Texte von Hugo Rupp

Das ratlose Kind

Mein erster Schultag war das heute, und es war nicht schön, wie alle das nun immer wieder von mir hören und bestätigt haben wollen.

Sie fragen, ob es mir gefallen hat, doch keiner will was anderes wie JA hören. Mein Vater hat befohlen, dass eine Schultüte der letzte Dreck sei. Für einen Tag, für einen Tag nur, für ein einziges Mal, für so was Geld auszugeben. Das sei Betrug. Die würden einen doch nur ausräumen, sagt er. Statt einer Schultüte, fahre er mit uns, mit mir und Mutter, mit meinem Freund Hans, der keinen Vater mehr hat und dessen Mutter, aufs Volksfest nach Rosenheim. Das werde mir gefallen, sagt er. Das gefällt mir jetzt schon nicht. Ich bin ohne Schultüte. Ich bin der, den die anderen anschauen. Ich bin der, dem was fehlt. Ich habe nichts in meinen Händen. Ich kann mich an nichts halten. Ich habe ein Gesicht und darf damit nicht wütend sein. Ich muss ohne Schultüte da stehen. Ich muss ohne Schultüte zum ersten Schultag gehen und darf kein Gesicht machen. Ich darf nicht zeigen, wie es mir geht.

Und wehe dir, du machst hier einen Zirkus. Das sage ich dir, sagt Vater vor dem Weggehen, bevor wir das Haus verlassen.

Zieh nicht so eine Visage!

Ich sah sie mit den Schultüten.

Wehe du versuchst hier einen Aufstand zu machen und blamierst uns vor den andern!

Ich sah, wie ihre Finger darauf trommelten, wie sie die Tüten fest umschlungen hielten. Wie Hans neben mir auch, wie er sich damit selbst umarmte und lächelte. Ich sah seinen Stolz. Ich sah ihn in ihren Gesichtern. Ich sah ihre Freude, auf den ersten Blick, die Freude bei den anderen, wie sie mit ihren Schultüten vor sich standen und sich immer wieder umschauten. Wie sie sich freuen konnten. Ich sah, wie sie sich freuten. Ich sah, wie sie sich glücklich umschauten.

Ich schaute immer wieder in den Boden, bis Vater mich von hinten anrempelte.

Da vorne spielt die Musik.

Auch wenn die Tüten alle ähnlich waren, so war doch jede etwas Besonderes.

Ihr habt aber schöne Schultüten!, sagt die Lehrerin.

Sie schauten wieder stolz.

Ich stand nur da und wusste nicht, wohin ich sonst noch blicken sollte, damit ich nicht mehr da sein würde. Ich war so eifersüchtig auf ihr Glück. Ich hatte keines.

Mein Vater lächelte und war stolz auf sein Verhalten, mir keine Schultüte gekauft zu haben. Er schimpfte auch schon wieder, wie blöd man denn nur sein könne, um nur für einen Tag, so eine windige Tüte zu kaufen. Da mache er nicht mit.

Die anderen, was gehen mich die andern an, sagte er und lächelte. Er lasse sich nichts vorschreiben.

Ich verstand nicht, was er meinte.

Ich musste still sein, schwieg. Ich sah, ich wiederhole mich, wie ihre Finger, ihre Hände an der Oberfläche ihrer Tüten Schutz fanden, wie sie da etwas hatten, das sie mit ihren Händen fassen konnten.

Ich biss die Zähne so zusammen, bis mir der Mund wehtat. Ich schwieg und schaute weg.

Ich schaute immer später weg, wenn mich was wirklich interessierte, wenn ich was wünschte, auch wenn ich mir was sehnlich wünschte, dann redete ich meine Wünsche klein und immer kleiner, bis nichts mehr davon übrig war.

Es tat so weh, dort vorgeführt zu werden. Ich war dann auch noch Spielverderber, der am Nachmittag auf dem Volksfest nicht lachen und sich nicht freuen wollte. Ich war dann der, der meinem Vater die gute Laune mit meinem reservierten Verhalten und meinem traurigen Gesicht verderben sollte. Ich war für die anderen derjenige, der ihnen ihre Stimmung vermieste.

Das stille und das stumme Land, das wüste und das tote, ist meine Kindheit ohne Wut. Ich durfte mich nicht dazu äußern, wenn Vater mich erniedrigte. Ich durfte kein Wort sagen, wenn er mir ohne Grund etwas verbot, wenn er mich schlug und demütigte. Ich wurde für mich dann noch kleiner, mit meiner Angst vor ihm.

Wie meine Mutter mich ansieht, jetzt still zu sein und still zu bleiben. Wie sie mich mahnt, nur still zu sein, wenn sie mir droht mit ihm.

Ich habe nie daran gedacht, dass Vaters Macht auch enden kann, dass ich mich nicht mehr fürchten muss. Ich habe nicht gewusst, dass seine Macht in mir, die Angst als Kind, ein Ende haben kann. Dass meine Feigheit enden kann, dass ich auch wieder mutig werden kann. Ich gab mir Schuld, dass ich feige, zu feige gewesen bin.

Mutter machte mich feige, indem sie Vater heraufbeschwor. Sie brachte mich zum Zittern. Sie drohte mir, mit seiner Ankunft, seinem Kommen. Sie drohte mir in seinem Namen.

Gleich wird er kommen. Horch! Jetzt ist er an der Tür.

Mein Fundament der Einsamkeit und Angst: Allein in dunkler Nacht. Ich bin für meine Eltern Beute. Ich warte auf die Eltern.

Es war sehr schwer, mein Warten aufzugeben, um zu erkennen, was ich als Kind nicht realisieren konnte, wie meine Eltern mich mit ihren Ängsten straften.

Ich wartete darauf, dass ihre Angst wahr würde. Ich konnte meine Eltern nicht verstecken.

Sie stellten mich mit meiner Angst als Feigling hin. Ein Kind das sich nicht helfen kann, mutlos, gemacht von seinen Eltern. Sie stellten mich als Schwächling dar. Sie machten mich für alle kenntlich; der Junge ohne Schultüte, der still ist und nichts sagt, der sich nicht traut etwas zu sagen. Der Junge ohne Mut, der auf der Stelle tritt.

Mein Vater exerzierte seine Macht mit mir. Dass meine Wünsche ihm gehören sollten. Dass meine Wünsche ihm gehörten, dass ich nur ihm gehören sollte, mit Haut und Haaren. Wie Gott im Paradies mit seinen ersten Menschen. Er demonstrierte seine Macht. Wir sollen nur gehorchen. Die Wünsche waren seine Köder. Er fischte damit, wie er wollte.

Mein Vater hielt mich immer nur an seiner Leine. An kurzer oder langer Schnur, gerade wie es ihm beliebte. Er ließ mich manchmal länger zappeln.

Er müsse überlegen, sagte er, und meine Mutter sagte, das wäre doch ein gutes Zeichen. Als ich so gerne im Verein Fußballspielen wollte, da überlegte er, um schließlich nein zu sagen. Zwei Trainer wollten ihn umstimmen. Er unterhielt sich auch mit ihnen und sagte dann doch nein. Ich sehe sein Gesicht, als wäre es gerade eben, er lächelte.

Dort spielt doch nur Gesindel.

Er sonnte sich in seiner Macht und badete in meiner Traurigkeit.

Und halte deine Schultern schön gerade!

Ich stolperte. Ich zuckte mit den Schultern.

Später erzählte er mir, dass sein Stiefvater ihm auch verboten hätte, im Verein Fußball zu spielen. Nachdem er dennoch gespielt hatte, wie er sagte, hätte ihn sein Stiefvater windelweich geschlagen.

Damit war das Kapitel Fußball für mich erledigt.

Ich war dann später selbst feindselig, gewalttätig und bösartig, wenn jemand mich in Frage stellte. Besonders dann, wenn jemand meinen Zorn und meine blinde Wut mit seinen Augen unterdrücken wollte. Wenn er im Grunde doch genau so ängstlich war, verwirrt und ratlos, wie ich einst vor dem Vater. Ich war feindselig, wie er, wenn jemand zu mir NEIN sagte, wenn jemand mir ein NEIN bedeutete. Ich durfte doch als Kind niemals zu meinen Eltern NEIN sagen. Ich konnte nie gefahrlos etwas wünschen, sagen, tun und mich frei fühlen. Nie konnte ich gefahrlos für mich sein.

Ich zuckte und ich duckte mich, wenn er die Hand erhob. Und meine Mutter, verwischte jede seiner Spuren, indem sie mich ansah, als wäre nichts gewesen. Sie riet mir zu gehorchen.

Was fühle ich!?

Wie meine Mutter, das gehorsam sein müssen, mit ihrem stummen Einverständnis, mit meinem Vater erst besiegelt. Wie von ihr jeder Mut zur Wut entkräftet wird.

Sie lähmte meinen Zorn vorsätzlich. Sie riet mir still zu sein und nur zu schweigen. Ich musste Vaters Worte, Taten, stumm ertragen. Demütig seinem Zorn und seiner blinden Wut gehorsam Folge leisten. Gehorsam sein zu müssen, bedeutete für mich, selbst ratlos sein und ratlos bleiben. Und unbegreiflich einsam.

Ein Mensch, der seinen Zorn als Teil von sich selbst verstehen und integrieren kann, wird nicht gewalttätig. Er hat erst das Bedürfnis, den anderen zu schlagen, wenn er seine Wut eben nicht begreifen kann, wenn er mit diesem Gefühl als kleines Kind nicht vertraut werden durfte, es nie als Stück von sich selbst erleben konnte, weil dies in seiner Umgebung völlig undenkbar war.

Alice Miller Am Anfang war Erziehung