Texte von Hugo Rupp

Das Unerhörte

 

Liebe // Kennt der allein, der ohne Hoffnung liebt.

Friedrich Schiller, Don Carlos

Wir stehen vor dem Stein des Kriegerdenkmals. Vorher hat die Musik gespielt, die Marschkapelle. Jetzt sind alle weg und Vater zeigt mir einen Namen. Den Namen seines Vaters.

Schau ruhig hin, sagt er.

Ich weiß nicht, was das ist. Ich will den Stein nicht anfassen.

Lang ruhig hin, sagt er.

Ich schaue meinen Vater an.

Die Toten beißen nicht. Sie können nicht weh tun, sagt er.

Ich bin zwei Jahre alt.

Sieben Jahre später gehe ich zum Friedhof und schaue mir einen toten Jungen im Leichenschauhaus an. Ein Auge und sein Mund ist offen. Ich laufe weg. Er schreit mir lautlos nach.

Der Vater meines Vaters stirbt, da ist mein Vater zwei.

Im Traum, da kommt ein Junge von der anderen Straßenseite, mit einem Schubkarren, sein schwarzes Haar ist ungekämmt, zerzaust. Gerupft worden. Wie einer, den die Eltern nicht mehr haben wollten, weil er so ernst dreinschaut.

Mein Vater steht am Auto. Er lächelt und er schaut und hat kein Interesse für den Jungen mit der Schubkarre. Da steht ein kleiner Junge neben ihm, mit einem Koffer in der linken Hand. Er sagt zum Jungen mit der Schubkarre, dass er heute wegfahren müsse und deswegen mit ihm nicht spielen würde. Der Größere schüttelt ein wenig seinen Kopf, weil er das nicht versteht, dass er heute nicht mit ihm spielen kann. Der kleine Junge sagt, dass er mit dem Vater heute eine Reise machen werde, und dass er sich so freut.

Dabei fährt ihn der Vater nach Steinhöring ins Kinderkrankenhaus. Er sieht so schön herausgeputzt aus. Der Stolz der Mutter. Beide. Der Vater wie der Sohn. Schön angezogen und zurechtgemacht. Mit einem eigenen Kinderkoffer, in dem nur Kindersachen sind. Das hat der Vater ihm erzählt, dass das sonst nur Erwachsene bekommen würden, einen eigenen Koffer für die eigenen Sachen.

Das ist der Traum des kleinen Jungen.

In Wirklichkeit fährt mich mein Vater nicht ins Kinderkrankenhaus. Er ist gar nicht dabei. Deshalb spielt dieser Traum an einem Sonntag. Am Sonntag hätte Vater Zeit gehabt. Ich wollte ihm als Kind doch glauben, dass er mich fahren hätte können. An einem Sonntag sind wir am Kriegerdenkmal auch gewesen.

In Wirklichkeit fährt uns an einem Montag, Mutter und mich, ein Bekannter von Vater. Mit seinem grünen Auto. Mein Vater hat sich nicht von mir verabschiedet.

Maikäfer flieg!

Dein Vater ist im Krieg!

Die Mutter ist in Pommerland,

Pommerland ist abgebrannt.

Maikäfer flieg!

Dass ich fortwährend in mir nach dem Vater rief, wenn ich aufwachte. Dass ich mich nach ihm sehnte. Doch er kommt nie. Er kommt nicht, wenn ich aufwache, er kommt nicht, wenn ich schweißgebadet bin und Fieber habe. Er kommt nicht, wenn ich huste und Angst habe. Er kommt nicht in der Nacht, auch nicht am Tag. Er ist nicht da. Ich nahm deswegen später an, ich hätte nie nach ihm gerufen. Nicht einmal heimlich tief in mir. Ich dachte später, der schwarze Mann, das wäre immer in der Nacht, auch so mein Vater dann gewesen, doch hatte ich mich nach dem Vater doch gesehnt, nach einem guten Vater, so wie man sich nach einem schönen Traum auch sehnt. Ich habe die Enttäuschung nie gefühlt, weil ich von meinem Wunsch nicht einmal etwas wusste. Ich hatte mir gewünscht, mein Vater wäre hier. Ich wartete darauf, dass er da bleibt und wiederkommt. Ich wünschte mir, mein Vater wäre hier, das habe ich nicht mal geträumt. Wie furchtbar ist denn das, wenn ein Kind nicht einmal so tun, als würde es sich auf den Vater freuen. Ich wünschte mir, er wäre hier, das konnte ich nicht sagen.

Maikäfer flieg!

Dein Vater ist im Krieg!

Die Mutter ist in Pommerland,

Pommerland ist abgebrannt.

Maikäfer flieg!

Er hat mich später niemals angerufen. Er hat mich nie besucht. Er hat mir keinen Brief geschrieben. Ich spielte in der Schule Basketball. Er ist niemals zu einem Spiel erschienen. Dass ich gar kein Verlangen nach ihm haben musste, das lernte ich von ihm. Dass ich niemals nach seiner Hilfe fragen sollte, niemals nach seinem Beistand, seinem Rat, nach seiner Hilfestellung. Das lernte ich von ihm.

Da war gar keine Frage nach der Not. Das war gar keine Frage. Dass Vaters Vater irgendwo in Frankreich lag. Das war gar keine Frage. Dass der da zwischen anderen Gebeinen lag. Für Vater war Verschwinden und vergessen werden selbstverständlich und ganz gleich.

Mein Vater wusste nicht, dass ich mich fürchtete, allein und ohne ihn in diesem Krankenhaus. Ich war kein Maikäfer. Ich konnte auch nicht fliegen. Ich hätte nirgendwo hinfliegen können. Ich hatte nicht einmal im Traum daran gedacht. Ich hatte mir gewünscht, dass er mitkommt. Was ein Kind völlig fertigmacht, sind nicht die unerfüllten Wünsche oder Träume. Es ist ihr unerhörtes da sein müssen. Von einem selbst nur ungehört verbleiben. Es ist, als dürfte es ein Kind mit seinen Wünschen gar nicht geben. Das Unerhörte, ist das Empörende, die unterdrückte Wut, die es deswegen nicht geben konnte. Ich konnte gar nicht wütend auf den Vater werden, weil meine Not vollkommen unerhört in mir verblassen und still sein musste.

Der Junge mit dem Schubkarren, bin ich, ein umgelernter Linkshänder. Mit beiden Händen schiebe ich den Karren. Als kleiner Junge trug ich meinen Koffer noch mit links. Da war die Welt mit meinem Vater noch in Ordnung, das war noch vor dem ersten Schlag in mein Gesicht. Als Junge mit dem Schubkarren, da muss ich, was man mir antut, nur stumm ertragen.

Mein linker Fuß tut weh, das linke Ohr, die linken Zähne und die linke Schulter. Die linke Seite tut so weh. Das tat so weh, dass ich nichts tun konnte, nicht einmal laufen, hören und was tragen, was greifen und mich abstützen, mich auffangen, was beißen, ohne darauf zu achten, dass ich stets gegen das Gebot des Vaters verstoßen würde, wenn ich nicht immer aufpasste.

Ich überlegte, wenn ich kletterte, mit welcher Hand ich fester greifen sollte. Deshalb fiel ich auch damals von der Mauer. Ich hatte mir nicht einmal mehr erlaubt, nur fest genug mit meiner linken Hand zu greifen. Mit meiner linken Hand zupacken, das wollte ich nicht tun. Das wäre doch gegen Vaters Vorliebe gewesen.

Ein Linker kann kein guter Schreiner werden. Vielleicht nicht einmal Handwerker. Wer seine Hände nicht gebrauchen kann, der kann nur Totengräber werden. Im schlimmsten Fall nur mehr Verbrecher.

Das war so eine Qual für mich als Kind, mich nach den Regeln und Gesetzen meines Vaters auszurichten. Mir wurde plötzlich immer wieder schwindlig, wenn ich den Kopf nach rechts drehte, wenn ich nach rechts schaute. Ich musste in mir nach dem Rechten schauen. Auf Vaters Worte achten, mit meinem Kopf, in mir. Mir wurde schwindlig davon, wie seine Worte in mir waren, die Sprache seines Hasses. Die Worte ruhten nicht, sie gaben keine Ruhe, wie Vaters Hass, der schon von einem leisen Ton geweckt wurde. Es war in mir, als stiegen Vögel auf und stieben weg in alle Richtungen. Ich musste immer nur achtgeben. Auf jeden Laut hin, schloss ich den Mund und biss auf meine Zähne. Ich schrie niemals, ganz gleich was auch passierte. Wenn ich mich später brannte, dann sagte ich kein Wort.

Ich konnte wirklich nicht erkennen, wie dieser Mensch für mich gewesen ist. Was sich für mich verborgen hielt, hinter der Herrlichkeit und Größe meines Vaters. Ein unerhörtes Grauen. Sein Hass der niemals aufhörte. Deshalb war ich vom Vater so geblendet, von seinem Bild und Hass auch abhängig. Er hatte mir das beigebracht, nie aufhören zu hassen. Denn Hass kann Schmerz verdrängen, verscheucht die gute Wut, die jedes Kind empfinden muss, wenn seine Eltern es mit Gleichgültigkeit behandeln und bestrafen. Verheerende Gleichgültigkeit: vollkommener Mangel an Mitgefühl und Empathie.