Texte von Hugo Rupp

Argwohn

 

Es ist furchtbar, wenn man die Existenz einer anderen Person an sich geheftet sieht wie eine Bombe, die man festhalten muss und nicht fallen lassen darf, ohne ein Verbrechen zu begehen.

Marcel Proust Die Gefangene

Ich konnte mich mit keiner Zehe von ihr abwenden. Wenn nur die Spitze meines linken kleinen Zehs nicht in die Richtung ihrer Augen zeigte, bemerkte sie, dass ich gefälligst jetzt zuhören sollte, sonst würde was passieren. Wenn nur ein Blick nicht ihr gewidmet war, wurde die Mutter abfällig. Was immer sie auch anmerkte, mir noch zum Abschied mitgab, oder am Anfang eines Gesprächs gleich atemlos vermerkte, es gab doch immer den Verdacht, mir etwas anzuraten und noch nachzutragen müssen; noch was – noch was – noch was …

An meiner Wut festhalten konnte ich so nicht. Nie sollte ich, selbst nach Vorwürfen und Beschämungen, nachdem sie abfällig und niederschmetternd zu mir war, ihr böse sein. Nicht böse in mein Bett gehen. Nicht böse bleiben. Die Abneigung darf meinen Blick nicht trüben. Denn das erträgt sie nicht. Nicht meiner Mutter böse sein.

Komm nimm das Geld. Dein Vater hat es doch nicht so gemeint, sagt sie. Schau, das ist doch falscher Stolz. Jetzt iss wenigstens ein paar Bissen.

Nur keine Wut. Nur den Gefühlen nicht nachgehen.

Jetzt grüß doch schön. Jetzt sei mal freundlich zu den anderen! Sie haben dir doch nichts getan. So geht man miteinander doch nicht um, sagt sie. Sei jetzt gefälligst etwas freundlicher.

Wie Mutter über Kranke und Verletzte sprach, oder ein Leid, als hätte sie daran was auszusetzen und zu hinterfragen, doch tat sie das nie wirklich. Deshalb sprach sie auch immer wieder Tod und Sterben anderer und Krankheit immer wieder an. In Wirklichkeit das Leid nur vor sich wegschiebend. Damit es sie nicht beißen kann.

Was ich erst jetzt verstehen kann, dass sich ein Kind dagegen gar nicht wehren kann. Auch wenn man dann wie seine Mutter oder Vater wird, wie ich dann auch geworden bin, so nachtragend und alles immer wieder umwerfend, und nie die Wirklichkeit ertragend.

Hinter dem Vorhang auf dem Boden sitze ich, in einer Hand ein Brot und mit der anderen den Vorhang haltend, damit sie nicht gleich mitbekommt, dass ich dahinter bin und mich vor ihr, so gut ich kann, verstecken kann.

Das geht nicht gut!

Ich konnte gar nicht böse sein. Ich durfte gar nicht böse sein. Ich war der Böse, der nie richtig böse sein konnte. Sie machten mich zum bösen Kind, und dabei durfte ich nicht böse sein.

Sie sagte nicht, Jetzt wieder gut! Sie meinte nicht, Jetzt sei schön brav. Sie sagte was ganz was anderes. Das was sie immer sagte, wenn sie böse war. Wenn meine Mutter wirklich böse wurde. Lass dir nur ja nicht jetzt einfallen, was zu sagen. Du bist ganz still, sonst drehe ich dir deinen Kragen um.

Wie kann das sein, dass mir das nur entfallen ist!?

Die Angst, die ich vor meiner Mutter hatte. In meinen Träumen räumte ich so auf. Dass ich selbst in der Nacht, in tiefster Dunkelheit nach Hause finden musste. Nach Hause, nur nicht wütend sein, nach Hause, nur nicht Mutter wütend machen. Nach Hause, nur nicht Mutter wütend machen. Nur einen Hinweis noch, ein Zeichen geben, für mich selbst, dass Mutter nur nicht wütend wird. Dass nichts, auch wenn sie mich beschimpft, auch so bedeutend wird, dass ich mir was von Wut anmerken lasse.

Wie Glas zerspringt, zerspringen kann.

So zeugen dann Krankheiten, von dem Geschehen aus der Kindheit unentwegt, und merken dann Beschwerde um Beschwerde an, was nicht nach außen dringen kann, wenn nichts bewusst von einer Kindheit werden darf, sonst wird die Mutter oder Vater böse. So gibt es kein zurück. So ohne Selbstgewissheit kann es keine Rücksicht geben. Nach Hause beispielsweise. Denn meine Kindheit war Zuhause sein. Auch wenn sie noch so schrecklich war. Sie war doch immer nur zuhause. An einem festen Ort gemacht.

Aus der Tiefe rufe ich zu dir, o Herr.

Höre, Herr, auf meine Stimme! Mögen deine Ohren lauschen auf mein lautes Flehen!

Wolltest du auf Sünden achten, Herr, wer könnte dann, o Herr, bestehen?

Ja, Vergebung ist bei dir, auf daß man dir in Ehrfurcht diene.

Ich hoffe auf den Herrn; es hofft meine Seele; ich harre auf sein Wort.

Altes Testament / Lehrbücher / De profundis, 130 Psalm, 1-5

Und wie sie ihre Hand erhob und mit den Augen voller Irrsinn lachte, um gleich darauf im nächsten Augenblick gar nichts davon zu wissen und zu zeigen. Wie ich erschrak. Wie ich mit meiner ungelösten Mutterangst und Bitte nach Vergebung in mir hängen blieb. Was aus der Kindheit kommend, war, nichts mehr zu sagen und zu meinen, nichts mehr mir diesbezüglich anzumerken lassen. Denn ganz egal wie mir geschah, auf was ich mit der Angst, anstatt der Wut, zu reagieren lernte: Zerstörung meiner Wirklichkeit zugunsten der Neurose meiner Mutter. Es zeigte sich nichts mehr davon. Aus Angst, die nichts von Wut mehr ahnt.

Auch wenn ich später wie der Teufel war und andere erschreckte, wusste ich nie, warum das so verheerend in mir lag und so nach draußen kommen konnte, indem ich andere beschimpfte und beschämte und ihnen so weh tat. Dabei war meine Miene unverändert freundlich. Wie ich das so genau von meiner Mutter doch gelernt hatte. Mich zu benehmen so, als wäre nichts passiert.

Ihr wisst nicht, was Entbehrung heißt, sagt Vater immer wieder, wenn Krieg vorkommt im Fernsehen oder in der Zeitung.

Ich musste böse sein und nicht mehr böse sein. Was ich nicht mal kapiert hatte, weil es schlichtweg unmöglich für mich war, was in der Wirklichkeit nie möglich sein würde. Nicht böse sein und gleichzeitig auch böse sein zu können.

Die Lösung von der Wut, um von der Wut erlöst zu werden. Nicht böse sein, um so das böse werden loszukriegen. Nicht länger böse sein um mir die Wut so wegzuschließen. Mir selbst die Wut, mit nicht mehr böse sein, nur immer wieder auszureden. Mir etwas mit einreden auszureden. Nur immer wieder reden, reden, Ausreden. Nur keine Wut. Die Mutter nicht damit belasten. Nur immer so verbunden sein. Verbunden sein, verbunden mit der Mutter scheinen. Als könnte nichts so lange sein und noch viel länger halten, als meine Mutter und ihr Draht zu mir. Wenn du nicht endlich aufhörst so zu schreien, dann lasse ich dich hier allein. Für immer, hörst du mich! Die Drohung, die mir Wut wie meinen Atem nahm. Nicht länger böse sein, nicht länger Wut empfinden. Mit Wut muss jetzt Schluss sein. Nicht länger kann ich meine Mutter damit halten. Nur ohne Wut. So wurde meine Mutter für mich unentbehrlich, weil sie mir doch im Grunde immer nur das eine beigebracht hatte, mir jede Art Entbehrung auszureden, schönzureden, umzudrehen, hinzubiegen; nur weg von jeder nachempfundenen Wut.

Der Vater und die Mutter sind bedürftig, ich nicht, so dachte ich. So fühlt sich das im Herzen eines Hasen an, der ständig auf der Flucht, selbst dann noch Haken schlagen muss, wenn gar nichts mehr im Grunde dafür spricht. So wie man das Gelernte an sich hasst und schließlich selber hassen lernt.

Du weißt doch nicht, wie gut du es im Grunde bei uns hast, sagt er. Ihr wisst doch alle nicht, was wirkliche Entbehrung heißt. Im Grunde geht es euch doch allen viel zu gut.

So dachte ich dann später auch und wusste nichts davon, woher mein fremdes Leid nur mit Verachtung strafen kam. Ich wusste nicht, warum ich nicht an Mitleid kam, warum ich immer nur das Leid und Liebe anderer beneiden musste. Ich bin bedürftig, aber ihr doch nicht. Ich bin doch unentbehrlich, aber ihr seid das doch nicht. Ich bin doch schließlich so allein, doch ihr, ihr seht und wisst und fühlt das doch gar nicht. Ihr kriegt die ganze Liebe ab, und ich gar nichts. Ihr erntet vielleicht Freundlichkeit, wie Lilien auf dem Felde. Und ich, mir bleibt nur tote Erde, ödes Land und keine Heimat, nur die Fremde.

Jetzt weiß ich wieder was ich sah in jener Nacht als meine Mutter meinem Vater Schweiß von seiner Stirn abwusch, und Vater schrie als ihm der Blinddarm brach, und sie mich in mein Zimmer schickten.

Herr, mein Herz ist nicht stolz, nicht hochmütig sind meine Augen. Ich ergehe mich nicht in großen Dingen, die mir unerreichbar sind.

Nein, ich habe meine Seele besänftigt und beruhigt. Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, so still ist in mir meine Seele.

Altes Testament / Lehrbücher / Stille Bescheidenheit, 131 Psalm, 1-2

Sie wussten beide nicht, was sie noch tun sollten, denn ihre Möglichkeit zur Liebe war erschöpft. Sie konnten beide sich im Grunde gar nicht helfen. So wurde ich damit erschreckt und an die frühste Kindheit in mir so erinnert, ohne dass ich etwas davon erahnte. Was weder meine Mutter noch mein Vater zeigen konnten, was sie am anderen entbehrten, was sie am jeweils anderen doch immer schon entbehrt hatten. Die Sorge um die Seele in der Not; Abwesenheit der Liebe, der aktiven Seelsorge. Der Vater schrie und schimpfte, und Mutter wischte wie ein seelenloser Roboter ihm dabei immer wieder mit einem Waschlappen über die Stirn und wiederholte gebetsmühlenartig, ob man nicht besser einen Krankenwagen holen sollte, worauf mein Vater Achtung für die Nachtruhe der Ärzte mahnte und wieder seine Schmerzen mit Verachtung selbst bestrafte.

Wie Menschen in der Not sich selbst nicht helfen können. Wie Menschen in der Not sich selbst und gegenseitig nicht mehr helfen konnten. Als meine Eltern in der Not sich selbst und gegenseitig nicht zu helfen wussten. Dass meine Eltern in der Not sich wirklich nicht zu helfen wussten. Wie sollte ich als Kind für mich an Hilfe kommen?

Aus Angst die Wut und Freundlichkeit verlernt.

Ich konnte nicht mehr wirklich freundlich und bescheiden sein. Ich fand nicht mehr zur kindlichen Bescheidenheit und Freundlichkeit zurück. Ich konnte mich von den Entbehrungen nie wirklich so erholen, weil ich nicht wütend werden durfte. Weil ich nicht wütend sein sollte. Ich musste doch bescheiden wieder freundlich sein. Ich musste doch die Wut vergessen und vergeben. Ich fand nicht mehr zur Freundlichkeit zurück. Ich musste doch zu allen, wie zu meinen Eltern freundlich sein. Ich musste doch die Freundlichkeit vorheucheln lernen. Wie meine Mutter und mein Vater in der Nacht, als Vater schließlich fast dabei gestorben wäre. Ich musste meine Wut auf meine Freundlichkeit, mit still sein und mit stumm sein übertragen. Ich musste doch bescheiden sein, auch wenn ich innerlich vor Zorn und Angst und Wut am Kochen und Zerspringen war Tick, tack, tick, tack, tick, tack. So ging die Freundlichkeit in mir verloren. Ich konnte nicht mehr freundlich sein. Ich konnte selbst zu mir nicht länger freundlich sein.