mag. Mit dem Essen ist es ähnlich. Doch ich darf nicht zeigen, dass ich es nicht mag, sonst wird sie böse und schimpft, deswegen bin ich so vorsichtig. Mein Vater sieht mich und lacht und er lacht auch noch den ganzen Tag, wenn er daran denkt. Dann ist es Sonntag und wir gehen spazieren. Wir begegnen unserem Arzt auf der Straße. Der sieht mich an und lacht und sagt zu meinem Vater: Das ist aber ein hübsches Mädchen. Ich senke meinen Kopf und zeige meine Wut nur innerlich, sonst reißt mich Vater weg und staucht mich, wie er sagt, zusammen, zusammenstauchen und zurechtstutzen, damit ich ihm pariere, sagt er dazu auch. Ich zucke und ich beiße auf meine Zunge, ohne dass der Arzt das sieht. Sie lachen alle beide und reden dann von etwas anderem. Ich habe meine Hand von seiner Hand gelöst. Mich juckt das Kleid und meine Perücke sticht in meinem Kopf, die Schuhe sind mir zu klein und meine Zehen stoßen vorne an. Ich gehe jeden Sonntag mit dem Vater, da bin ich ohne Mutter. Ich bin dann ohne sie und endlich weg, und jedes mal verlachen mich die Menschen, die ich treffe. Sie lachen über mich. Sie lachen immer über irgendetwas, das ich mache, das ich tue, wie ich schaue, wie ich bin. Sie lachen immer wieder. Ich weine nicht mehr, wenn sie lachen. Ich könnte weinen, denn sie lachen über mich. Sie verlachen mich. Vater lacht mit ihnen, lacht auch mit den Fremden, die mich sehen und verlachen. Denn alle, die mich sehen, wie ich ausschaue, die lachen über mich. Welch schönes Mädchen sagen Fremde auch zu mir. Sie sagen es zu meinem Vater, welch schönes Mädchen mein Herr Vater heute bei sich hat. Wer ist denn dieses schöne Mädchen, fragen sie und lachen, zwinkern mit den Nasen. Ich halte Vaters Hand und schaue dann und lächle auch. Wenn Fasching ist, dann bin ich immer nur ein Mädchen, egal wie sie mich schmückt und schminkt, ich werde immer mit der Perücke zu einem Mädchen. Mutter setzt mir immer eine Perücke oder einen Hut oder eine Kappe auf, die sie gemacht hat. Ich sehe immer komisch aus. Immer lachen alle über mich und wenn wir dann wieder zu Hause sind, fragt sie meinen Vater, wie es war, und er berichtet ihr, wie alle wieder lachten und das Kostüm bewundert haben und was die Leute gesagt haben und dass ich wie ein Mädchen aussehen würde, und Mutter sagt dann immer: Aber er sieht doch nicht aus wie ein Mädchen. Er sieht wie ein fescher Indianer aus, mein kleiner Prinz. Beim nächsten Fasching machen wir aus dir einen Prinzen, mit Umhang und mit Krone. Da werden die Leute schauen, wie schön du bist. Mit einem großen weiten Hut und einer Feder, wie ein Musketier, mit einem Degen und Pumphosen. Mutter redet immer weiter. Vater macht das alles mit. Er sagt nicht nein. Vater sagt nicht nein, obwohl ich sehe, dass er nicht damit einverstanden ist, dass sie ein Mädchen aus mir macht, dass sie das alles mit mir anstellt. Er findet es nicht gut, das sehe ich ihm an, aber er macht nichts dagegen. Nichts. Er sagt nichts und dann lacht er doch mit den anderen über mich. Er lacht mich wie die anderen aus. Sie amüsieren sich über mich, über mein Aussehen, wie ich gehe, stehe, wie ich rede, was ich sage, sie lachen wie ich bin. Wie ein Clown. Wenn ich verkleidet bin, dann lachen alle über mich. Das gefällt der Mutter am allerbesten, dass sie ihre Kostüme bewundern, was sie alles aus mir machen kann, wenn sie sich was einfallen lässt. Er sieht, dass sie mich verunstaltet und dass alle über mich lachen. Dass sie mir schadet und mich dressiert, dass sie mir weh tut, sieht er nicht. Er sieht es nicht. Er bemerkt nicht, wenn mir etwas weh tut. Vor allem nicht, wenn er mir selbst weh tut. Wenn er mich dressiert und über den Teppich schleift, an den Beinen. Weil ihm das gefällt, und er lacht dabei. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann ihm nur gehorchen. Wenn Vater seinen Spaß mit mir hat, ist Mutter glücklich. Sie lacht auch, wenn er mit mir Späße treibt. Fingerhakeln, wenn er mir die Finger quetscht. Sie lacht auch viel. Es gefällt ihr, wenn er mit mir spielt. Wenn ich weine, wird sie ernst. Dann schaut sie mich an, als hätte ich ihm weh getan. Er schaut mich böse an, wenn ich bei seinen Späßen weine. Ich bin ihm zu weich und zu zart, sagt er. Ich weine ihm viel zu schnell. Dann schaut er sie vorwurfsvoll an. Wenn ich weine, bei seinen Späßen, ist das zum Teil ihre Schuld, weil sie mich verzärtelt hat, sagt er. Beide sehen keinen Schmerz bei mir. Wenn ich weine, wird sie ängstlich und er wird wütend. Sie wird traurig, wenn er aufhört mit mir zu spielen, weil ihm das zu blöd ist, sagt er. Diese Weinerei wegen nichts und wieder nichts. Sie geht nicht zu mir. Ich bleib sitzen. Vater geht. Jetzt habe ich ihn ihr vertrieben, sagt sie später und redet noch ein Weilchen weiter in der Küche, dass ich mich nicht gleich so haben solle, was sei denn schon dabei. Immer gleich mit Weinen anfangen. So wird das nie was zwischen euch, wenn du nicht mit deinem Vater spielen willst, wird er irgendwann auch nicht mehr mit dir spielen wollen. Pass nur auf, sagt sie. Ich sitze allein auf dem Teppich. Jetzt bin ich wieder allein mit dir zu Hause, sagt sie. Ich hab ihn vertrieben, denke ich. Ich mit meiner Weinerei habe ihn vertrieben. Wenn ich nur nicht immer weinen würde, denke ich. Immer muss ich weinen, wenn er mit mir spielt. Was auch immer Vater mit mir tut, immer muss ich irgendwann dann weinen. Ich weiß nicht, wie ich ihn besänftigen kann, dass er mir nicht weh tut und weiter mit mir spielt, dass er zu Hause bleibt. Was kann ich nur tun, dass er bei ihr bleibt. Bei ihr zuhause. Wenn er weg ist, wird sie traurig und wütend auf mich. Wenn ich nicht mit ihm spiele, wie er will, mag er gar nicht spielen.

Als ich das erste Mal im Zirkus war, habe ich das alles wieder gesehen. Die Kinder mit ihren Kostümen, wie sie auf Pferden geritten sind und auf großen Kugeln balanciert haben, und der Zirkusdirektor, der ihr Vater war, mit der Peitsche in der Hand und dem Blick, wenn etwas schief läuft, wenn ihr nicht so seid, dass das Publikum zufrieden ist, werde ich euch dafür anschließend weh tun, dafür, dass ihr nicht gehorchen wollt, dass ihr mir nicht folgen wollt, dafür dass ihr nicht immer tut, was ich von euch haben will, was ich von euch erwarte. Werdet mir das büßen, sagt sein Blick. Wenn mein Publikum nicht lacht, werdet ihr das büßen.

Vater ist mein Zirkusdirektor und Mutter schneidert die Kostüme.

Ich soll spielen, wie er will. Vater ist kein Spielgefährte, auch kein Freund. Wenn ich mit ihm spiele, tut mir immer alles weh danach.

Er will doch nur lustig sein, dass es zu Hause auch mal lustig ist, sagt sie.

Ich sitze auf dem Teppich.

Dein Vater ist doch ohnehin so ernst, gönne ihm doch wenigstens einmal seinen Spaß, sagt sie. Du könntest es weiß Gott auch schlechter haben!

Ich suche unaufhörlich in mir nach einer Lösung. Entweder ich tue, was er will und mache mit, oder er wird wütend, böse, gehen. Entweder lasse ich mich quälen und dressieren, oder sie wird ärgerlich und traurig. Wenn ich weine, wird er wütend.

Das ist doch lustig, nur ein Spaß. Das ist doch nur ein Spiel. Wenn er mich an Armen und Beinen segeln lässt. In die Luft schmeißt und dann an einem Bein und einer Hand nimmt und sich mit mir im Kreis dreht, dass mir schwindlig wird und mich verwirbelt, und sich freut, wenn er jubiliert und immer schneller wird, fühle ich, jetzt wird alles reißen. Jetzt reißt er mir die Arme aus. Jetzt reißt er mich in Stücke. Mutter lächelt. Was er macht, freut sie. Dann lässt er mich mit einem Mal los und ich fliege in die Polster. Ich weine nicht, ich schlucke und mein Mund ist trocken. Vater ist außer Atem und glücklich. Ich freue mich für ihn. Ich lächle ihn an. Es ist, wie wenn er mich fotografiert und mir sagt, ich solle lächeln.

Freu dich doch, sagt er.

Ich lächle.

Möchtest du ein Eis, fragt er.

Ich nicke.

Er kauft mir ein Eis und die Eisfrau gibt mir statt einem Batzen drei Batzen. Ich starre das Eis an und ich schaue die Frau mit den hellen Haaren an, die wie ein Turban auf ihrem Kopf liegen und sage danke und habe Tränen in den Augen.

Da brauchst du doch nicht weinen, sagt er.

Die Eisfrau, die Frau Estermann heißt, lächelt mich an und ich schaue in den Boden.

Das ist doch nicht schlimm, sagt er. Deswegen brauchst du doch nicht weinen.

Deswegen brauchst du dich doch nicht zu schämen. Irgendwann läuft mir das Eis über die Finger und ich werde wütend und will das Eis wegwerfen, weil es mir die Finger klebrig macht und mein Gewand ist in Gefahr, dass ich es dreckig mache. Ich stampfe in den Boden und am liebsten würde ich das Eis auf den Boden werfen.

Da musst du dich doch nicht gleich so aufregen, sagt er und gibt mir sein Taschentuch.

Ich schaue ihn an. Schlimm ist es erst, wenn er es sagt.

Im Krankenhaus wache ich in der Nacht auf und sie ist weg. Sie ist nicht mehr da. Das Zimmer ist leer. Es ist wie immer. Nie ist es anders. Ich weiß nicht mehr, warum ich weine, ich weine ohne mich. Ich weine, weil mir nichts anderes mehr einfällt. Ich weine schon fast ohne einen Grund für mich. Ich weine automatisch, ohne dass ich noch weiß, warum. Es ist wie rufen, ohne dass es einen gibt, nach dem man rufen könnte. Es ist wie nach niemand rufen. Die Tür geht auf und eine Schwester sieht und hört mich weinen und lächelt und schließt wieder die Tür, und ich weine einfach weiter. Dann kommt Mutter und sie lächelt auch.

Das ist doch nicht schlimm. Ich war doch nur ein Zimmer weiter. Ich bin doch da, sagt sie.

Ich schlucke.

Das ist doch nicht schlimm, sagt sie.

Ist doch nicht schlimm, sage ich mir später immer wieder, wenn etwas passiert ist, wenn ich wütend werde, wenn ich betrübt bin, ganz besonders. Ist doch nicht schlimm. Wenn ich im Bett liege und die Ruhe nicht ertrage. Ist doch nicht schlimm. Dass es keinen Anlass gibt, der sie dazu bringt mich zu halten, dass es keinen Anlass gibt, keine Veranlassung, keinen Unfall, keinen Schmerz, mit dem ich meine Eltern rühren kann. Ich bin dazu nicht fähig, ich kann es nicht, es ist mein Versagen, glaube ich, dass sich niemand rührt, wenn ich etwas habe, wenn ich traurig bin oder verzweifelt. Ganz egal, was mit mir passiert, ich ernte nur Gleichgültigkeit, mir begegnet jeder gleichgültig.

Das ist vernichtend und zermürbend, das ist wie Gift, das schleichend müder macht und schließlich tötet, ohne dass du noch die Kraft dazu hast, dich aufzubäumen. Das, Ist doch nicht schlimm, ist einschläfernd. Es schläfert mich ein und alles was ich empfinde. Egal was ich auch melde, wie ich mich auch ausdrücke, wie ich auch versuche Mitgefühl zu finden, alles scheitert schließlich an dem Satz: Ist doch nicht schlimm! Das ist die Verleugnung jeder eigenen Wahrheit, jeder Freude, jedes Leids. Dieser Satz nimmt mir die Hände, der lässt mich fallen, ohne dass ich mich im Fallen mit den Händen abstützen kann. Jedes Zeichen, das ich gebe, jedes Wort, das ich spreche, ist immer nur vergebens. Das ist doch nicht so schlimm. Nichts was ich von mir gebe, reicht aus um sie zu rühren. Nichts von mir löst Verständnis aus. Nichts was ich tue und bin, bringt mich ihnen näher. Das ist doch nicht schlimm. Das lähmt mich, friert mich ein, das macht die Tränen langsam überflüssig. Ich hör dann weinen auf und reden und auch Schweigen, die Wut vergeht von selbst. Ich vergesse, was ich gerne habe und was nicht, was mir wirklich was bedeutet. Ich verliere alles, was ich mir einmal bedeutet habe; ich verliere mich. Ich verliere meine Wahrheit, meine eigene Geschichte, alles wichtige für mich, ich verliere auch die Achtung für mich selbst und so auch für jeden anderen. Alles ist verzeihlich, alles ist egal und vollkommen gleichgültig. Ist doch nicht so schlimm. Ich verliere meine Liebe und die Wut, und den Zorn, selbst den Hass. Ich vergesse alles, wie ich früher war. Ich vergesse mich als Kind.

Ist doch nicht so schlimm!

Alles vergeht, verwelkt und wird zu Staub. Das ist nicht so schlimm, ist mein Todessatz, mit dem bin ich als Kind gestorben. Mit ihm habe ich mich später immer selbst über alle Schmerzen und alle Wut hinweg getröstet. Nichts war schließlich schlimm genug für mich, um von meinen Eltern getröstet zu werden. Keine Not war groß genug. Später war dann nichts mehr schlimm genug, um mich selbst zu retten.

Jetzt ist es doch vorbei.