Texte von Hugo Rupp

Das Feuer meiner Tränen

Ich denke an Bestrafung. Ertrinken, denke ich. Jetzt ist ein Kind ertrunken. Das hat es nun davon. Oder: Das haben seine Eltern nun davon. Wenn was passiert, dann muss auch jemand dafür büßen.

Und meine Phantasie: Ich stumm, gelähmt und ohne einen Ton und ohne eine Möglichkeit mich zu bewegen, und Mutter redet unentwegt und ohne Punkt und Komma. Ich höre zu. Ich muss der Mutter zuhören. Bewegungslos und ohne Widerstand. Ich kann nichts sagen oder tun. Ich kann nicht einmal weinen, sonst werde ich bestraft.

Wovor hat dieses Kind nur eine solche Angst?

Sie liest mir Märchen voller Schrecken vor, dass ich aus Angst vor Fieber glühe. Dann kommt sie an mein Bett und schaut mich an. Sie tut dann so, als müsste ich mich schämen.

Auf Zehenspitzen komm ich in mein Land.

Nur immer Schreien und so weinen. Das hält doch keine Menschenseele aus.

Mit Bitterkeit, mit der ich sehe, mit der ich meine Fehlerhaftigkeit begreife und bestrafe. Ich bin einer, der sich wehtut. So komme ich mir vor, wie einer, der sich in sein eigenes Fleisch schneidet.

Was regst du dich so auf?!

Als mich mein Vater mit der rechten Hand zusammenschlägt, da bin ich sechzehn Jahre alt, und meine Mutter sitzt auf einem Sofa, mit meiner Schwester neben sich, da zucke ich nicht mal. Nicht einen Ton hab ich gesagt. Nicht eine Träne habe ich geweint.

Dir ist doch nicht zu helfen, mit deiner Trenzerei!

Mir würde nicht zu helfen sein, solange ich noch weinte.

Warum lachst du!?

Ja soll ich vielleicht weinen?

Sie hat mich ausgelacht. Wie ich dann später selber über Schmerzen lachen konnte. Gestrampelt habe ich nach ihr, in jeder Nacht. Gerufen und gerufen habe ich, und niemand hat etwas gemacht. Gestrampelt habe ich nach irgendeinem Menschen, nach irgendeiner Seele. Damit sich jemand um mich kümmern mag.

Hört denn das niemals auf, sagt sie und schaut mich böse an.

Wenn ich sie endlich wieder vor mir sehe, wie sie mich für die Tränen hasst. Ihr Hass auf meinen Mut, wie ich für meine Tränen kämpfe und weiter heule, heule. Auch wenn sie meine Beine hält und meine kleinen Füße mit den Händen fasst. Auch dabei lachte sie, als wäre alles nur ein Spiel. Während ich strampelte und immer noch versuchte, mich frei zu schwimmen und zu fliehen.

Was gehen mich die andern an! Verdammt. Was gehen mich die andern an?! Was kommst du immer mit den anderen daher?!

Das ist der Raum, in dem ich aufgewachsen bin. Allein mit ihr, und meine Mutter schimpft, beklagt sich über meine Tränen und sie bestraft mich für die Wut und jeden Schmerz mit Schreien, Schweigen und mit Weggehen. Nur sie verlässt den Raum und schließt die Tür.

Als gäbe es nur eine Sicht. Und jede Träne der Beweis. Wer weint, hat seine Strafe selbst verdient und damit seine Schuldigkeit bewiesen. Nur schämen muss ich mich. Und wenn sie mir am Telefon erzählt, wer wieder in der Heimatstadt gestorben ist. Jetzt weiß ich, was mich so geärgert hat. Dass alles ohne Tränen kam. Dass alles ohne Tränen sein musste.

So stapfte ich und torkelte, von dem Gefängnis meiner Kindheit dann ins nächste, selbe, gleiche, andere. Und von Zuhause in den Kindergarten und in die Schule dann, und in die Kirche, immer weiter, und so fort. Und so befand ich mich, selbst auch nur schimpfend, mich beklagend und bestrafend, im Grunde immer noch in diesem Raum, den meine Mutter für mich vorgesehen hatte, in dem sie mich alleine ließ, mit meiner Einsamkeit und meiner Wut.

Du reißt mir ja mein Bein noch aus, sagt sie und lächelt. Und später dann mit ihr allein, hör ich von ihr: Keine zehn Pferde bringen mich in ein Lungensanatorium. Ich bin doch nicht verrückt und stecke mich auch noch an mit Diphtherie. Daran ist meine kleine Schwester jämmerlich gestorben.

Ich klammerte mich an ihr Bein. Und später weinte ich allein im Bett.

Was weinst du denn? Die Krankenschwester hat gesagt: Vielleicht muss er dort hin. Dann schicken sie ihn weg. Da müssen sie nicht hin. Da sind ganz andere, von anderen Familien, auch ganz allein. Da würden sie ja staunen. Da können sie beruhigt sein, das ist doch ganz normal, dass man allein da hinkommt. Da müssen sie sich gar nicht grämen.

Drück jetzt ein Auge zu! Vertreib jetzt deinen Schmerz.

Der Junge geht ja ein, dort ganz allein, sagt sie Jahrzehnte später. Allein geht der da ein, sagte dein Vater zu mir. Der Junge geht allein dort ein.

Ich war in keinem Sanatorium. Ich war nicht dort. Mein Schatten auf der Lunge heilte. Doch andere, die kamen fort und waren dort. Ich war nicht dort. Als hätte Gott ein Auge zugedrückt. Weil ich nicht hinmusste. Weil ich nicht dort gewesen bin. Auch wieder Schuldgefühle.

Der Eisner Dietmar musste hin. Hast du das nicht gewusst!?

War der allein?

Nein, war er nicht. Sechs Monate ist er mit seiner Mutter weggewesen.

Ich schaue sie nur an.

Glaubst du vielleicht, dein Vater hätte dich allein dort hingeschickt!?

Ein Auge reiß ich auf, das andre drück ich zu. Ein Auge reiß ich auf, das andere drück ich zu.

Was gehen mich die andern an.

Einer, der alles nur mit Neid beäugt, das er selbst nicht erreicht.

Du hast hier nichts zu melden. Solange du die Füße unter meinem Tisch hast, isst du, was auf den Tisch kommt. Hier isst du das, was deine Mutter kocht. Was auf den Tisch kommt, das bestimme ich. Hier hast du nichts zu melden. Jetzt sei gefälligst still, damit wir in Ruhe essen können.

Warum ich nicht mehr weinte.

Die andern schauen schon, weil du so weinst.

Gleich starren mich die andern an.

Jetzt sind wir wieder gut!

Wie sie das immer wieder sagt, mit einfältigem Grinsen.

Ich spürte bei den Eltern kein Verlangen nach der Liebe. Ich spürte ihr Verlangen nach Gewalt. Und jene Angst, dass die Gewalt anwächst. Weil sie in mir anwuchs. Das habe ich gespürt, dass die Gewalt in mir anwächst, wenn Vater kommt, und mein Verlangen nach Gewalt, dass das in mir anwächst, wenn wir uns wieder sehen.

Ich hatte einen solchen Hass, dass wieder niemand etwas sagt. Dass wieder irgendeine Mutter kommt und sagt: Er meint es doch nur gut. Er hat das doch nicht so gemeint. Dass wieder niemand etwas sagt. Daher kommt mein Verlangen, auch endlich einem anderen das einzuprügeln und an den Kopf zu schmeißen, was ich erlebt habe. Dass niemand hilft. Das einem anderen auch ganz genau so einzubläuen.

Hör endlich auf mit deiner Trenzerei, sonst lang ich dir noch eine.

Am Sonntag bin ich mit ihm unterwegs. Da waren alle Kinder stumm, während wir an den Händen unserer Väter hingen. Wir alle trugen einen Sonntagsanzug. Wir gingen in die Kirche oder kamen daher. Du sollst den Vater und die Mutter ehren.

Du Waschlappen! Was bist du nur für ein Waschlappen! Nur immer weinen. Du bettelst förmlich ja danach, dass ich dir eine runterhaue.

Ein Kind das weint, das bettelt nach Gewalt. Das muss ich lernen.

Was schaust du denn so zwider?!

Was Vater mir freiwillig, samt seinem Lächeln angeboten hat, war seine Feindschaft.

Jetzt sind wir wieder gut.

Ich wusste nicht, dass mein Verlangen nach Gewalt, damit zu tun hatte, dass ich mit meinen Tränen nichts mehr zu tun hatte. Ich wusste nicht einmal, dass ich das war, der Tränen überging. Ich wusste nicht, dass mein Verlangen nach Gewalt, nach immer mehr Geschichten voller Grausamkeit, nicht von den Tränen, sondern von deren Unterdrückung herrührte.

Ein Standgericht ist ein Ausnahmegericht bei Unterdrückung von Aufständen und inneren Unruhen.

Wikipedia

Mit einem überwältigendem Scham und Schuldgefühl verbringe ich die Nacht mit einem Traum. Und dabei bin ich ganz allein. Allein in einer Stadt mit neuen, hohen, fensterlosen Mauern. In einer grauen Stadt. Allein und ohne einen Menschen. Kein Tier, kein Vogel, keine Laute. Gar nichts. Nichts ist mehr da, und alles grau und taub, kein Leben, keine Sehnsucht, gar nichts. Nur Schuld und Scham und ich allein. Und dabei gibt es keinen Grund, mich so zu schämen. Ich bin doch ganz allein, in dieser öden Welt.

Bleib mir vom Leib!

Geh weh!

Bleib mir mit deiner Trenzerei vom Leib!

Damit kannst du mir gestohlen bleiben!

Wie sie mich ausschimpften. Mich kleines Kind. Endlich kann ich das wieder hören, wie ich verzweifelt war und weinte, weinte, weinte.

Ich sollte zu ihm gar nicht zärtlich sein. Er mochte das gar nicht.

Jetzt wird mir endlich klar, dass ich mich immer nur beherrscht hatte. Wenn Vater da war oder kam, dann war es aus mit Zärtlichkeit und Spaß. Dann hatte sogleich Schluss zu sein mit jeder Art von Freude. Mit ihm kam immer nur der Hass. Endlich begreife ich auch meinen Traum vom Sportplatz. Ich knie vor ihm und weine. Und Vater strahlt und sonnt sich im Erfolg. Was ich mir wünschte, das war mein Traum. Ich wollte meine Wut und meine Tränen nicht hergeben, nicht freiwillig.

Die Organe des Chaos brummen jetzt wie Hornissen im Meer aus Sand.

Roy Campbell

Du bettelst förmlich nach Bestrafung!

Sie projizierten ihr Verlangen nach Gewalt ja immerzu auf mich.

Du mit deiner Schreierei. Du schon wieder! Weint der Junge denn schon wieder?!

Wann immer meine Wut auf meine Mutter und den Vater kam, kam auch mein Schweigen darüber. Dilemma eines geschüttelten Kindes, dass ich aus reiner Todesangst heraus versuchte, die Wut und meine Tränen zu verschweigen.

Verlangen nach Gewalt, um nie mehr wieder bloßgestellt zu werden. Allein, mit Tränen und Gewalt.

Und jedes Mal, wenn ich so tat, ich würde über der Gewalt jetzt stehen, jetzt hab ich sie im Griff, holt sie mich ein. Holt mich mein Vater heim und schlägt mir mitten ins Gesicht und grinst mich an, und meine Mutter sagt, das habe ich dir gleich gesagt, du sollst dich nicht zu früh freuen. Schau dich nur an! Wie du schon wieder aussiehst!

Ich konnte mir nicht anders helfen, als mit der Inszenierung von Gewalt und dem Verlangen danach, die eigene Bloßstellung immer wieder nachzustellen, nur ohne Tränen und dem Bewusstsein davon. Weil ich das einfach nicht mehr aushielt. Weil das kein Spiel war, zwischen mir und meinen Eltern.

Im Dunkelfeld

Der Raum, in dem ich aufgewachsen bin. Die Wände waren niemals still. In diesem Raum war schon Gewalt, bevor ich überhaupt geboren worden war. Die Zimmer waren voll, mit Vaters Grinsen und mit seinen Flüchen, mit Mutters Drohungen, mit ihren Sätzen voller Grausamkeit; Gewalt und Strafen überall. Die Wände waren voll davon. Ihr Haushalt war voll Niedertracht. Die Wände und die Böden. Selbst an den Fensterscheiben klebten böse Worte. Der ganze Raum war voll davon und roch nach dem Verlangen nach Gewalt. Deswegen wünschte ich mir irgendwann, das ganze Haus möge in Flammen aufgehen und mit ihm meine Eltern. Ich würde auf dem Heimweg sein, und meine Eltern brennen.

Woher hat dieses Kind nur eine solche Wut?

Das Feuer meiner Tränen, mit dem ich ihren Hals benetzt hatte. Und beide schimpften mich nur aus. Dass ich sie damit dreckig machte. Und dass ich mich dafür noch schämen sollte. Mich schimpften sie, für meine Tränen. Mich schimpften sie. Ich sollte dafür büßen lernen.

Mit dir macht man was mit!

Dass ich das einfach mitmachte. Was ich an jedem Tag mitmachte. Erlitt und dann genau so nachmachte. Das war keine Begabung, dass ich das mitmachte. Weil ich das mitgemacht hatte, sonst hätte ich nicht überlebt. Was ich an jedem Tag mitmachte. Dass ich das auch so wiedergab, was ich mitmachte. Was ich so mitmachte. Das nachmachen, was Vater tat. Was er mir vormachte. Was er mir antat, und was die Mutter mir von Anfang an beibrachte. Was sie mir vormachten. Was ich dann später alles mitmachte. Dass mich doch jemand mag.

Warum machst du dich nur zum Clown!?

Damit mich irgendjemand mag, mach ich was nach. Mach ich was nach, was mir gar nicht gefällt. Mein Lachen über meine Tränen. Das machte ich den Eltern nach. Bis meine Tränen unerträglich für mich wurden. Mach ich andauernd auch was nach. Was anderen gefällt, und mir wehtat. Ich tue so, als würde mir gar nichts mehr wehtun. Als würde alles nur zum Lachen sein. Als würde mir nichts wehtun können. Nur damit kam ich bei den Eltern durch. Nur damit kam ich bei der Mutter und dem Vater an. Indem ich das mitmachte, was sie mir jeden Tag antaten.

Weil ihnen Leid und Tränen unerträglich schienen.

Ich löschte meine Tränen aus, mit Hass und blinder Wut, mit Schimpfen und mit Strafen. Ich machte das. Ich schimpfte mich für meine Tränen aus. Ich machte das, was meine Eltern mir vormachten.

Das wirst du uns noch büßen!

Das war für mich was ganz besonderes, als ich das endlich konnte und verstand, mich so zusammenreißen, dass keine Tränen mehr zum Vorschein kommen. Mich so zusammenreißen, dass meine Eltern mich nicht mehr beschimpften. Dass weder Vater oder Mutter mich bestraft, wenn mir etwas passiert.

Ich lasse mir nichts mehr anmerken.

So wurde alle Welt bestraft.

So ließ ich alle Menschen büßen.

Jetzt endlich weiß ich, was Befreiung heißt, für so Kind wie mich. Dass ich nie mehr jemand büßen lassen muss, für meine unterdrückten Tränen; nicht einmal mehr mich selbst; dank meines Mutes, dem Feuer meiner Tränen.