Texte von Hugo Rupp

Auf der Suche nach emotionaler Sicherheit

 

Sie betrachtete mich neugierig. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Manchmal, wenn ich hier den Flur entlanggehe, stelle ich mir vor, ich höre sie direkt hinter mir. Diesen raschen, leichten Schritt. Ich würde ihn überall erkennen. Auch auf der Galerie über der Halle. Dort sah ich sie früher oft am Abend, wenn sie, über das Geländer gebeugt, hinunter in die Halle schaute und nach den Hunden rief. Manchmal kann ich sie jetzt noch dort sehen. Es ist beinahe, als hörte ich das Rascheln ihres Kleides auf den Stufen, hörte sie zum Abendessen hinunterkommen.“ Sie hielt inne und sah mich unverwandt an, prüfte meinen Gesichtsausdruck. „Glauben Sie, sie kann uns sehen, wie wir gerade miteinander reden?“, fragte sie bedeutsam. „Glauben Sie, die Toten kommen zurück und beobachten die Lebenden?“

Ich schluckte. Ich grub die Fingernägel in meine Handflächen.

„Ich weiß es nicht“, sagte ich. „Ich weiß es nicht.“ Meine Stimme klang unnatürlich hoch. Ganz und gar nicht wie meine natürliche Stimme.

„Manchmal frage ich mich das“, flüsterte sie. „Manchmal frage ich mich, ob sie nach Manderley zurückkommt und Sie und Mr de Winter beobachtet.“

Wir standen an der Tür und starrten einander an. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Wie dunkel und düster ihre Augen in dem weißen Totenschädelgesicht wirkten, wie bösartig, wie voller Hass.

Daphne du Maurier Rebecca

Sie schwebt vor mir und sie bewegt sich nicht. Am nächsten Tag träum ich von einem Mann, der einen viel zu großen Anzug trägt und dabei strahlt. So weiß und passend, doch zu groß. Ich weiß, dass dieser Mann auch böse ist. Man sieht ihm das nicht an, so wie er sich benimmt. Die Mutter schwebt vor mir im grauen Raum. Sie trägt ein wallendes Gewand und ähnlich einem Kaftan oder einer Burka.

Es war nicht alles schlecht!

Beschreiben, immer weiter schreiben, bis nur mehr eine Wahrheit übrigbleibt. Die Königin der Nacht, jetzt schmucklos wie ein Folteropfer, bekleidet mit dem Nessoshemd. Was hat sie nur mit mir gemacht?

Nessos (Kentaur)

Nessos (griechisch Νέσσος, attisch Nettos und Netos, latinisiert Nessus) ist ein Kentaur in der griechischen Mythologie, der Deianeira, die Frau des Herakles, begehrte und daher entführte, worauf Herakles ihn tötete.

Herakles musste mit seiner zweiten Frau, der Königstochter Deianeira, einen Fluss überqueren, der Hochwasser führte. Der Kentaur Nessos erbot sich, die junge Frau trockenen Fußes auf seinem Rücken hinüberzutragen, galoppierte aber dann mit ihr davon. Herakles schoss ihm einen seiner tödlichen, mit dem Blut der Hydra vergifteten Pfeile nach und traf ihn. Als Nessos im Sterben lag, gab er, bevor Herakles herangekommen war, der Frau einen tückischen Rat: „Fange ein wenig von meinem Blut auf und bewahre es. Wenn du fürchtest, die Liebe des Herakles zu verlieren, tränke damit sein Gewand und er wird nie wieder eine andere Frau als dich ansehen.“ Sein Blut aber war durch den Todespfeil vergiftet.

Jahre später schien sich Herakles einer erbeuteten Schönen (Iole) zuzuwenden. Da ließ ihm die eifersüchtige Deianeira das von ihr blutgetränkte Untergewand (als „Nessoshemd“ oder „Lichashemd“ zur stehenden Redensart geworden) durch den Diener Lichas überbringen. Sofort befielen den Helden entsetzliche Schmerzen. Er versuchte, das Hemd abzulegen, aber es hatte sich fest mit seiner Haut verbunden und er riss zugleich sein Fleisch mit ab. Deianeira tötete sich aus Verzweiflung. Um seinen unerträglichen Qualen ein Ende zu bereiten, schichtete Herakles auf dem Berg Öta, welcher für das Ende des Herakles durch das Orakel von Delphi einst verkündet wurde, sich einen Scheiterhaufen und ließ sich durch Philoktetes darauf lebend verbrennen. So traf die Prophezeiung ein, dass er durch jemanden sterben sollte, der selbst nicht mehr am Leben war. Doch wurde er aus den Flammen zum Olymp entrückt, wo ihm – als Einzigem unter den Sterblichen – die Unsterblichkeit verliehen wurde. Seine Qualen begütigten endlich Hera, und Herakles wurde mit ihrer Tochter Hebe, der Göttin der Jugend vermählt.

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Mein Warten auf Geschenke. Ich übte den Spagat. Tatsächlich immer noch was Gutes von meinen Eltern zu erwarten. Auf etwas Gutes in den Schlägen und den Hasstiraden warten.

Jetzt halt endlich dein Maul!

Halt endlich deinen Rand!

Sei still, sonst kannst du was erleben!

Wenn du nicht aufhörst deinen Vater so zu provozieren, dann ist es aus.

Ich dachte immer nur, das wäre eine Schuld, das wäre eine Sünde ohne gleichen. Ein Kind, das seine Eltern nicht ertragen kann.

Spagat. Die unerträglichen Eltern erträglich machen müssen, mit eigener Unerträglichkeit, aus Trotz, die unerträglichen Eltern erträglich machen.

Die Unerträglichkeit

Ich wusste nicht, warum ich mich in Wirtshäusern betrank, warum ich mich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern konnte, wo ich gewesen war. Warum ich eine Lüge nach der andern schuf. Warum ich Kartenhäuser baute und zum Einsturz brachte. Warum ich immerzu auf eine Katastrophe hinsteuerte. Warum ich in der Auslöschung Erlösung fand. Warum wir alle voll Verachtung für das Leben waren. Warum wir unerträglich einsam waren und uns davon nichts sagten. Wir machten alles immer unerträglicher und wussten nicht warum. Ich bildete mir schließlich ein, dass selbst das Leben zwischen Obdachlosen freier sei, als das bei meinen Eltern. Der Unerträglichkeit was abgewinnen müssen.

Sie war nicht in Sie verliebt, auch nicht in Mr de Winter. Sie hat niemanden geliebt. Sie hat alle Männer verachtet. Sie stand über diesen Dingen.“

Favell lief rot an vor Wut. „Hör zu. Ist sie nicht Nacht für Nacht durch den Wald gelaufen, um mich zu treffen? Bist du nicht aufgeblieben und hast auf sie gewartet? Hat sie nicht die Wochenenden in London mit mir verbracht?“

Nun?“, sagte Mrs Danvers mit unvermittelter Inbrunst. „Und was, wenn es so war? Sie hatte ein Recht, sich zu amüsieren, oder etwa nicht? Die Liebe war nur ein Spiel für sie. Das hat sie so zu mir gesagt. Männer zu verführen brachte sie zum Lachen. Es amüsierte sie, das sage ich Ihnen. Sie hat Sie genauso ausgelacht wie alle anderen. Wie oft hat sie in ihrem Bett gesessen, wenn sie wieder zurück war, und sich vor Lachen über euch alle geschüttelt.“

Dieser plötzliche Wortschwall war furchtbar, furchtbar und unerwartet. Er stieß mich ab, obwohl ich Bescheid wusste. Maxim war kreidebleich geworden. Favell starrte sie ratlos an, als hätte er sie nicht verstanden. Colonel Julyan zupfte an seinem kleinen Schnurrbart. Eine Weile sagte niemand etwas. Nur der Regen war zu hören. Dann brach Mrs Danvers in Tränen aus. Sie weinte, wie sie am Morgen im Schlafzimmer geweint hatte. Ich konnte sie nicht ansehen. Ich musste mich abwenden. Immer noch schwiegen alle. Nur diese beiden Geräusche waren im Zimmer zu hören, das Rauschen des Regens und das Weinen von Mrs Danvers. Ich hätte am liebsten geschrien, wäre am liebsten aus dem Raum gerannt und hätte nur geschrien.

Niemand ging auf sie zu, sprach sie an oder half ihr. Sie weinte unablässig. Dann endlich – eine Ewigkeit schien vergangen zu sein – fasste sie sich allmählich. Nach und nach versiegten ihre Tränen. Sie stand bewegungslos da, in ihrem Gesicht arbeitete es, und ihre Hände krallten sich in den schwarzen Stoff ihres Kleids. Sie schwieg.

Daphne du Maurier Rebecca

Sie wünschte sich, ich würde nicht andauernd etwas fragen. Sie mochte aber auch nicht, wenn ich nichts mehr sagte.

Ich will, dass du nicht wegsiehst, wenn ich mit dir rede!

Wie habgierig sie war. Wie sie von mir doch augenblicklich Stille und Vergebung haben wollte, und meine Scham gleich mit dazu.

Ich will jetzt keinen Muckser mehr von dir hören.

Sie mochte kein Geschenk von mir. Sie freute sich nicht Mal, wenn ich ihr etwas gab. Wenn ich ihr etwas zeichnete. Wenn ich ihr etwas wieder gab. Sie wollte keine materiellen Dinge von mir haben.

Geh, was du sagst! Das interessiert mich nicht.

Wie ich in der dritten Klasse, dann einen Mitschüler so unerträglich fand, der keine Hausaufgaben machte. Der nichts von alledem verstand, was für mich wichtig war. Was ich doch schon im Kindergarten hatte machen müssen. Und vorher, vorher schon. Für meine Mutter alles geben. Fleißarbeiten. Handarbeiten. Fleißaufgaben. Wie gut ihr das doch tat.

Wie rasend eifersüchtig mich das machte, was ich tatsächlich gar nicht haben konnte und nicht verstand, dass unsere Lehrerin, meinen Klassenkameraden nicht gleich bestrafte, ihn einfach nicht bestrafen wollte. Ich konnte das nicht fassen und ertragen.

Ich konnte nicht mehr aufhören, den Jungen so zu hassen, wie meine Mutter mich gehasst hatte, für jede Art Zuwiderhandlung.

Das wirst du mir noch büßen!

Die gleiche Habgier nach Bestrafung und Verachtung. Die gleiche Gier nach Macht.

Wie meine Mutter mit dem Nagellackentferner den alten Lack von ihren Nägeln nahm. Wie sie die Nägel sauber machte mit der Watte, und sie dann gleich wieder lackierte. Wie sie sich niemals dabei stören ließ. Wie sie mit ihren Fingern immer wieder spielte. Wie sie sich an die Nägel und die Fingerglieder hielt, wenn etwas war, wenn was passierte oder sie aufregte. Wie sie mich dabei auch fixierte, dass ich gar keinen Laut mehr von mir gab.

Bill war kein Kämpfer, und er las kein einziges Buch über Störungen in der Adoleszenz. Er litt. Von Tag zu Tag sah er älter, fahler, gebeugter und geistesabwesender aus. Er kam mir vor wie ein großes weidwundes Tier, dessen mächtiger Körper immer mehr in sich zusammensackte. Violets Wutanfälle gegen Mark hielten sie bei Kräften. Sollte Bill Zorn empfunden haben, so kehrte er ihn gegen sich selbst, und ich konnte zusehen, wie er sich langsam, aber sicher verzehrte. Es war nicht so sehr der Charakter von Marks Verbrechen, was Bill so verletzte – dass er abhaute, Wodka und Valium mixte, sich den Wagen seines Stiefvaters nahm, ja nicht einmal dass er log und stahl. All das wäre unter anderen Umständen zu verzeihen gewesen. Offene Rebellion hätte Bill viel eher akzeptieren können. Wäre Mark ein Anarchist gewesen, hätte Bill verstanden. Hätte er seinen Hedonismus verteidigt oder wäre gar von zu Hause weggelaufen, um sein Leben nach seinen eigenen idiotischen Vorstellungen zu führen, Bill hätte ihn ziehen lassen. Aber Mark tat nichts dergleichen. Er verkörperte alles, wogegen Bill sich sein Leben lang mit Leidenschaft gewehrt hatte: seichten Kompromiss, Heuchelei und Feigheit. Wenn er mit mir sprach, schien Bill wegen seines Sohnes vor allem verwirrt. Mit Verwunderung in der Stimme erzählte er mir, er habe Mark gefragt, was er sich am meisten im Leben wünsche, und der Junge habe anscheinend aufrichtig geantwortet: gemocht zu werden.

Siri Hustvedt Was ich liebte

Ich heftete den Blick auf meine Mutter. Ich sah sie immer wieder an. Ich hielt mich förmlich an den Fingern fest. Der Nagellack, der kleine schwarze Pinsel. Ich sah ihr zu und ich vergaß, dass Vater mich nicht holten kam. Er ließ mich einfach da, zurück. Ich konnte mir das nie erklären. Ich nahm das einfach hin, wie einen Stromausfall. Wie ein Gespenst. Wie einen Gegenstand, der da war und dann wieder fehlte. Wie etwas, das den Geist aufgab.

Ich hatte später immer wieder Angst, wenn Vater etwas quälte. Ich konnte aber nicht zu ihm. Ich konnte nicht mit meinem Vater reden. Das war ganz ausgeschlossen. Das merke ich erst jetzt, egal in welcher Not er sich befand. Da war gar keine Schuld, das war Verachtung jeder Art von Liebe.

Wenn mir heut was passiert, dann bist du mit deinem Vater ganz allein.

Den Appetit nach Liebe und Zuneigung zügeln und verachten und bestrafen. Den Hunger nach der Liebe, als etwas quälendes und schlechtes zu empfinden.

Wenn sie sich aus den Ecken ihrer Fingernägel Lack herauskratzte, dann schaute sie, als wollte sie mich fressen. Wie eine Katze einen Vogel ansieht und belauert. Es hat ihr nie was ausgemacht, wenn ich nur irgendeine Art von Hunger hatte. Besonnen kalt und ohne ein Gefühl für Zuneigung. So lernte ich von ihr, mich gegenüber jeder Art von Liebe ablehnend zu verhalten. Ich lernte gegenüber jeder Liebe abzuraten. Mir meine Lust und meinen Appetit auf Freude und auf Liebe zu verderben. Ich lernte jede Liebe abzulehnen. Ich lernte meiner Liebe abzuschwören. Ich ging ihr nicht nur aus dem Weg. Ich schaute andere genauso an, wie Mutter mich betrachtet hatte. Wie eine Katze einen Vogel. Ich weigerte mich Liebe überhaupt zu sehen. Ich lehnte ihre Existenz im Grunde in mir ab. Verweigerte mich schließlich jeder Art von Liebe. Und ich verschloss jenes Gefühl, das mich wie nichts als Kind entsetzt hatte, die kalte Mutter zu ertragen lernen. Mit dieser Unerträglichkeit zu leben lernen und was noch weitaus schlimmer ist und war, dagegen gar nichts tun zu können. Ich weigerte mich überhaupt noch Appetit zu haben auf Liebe, Zuneigung und Anteilnahme.

Das Unerträgliche nachträglich schön zu reden, wie meine Mutter mich das lehrte.

War denn tatsächlich alles schlecht!?

Mein Mitschüler, der Karl, der hatte plötzlich so geschaut, geborgen, als unsre Lehrerin mit ihm gesprochen und ihn angelächelt hatte. Sie hat ihn nicht dafür bestraft. Ich hätte mich das nie getraut, nur einmal so zu schauen wie der Karl, verletzt und unsicher.

Der Karl hatte geweint. Ich hatte auf ihn reagiert, wie meine Mutter vor mir immer wieder.

Ich kann die Wirklichkeit des Geschehenen nicht darstellen, ich kann nur seinen Schatten zeigen.

Stendhal

Wenn ich nur ihr Kleid anfasste, dann schaute sie, als müsste ich das gleich bezahlen. Bei meiner Mutter kostete mich schließlich jede Regung Überwindung.

Was schaustn so!? Du brauchst jetzt ned ano zum Drenzn ofanga!

Mein Schimpfen auf den Karl, dass er bestraft würde. Ich wünschte mir von unserer Lehrerin, dass Karl bestraft würde. Ich wetterte und zog noch nach der Schule über ihn vor andern Schülern her.

Sich nicht zu wehren wagen.

Wie Schuppen von den Augen fallen.

Der Schatten meiner Mutter.

Wie ich den Karl verflucht hatte. Wie ich den Karl vor anderen beschimpft hatte.

Wie ich den Karl in mir verflucht hatte. Der Karl in mir, der keinerlei Verletzung und Verstörung hätte zeigen dürfen. Der Schatten des Geschehenen, dass ich mich nicht einmal nach der Beschimpfung durch die Mutter, verletzt und unsicher zeigen hatte dürfen. Der Karl in mir, der hätte eine Strafe einfach akzeptiert und nicht verletzt geschaut. Ich konnte diesen Blick nicht mehr ertragen.

Wie unerträglich das Beschimpfen und Beschämen ist. Wie einen Schatten hat sie mich behandelt. Habgierig darauf achtend, dass nichts mehr an Verstörung und Verletzung zu uns dringen würde. Wie einen Schatten habe ich mich selbst dann später auch behandelt.

– Verdammt, Ousewoudt, das geht mir langsam auf die Nerven! Ich nehme dir deine Ammenmärchen ab und falle jedesmal von neuem herein. Was glaubst du wohl, wen du vor dir hast? Was bildest du dir eigentlich ein? Dein Fall ist längst erledigt, du bist ein Lügner, ein Hochstapler und ein Landesverräter, aber weil wir in einem Rechtsstaat leben, gebe ich mir die allergrößte Mühe, etwas zu finden, was für dich spricht. Und was machst du? Du legst mich herein. Erzählst mir Märchen von einer gekrümmten Straße und einem Haus mit einer Türnische. Ich möchte wetten, daß du vorher noch nie in dieser Gegend warst. Es gibt keine gekrümmte Straße und auch keine Haustürnischen. Siehst du eine Haustürnische Spruybroek?

Vor Wut schien Selderhorst nicht mehr fahren zu können. Er schlug mit den Fäusten aufs Lenkrad.

– Ich begreif überhaupt nichts mehr, jammerte Osewoudt, wohin könnte ich denn in meiner Aufregung gelaufen sein? Es muß hier in der Gegend gewesen sein, das weiß ich genau, aber ich kann nichts wiedererkennen. Wenn mir jemand erzählt hätte, daß hinter den vornehmen Häusern an der Plantage dieses schmutzige Armenviertel liegt, ich hätte es nicht geglaubt. Wie zum Teufel ist das möglich? Wo ist diese Straße? Sie muß doch hier sein.

Ehe Spuybroek ihn daran hindern konnte, öffnete er die Wagentür und stieg aus. Er versuchte jedoch nicht zu fliehen, sondern stellte sich mitten auf die Fahrbahn. Zuerst schaute er zu den Treppengiebeln hoch, ob er vielleicht einen davon wiedererkennen würde. Dann blickte er auf die Fabriken. Die Motorradfahrer standen neben ihm und ließen die Motoren knattern.

– Alles, was ich gemacht habe, gleitet mir aus den Händen! Alle Leute, mit denen ich im Krieg zusammengearbeitet habe, sind tot oder verschwunden, und sogar die Straßen, durch die ich gelaufen bin, existieren nicht mehr. Wie ist das nur möglich? Es kommt mir so vor, als ob ich in einer anderen Welt leben würde, in der mir niemand glauben kann. Was soll ich dagegen tun? Wie, um Himmels willen, soll ich mich unter diesen Umständen verteidigen?

Der Karl hatte geweint vor uns. Der Karl, der war verzweifelt, und ich hatte ihn dafür gehasst. Denn meine Mutter pflegte meine Tränen der Verzweiflung als etwas für sie unerträglich dummes und gemeines hinzustellen.

Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben. Freu dich nur nicht zu früh!

Heißhungrig und gefräßig. Nach der Bestrafung aller Satten, Liebenden, die niemals solchen Hunger hatten leiden müssen. Danach schrie sie in mir.

12

Heute ist Donnerstag. Ich freue mich auf die Klavierstunde, weil ich daran denke, daß mir Onkel Arnold zum Abschluß wieder die >Petersburger Schlittenfahrt< vorspielen wird. Als es endlich klingelt, stürme ich ihm entgegen und umarme ihn. Nachdem er die Mutter begrüßt hat, nehmen wir beide am Klavier Platz. Weißt du, wo wir letztes Mal stehengeblieben sind? fragt er lächelnd. Ich tippe auf den Abdruck seines Daumennagels am Notenrand und höre, wie sich Edith in den Ohrensessel setzt. Wenn du Lust hast, können wir die C-Dur-Tonleiter üben, sagt Onkel Arnold lächelnd und streicht mir zärtlich durchs Haar. Mein Gott, das bringt der Junge nie fertig, mault Edith, aber Onkel Arnold gibt ihr Saures. Misch dich nicht ein, kümmere dich um deinen eigenen Kram, knurrt er und erklärt mir, wie ich an der schwierigsten Stelle, wo der Daumen unter die Hand gebogen wird, besonders achtgeben soll. Vorsicht, mahnt er freundlich. Ich will mich nicht blamieren. Ich will es unbedingt schaffen, aber ich haue immer wieder daneben. Ach du grüne Neune, so ein Tolpatsch! höre ich die Mutter lästern und merke, wie mir der Schweiß über den Rücken läuft. Onkel Arnold bleibt stumm, doch auf seiner Stirn schwillt eine Ader an. Du machst den Jungen noch verrückt, das lasse ich mir nicht länger bieten, scher dich raus, du dumme Pute!

13

Es ist der Abend vor dem ersten Schultag. Ich packe meinen Ranzen und stelle ihn in die Kammer. Nach dem Essen setzt sich die Mutter mit ihrer >Box< neben mich, und während ich beobachte, wie der Film eingelegt wird, erklärt sie mir, daß ich morgen nicht zu den ABC-Schützen, sondern gleich in die zweite Klasse komme. Ich bin wie vom Donner gerührt. Ich verstehe es nicht. Warum? frage ich. Weil du so gut lesen und schreiben gelernt hast, antwortet Edith lächelnd. Aber wo bleibt meine Schultüte? brülle ich und trample auf den Dielen. Du wirst doch wohl bis morgen warten können, sagt sie und gibt mir einen Gute-Nacht-Kuß.

14

Die Sonne überglänzt das Teerdach. Edith stellt die >Box< auf das Fensterbrett meiner Kammer, und Louise schiebt mir die Schultüte unter den Arm. Schon nach dem ersten Schritt begreife ich, daß mich die beiden betrogen haben. Am Giebel der Heringsräucherei bleibe ich stehen und öffne die leere Tüte. Ist doch bloß zur Erinnerung! rufen Edith und Louise wie aus einem Mund.

Klick, macht es.

Manfred Bieler Still wie die Nacht Memoiren eines Kindes

Meine Schattenspiele, wie ich Karl verachtet habe und gehasst. Karl hat geweint, aber nicht aus Verzweiflung. Wie ich andere gegen ihn und seine Tränen aufwiegeln hatte wollen. Karl die Freude nehmen, das hab ich versucht. Weil sie ihn getröstet hatte, weil sie ihn so angelächelt hatte, weil sie ihn gelassen hatte und ihn so gemocht, nicht beschimpft und nicht beschämt hatte. Seine Freude über ihre Zuneigung, wollte ich ihm nehmen.