Texte von Hugo Rupp

Das innere Kind

 

Ich musste Schuld annehmen, wie einen Schuh, der gar nicht passt. Ich musste meiner Schuld treu bleiben.

Ich konnte mir das nicht erlauben, nicht treu zu sein und meine Tränen nicht bereuen. Ich konnte das nicht tun, mich meiner Tränen nicht zu schämen. Ich musste meiner Mutter treu sein und schuldig bleiben. Ich konnte mich nur so entscheiden. Deshalb behielt ich meine Schuld, weil ich die Wut nicht zeigen durfte, die Wahrheit meiner Tränen. Ich konnte nicht unschuldig sein und durfte nicht unschuldig werden. Ich musste meinen Eltern Treue schwören.

Ein Kind kann nicht alleine auf sich hören. Es muss sich schließlich von der Sprache und den Gaben anderer ernähren.

Sie kam dann immer in den Kindergarten, als wir noch spielten, und dann erschreckte sie mich immer hinterrücks. Sie war dann immer plötzlich da und immer nur zu früh. Sie schlich sich immer an, wenn ich noch Sachen machte, spielte. Dabei erschrak ich immer fürchterlich, wie sie mich überraschte. Sie nannte das die Überraschung, wenn sie mich abholte.

Freust du dich nicht, mich hier zu sehen, das sagten ihre Augen, Hände, ihr Gesicht, der Mund, die Füße, die nicht stillstanden.

Ich hörte sofort auf zu spielen. Es ging nicht mehr.

Das war es später, fällt mir ein, dass ich bei jedem Spiel doch ständig nach den Augen und dem Schrecken suchte. Ich achtete darauf, dass nichts daneben ging, dass alles schön war, wenn ich etwas tat, wie Fleißaufgaben machen spielte, dass nur der Schrecken nicht gleich wieder kommt und alles aus ist und beendet. Ich achtete auf meine Mutter überall, ohne zu wissen, dass ich ihre Gegenwart befürchtete, dass ich das hasste, wie sie war, dass sie mir alle Spiele nur zerstört hatte. Ich konnte später niemals wieder ohne Rücksicht spielen. Ich sang und tanzte Ringelreihe, doch achtete ich immer haargenau darauf, nur keinen falschen Schritt und keinen falschen Ton zu machen. Mein Tanzen war ein auf das Tanzen achten. Ich spielte nicht mehr frei. Ich achtete auf die Bewegungen. Ich achtete darauf, dass alles so beschaffen sei, dass Mutter mich auch damit mögen könnte. Ich spielte nicht. Ich spielte Spielen. Ich sang auch später gern, doch immer mit dem Hintergrund eines vermeintlich schönen Tons, dass nichts den Argwohn irgendeines Zuhörers erregen hätte mögen. Ich richtete mich nach dem „Schönen“ aus. Ich spielte schönen Klang. Ich spielte schönes Singen. Ich sang nicht was in mir verborgen war. Ich sang nicht dunkle Töne.

Wer einem Kind die Freude nimmt, der gibt ihm das Gefühl, dass es nichts richtig machen kann. Nur immer was versuchen, was auch gefällig ist. Dass ich das immer nur versuchen kann, etwas für meine Eltern richtig machen.

Warst du schön brav, fragt sie als erstes.

Dabei schaut sie mich gar nicht an. Sie rümpft die Nase auch schon wieder.

War er auch brav, fragt sie dann meine Kindergärtnerin und wartet dann auch hier auf keine Antwort.

Wie schön es hier doch ist, sagt sie.

Sie konnte einfach nichts so lassen wie es war. Nichts hatte je Bestand vor ihr. Ich konnte ihr kein Wasser reichen. Nichts schien für sie geeignet, dass sie damit zufrieden war. Nichts war für sie geeignet. Ich konnte meine Mutter nicht befriedigen. Ich dachte immer nur, das wäre mein Versagen.

Das hatte ich vergessen, warum ich irgendwann bei ihrem Auftauchen, als ich sie plötzlich einmal kommen sah, am Zaun entlang, vom Trottoir, entlang des Kindergartens, wie sie dann immer näher kam, mich wegdrehte, und als sie dann noch näher kam, anfing zu weinen. Ich hatte das nicht nur vergessen, es war mir unbegreifbar, warum ich plötzlich weinen musste, warum ich einfach weinen musste, als meine Mutter zu mir kam. Ich schämte mich deswegen sehr, weil ich doch wegen ihr hier weinte. Ich konnte das selbst gar nicht wissen, geschweige denn auch wirklich meinen. Ich war für meine Mutter blind. Ich sollte das niemals für sie in Wirklichkeit empfinden, dass ich mich nicht mehr auf sie freute.