Texte von Hugo Rupp

Das Ritual

 

Nur husten und nicht schlafen, sagt er. Nur Vater nicht behelligen. Nur Vater nicht aufwecken. Nur Vater nicht erschrecken. Mit meinem bösen Husten. Er braucht den Schlaf. Er hat nicht ewig Zeit zum Schlafen. Er muss am Morgen wieder raus. Er will nicht, dass ich wieder huste. Wenn ich denn unbedingt noch weiter husten will, dann könne ich das doch alleine tun. Dazu brauchst du mich nicht, sagt er.

So fürchterlich bellt nur ein Hund, sagt er. So jämmerlich, das soll sich jetzt ein Arzt anhören, sagt er und geht. Der Arzt hört mich und schickt mich gleich zu einem anderen, der hört mich schon im Wartezimmer und sagt: Der Junge hat eine Lungenentzündung. Das müsse man doch hören!

Sie stecken mich dann in ein Kinderkrankenhaus.

Der Freund, der sich nicht mehr von mir verabschiedete, das war der Toni. Das hatte ich seitdem vergessen, dass das der Toni war. Der durfte sich nicht verabschieden, weil ich ihn doch anstecken hätte können. Er schaute mich nicht an. Ich schaute dann auch weg.

Ich schrie um meinen Vater immer mit. Ich suchte immer auch nach ihm.

Die Augen meiner Mutter waren leer, als ich sie über ihn befragte. Sie gaben keine Aussicht frei. Sie gab nur das wieder, was sie an meinem Vater hielt. Was sie bei meinem Vater festverschlossen hielt. Sie gab mir ihre Ehrfurcht vor ihm immer wieder. Sie hielt den Mund für ihn. Sie widersprach ihm nicht. Die Ehrfurcht war wie eine Klammer, die ihren Mund an seinen heftete. Sie klammerte sich an ihn, mit ihrem Mund an seine Worte, Reden und Befehle.

Die Frau am Fuße einer Kreuzigung empfindet Ehrfurcht für den Vater. Die Furcht vor ihm ist groß. Sie ist selbst ohne Sprache.

Ich zuckte, wenn er kam, wenn sein Blick unverhofft mich streifte. Ich wurde immer schüchterner. Wie sie mich eingeschüchtert haben. Wie Ausgehungerte, die sich mit Schadenfreude nährten. Sie machten mich so ängstlich wie ein neugeborenes Tier.

Dass niemand mehr für mich da ist. Dass niemand mehr mich mag. Dass niemand mehr da ist und existiert. Dass niemand mehr mich mag. Ich selbst und meine Schmerzen Einsamkeit. Gefühl von Leere und vom Fallen. Gefühl von in die Leere gehen. Vom ohne halten. Gefühl vom nie mehr wiederkehren.

Entweder schreist du leise, wenn du schon schreien musst. Du kannst auch ruhig weinen, solange du nicht störst. Solange kannst du ruhig weinen. Du kannst so lange schreien wie du willst. Wenn du niemanden damit störst, dann kannst du ruhig weiter schreien. Du kannst hier schreien wie du willst. Das eine will ich dir nur sagen, niemand will so ein Kind, das sich so aufführt wie du hier. Niemand will so ein Kind noch haben.

Du kannst solange schreien wie du willst. Hier kann dich niemand hören. Du kannst jetzt schreien wie du willst! Hier wird dich niemand hören können.

Das war die Aussicht, die ich hatte.

Das wirst du noch bereuen!

Ich soll bereuen, dass ich schreie, weine, wütend bin, ich soll den Schmerz, mein Weinen, Klagen noch bereuen. Ich soll mein eigenes Gefühl, die Reaktion des Körpers nur bereuen. Ich soll mein eignes Wüten gegen Einsamkeit bereuen. Ich soll mein eigenes Weinen jetzt beweinen. Mein Schreien jetzt verschreien. Ich soll mich dafür selbst bestrafen. Ich soll in meiner Einsamkeit, die Einsamkeit und das was mich dorthin verfrachtet hat, bereuen, die eigne Reaktion, die Wut, die Tränen und die Klagen. Ich soll auf meinen Vater hören. Das wirst du noch bereuen. Ich soll bereuen, dass ich mich vor ihm, dass ich mich über meine Eltern, ihn beklage und beklagt habe, das soll ich nun bereuen und bedauern. (Hiob)

Mein Vater freut sich, wenn ich einsam bin. Er sagt, bestimmt, erklärt, und das vollkommen ohne eine Art Begründung, dass weinen nicht erträglich ist, das sei für ihn nicht länger tragbar. Mein Weinen hat ihn schlecht gemacht. Ich soll nicht länger ihn anweinen. Ich soll mir damit selbst weh tun. Ich soll mich damit selbst doch schädigen. Deshalb lässt er mich jetzt allein. Ich soll den Schaden, den ich anrichte, jetzt selbst am eignen Leib ertragen. Ich soll mein Klagen nun bedauern. Ich soll bereuen, dass ich klage. Dass ich auch wütend werde, bin, das soll nicht sein, das soll ich nun bedauern. Das klagt mein Vater ein. Das soll die Strafe sein, für mein anklagen, wütend sein. Ich soll die Strafe akzeptieren. Die Strafe soll als Willkür nicht erkennbar sein, deshalb soll ich mich selbst bestrafen.

Ich hatte das Gefühl, wenn ich dann weinte, dass ich mir damit selber schaden würde. Ich fand mich schließlich schrecklich, wenn ich noch weinen musste. Es reute mich. Ich fühlte mich dann als Versager. Versager soll ich sein, wenn ich mich nur beklage. Die eigne Wut, die sollte ich bereuen.

Das wirst du noch bereuen, sagt sie. Man widerspricht nicht seinem Vater!

Ich sollte alles nur für mich behalten. Ich sollte ihm nicht widersprechen. Und wenn ich das tatsächlich tat, bestrafte er mich dafür unverzüglich. Ich sollte das bereuen. Ich sollte mich vor meinem Vater ängstigen, dermaßen fürchten und Furcht haben, damit die Reue, als mein Empfinden über eine seiner Strafen, mich fortan warnen würde. Du sollst den Vater nicht in Frage stellen! Und wenn du das doch tust, wirst du in deiner Einsamkeit verbrennen. So setzt man Inquisition, Verfolgung, Angst und Angst davor ins Herz des Kindes. So pflanzt man reuen und bereuen müssen ein, wie Brennnesseln ins Hirn.

Ich stellte ihn in Frage?

Weil ich den Vater halten wollte, unbedingt. Dass ich deswegen hustete, weil er doch bei mir bleiben sollte. Das ist so tief und schier unfassbar für mich. Weil er doch niemals das begriffen hat, wie sehr ich ihn, der mich doch schon als kleines Kind dann schlug, trotzdem in meiner Einsamkeit herbeisehnte und an mich binden und ganz fest halten wollte. Dass ich bei jedem Abschied ganz verzweifelt war. Das habe ich vergessen, dieses Gefühl des Abschied nehmens, als müsste ich an jedem Tag nur wieder sterben.

Ich sollte nicht frei fühlen. Ich sollte meine Äußerung bereuen. Dass ich mich äußerte mit dem Gefühl. Dass ich damit was sagen wollte. Ich sprach doch unaufhörlich damit. Ich zeigte meine große Angst vor ihr. Ich hielt dem Vater meine Angst vor Augen, indem ich ihn nicht gehen lassen wollte. Das sollte ich bereuen, dass ich vor ihm, mich über meine Mutter so beklagte. Bezeugte. Mit meiner Anhänglichkeit, wie ich mich jeden Tag am Morgen bei ihm einhängte, da ist die Klammer wieder, ihm nachlief bis zur Treppe und ihn am Gehen hindern wollte. Wie ich ihn bei mir haben wollte und ihn nicht gehen ließ. Dass ich Angst hatte um mich, und das ihm zeigte und vorführte immer wieder, die große Angst vor meiner Mutter, allein mit ihr, auch ganz allein. Das wollten sie nicht sehen. Ich sollte nicht die Wahrheit zeigen und zeigte doch nichts anderes. Das waren die Verhältnisse, die ich nur immer wieder zeigen wollte, und dafür wurde ich bestraft. Das musste ich dann also büßen und bereuen. Dass ich verzweifelt war und unglücklich und mich alleine fühlte und dass das doch kein Zufall war. Ich war nicht zufällig verzweifelt, wütend und unglücklich. Das hatte einen Grund, den außer mir niemand erkennen und bezeugen wollte. Nichts konnte mich und macht mich heute noch so wütend als jene Ungerührtheit meiner beiden Eltern mir gegenüber.

Das Ritual vom Gehen, Abschied nehmen, gefiel ihm sehr. Er freute sich, belebt, wie neugeboren. Das immer gleiche Ritual vom Abschied nehmen. Es machte mich fast wahnsinnig, weil ich tatsächlich nichts von ihm bekam. Das war für mich grausam.

Und irgendwann bereute ich, das was ich immer gab und für ihn geben musste, damit er schön zufrieden war. Es reute mich, es war für mich enttäuschend, grauenhaft, ihn immer nur zu lieben und zu mögen müssen.

Mein Vater nahm meine Liebe einfach an und mein Vertrauen für ihn. Er nahm das alles nur entgegen und ließ mich dann allein. Ich musste mich für ihn verschwenden, und er verschwendete nicht einen Augenblick für mein Gefühl. Er drehte sich ganz seelenruhig um und blickte nie zurück.