Texte von Hugo Rupp

Angst vor Strafe

 

218 Zweck der Strafe. – Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft, – das ist die letzte Zuflucht für die Verteidiger der Strafe.

Friedrich Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft

Knie dich hin! Ich will, dass du dich vor mich hinkniest. Hörst du! Und schau mich an, wenn ich mit dir rede! Du wirst so was nie wieder tun. Hörst du?! Du musst nichts sagen. Nicken genügt vollkommen.

Traum: Mutter liegt im Bett, zugedeckt, und redet, und meine Schwester sitzt, so weit es geht von mir entfernt, am anderen Ende des Raumes. Ich rede über terminales Stadium.

Was willst du damit sagen, fragt sie.

Dass die Person sterben wird, sage ich.

Sind die Trauben vom September schlecht gewesen, fragt Mutter.

Es ist erst Ende Juli. Das sage ich ihr aber nicht!

Mein Traum vom See fällt mir dazu jetzt ein: Ich sehe zu, wie Mutter untergeht in einem See aus Blut.

Ich wachte auf, zurückgeschreckt und aufgescheucht, von meinem Traum, die Mutter, die in einem See aus Blut ertrinkt, mit fiebrigen, grausamen Augen, am eignen Untergang entzückt.

Auf jeden Fall! Auf jeden Fall wird alles besser.

Mit aufgesetzter Höflichkeit. Wie aufgeregt und aufgedreht, verrückt nach Heiterkeit. Wie an den Frühstückstischen in Lokalen in Touristenorten. Verrückt nach guter Laune, Ablenkung. Ich seh sie an und spüre den verkniffenen Blick und ihre unterdrückte Wut. Und wie beleidigt wir im Grunde aufeinander sind, und dazu noch unheimlich zornig.

Und wie ich immer nur vergeben und vergeben hatte müssen, sonst kommt der Vater nicht mehr heim, und wie sie immer wieder darauf kam, und mich aufweckte in der Nacht, ich tu das nur für dich, damit du nicht mehr so alleine bist, wenn sie von Vater zu mir kam und in mein Bett sich drängelte, da war ich doch schon 9, und wie sie mir zusetzte, jetzt wird sich etwas ändern, jetzt wird alles gut, wie sie mir leere Worte angeboten hat, und wie ich nicht verstand, warum sie damit nicht aufhören wollte.

Die Angst vor Strafe kam, wenn ich die Schritte meiner Mutter hörte. Und wenn ich an sie dachte. Und wenn ich sie vergaß, auch wenn ich sie vergessen wollte.

Die untergeht in einem See aus Blut und Feuer, und die dabei noch kampfeslustig lächelt: Geistige Brandstiftung, das brachte sie mir bei.

Das ist doch nicht so schlimm!

Wenn mich was ärgerte.

Da ist doch nichts! Das bildest du dir doch nur ein!

Feigheit, die Mutter aller Grausamkeit.

Michel de Montaigne

Und wenn ich panisch um mich sah, nach einem Halt, nach einem Schwarzen Mann, dem nächsten Schrecken, Ausschau hielt!? Genau dann hat sie mich verlacht. Dass sie in meinem Traum genauso lacht, und dabei steht ihr schon das Wasser bis zum Hals, und Blut bis an die Lippen. Aus Feuer ist der ganze See.

Das bildest du dir doch nur ein.

Jetzt weiß ich, wie ich selber war. Zu jenen grausam, die nichts für ihre Fehler konnten, die einfach nur unschuldig waren. Zu denen grausam, die nichts Grausames an sich hatten. Ich bildete die Feigheit meiner Mutter ab. Ich war genau so grausam und so feige.

Dem Robert K. sag ich, nachdem er gegen mich gewonnen hat im Schussern und sich freute, was willst du denn, du hast doch keinen Vater!

Ich kann doch nichts dafür, hat er gesagt, doch seine Freude war dahin.

Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. . . So kann ich das Neue schaffen.

Adolf Hitler

Mir weiszumachen, dass alles, was ich machte oder dachte oder fühlte und empfand, und als Kind nicht verstand, im Grunde strafbar sei. Dass Unschuld und Unwissenheit für ein Kind strafbar seien. Dass meine Unschuld strafbar sei, das brachte sie mir bei.

Die Alpträume. Aufwachen in der Nacht. Die Züge, die ich nicht erreichen kann, die Schlüssel, die ich immerzu im Traum verliere, und nie in Wirklichkeit.

Ich konnte meine Angst vor dem Erschrecken nicht parieren. Die stummen Schreie, Laute, die ich verschluckt und nie hinausposaunen hatte dürfen. Wie Schlüssel, die ich vor mir versteckt halte. Wie meine Wut, die ich verleugnen hatte lernen müssen.

Pass auf, jetzt kommt der Schwarze Mann!

Ihr Strafbedürfnis. Geistige Brandstiftung. Mein Hetzen, mein immer wieder Hinterherlaufen und plötzlich nicht mehr von der Stelle kommen. Ich hetzte mich mit Träumen auf und wach. Ich schimpfte mit mir selbst und merkte es gar nicht.

Sei still! Ich kann ihn hören. Er ist jetzt schon ganz nah. Jetzt kommt der Schwarze Mann. Und ich bin weg. Was jetzt passiert, das will ich nicht erleben.

Ich fing zu weinen und zu betteln an und kniete vor ihr nieder.

Warum fängst du zu weinen an! Und steh gefälligst auf, du machst dir noch die Knie ganz schmutzig!

Der Schwarze Mann, sag ich und zittere am ganzen Leib.

Das bildest du dir doch nur ein.

Die starre und die stumme Wut, die nichts nach außen bringt, die nichts von sich selbst sagt, die nichts von sich aus wagt, die wollte meine Mutter von mir haben. Mit ihrem lächelnden Gesicht. Jetzt weiß ich auch, warum ich sie als bösen Clown gezeichnet habe. Sie war mein Pennywise, wie aus dem Buch, Es, von Stephen King. Sie war für mich so grausam. Sie wollte meine stumme Wut, die Angst vor einer unsichtbaren Größe und Gefahr, vor einem Schwarzen Mann, den es nicht wirklich gibt, nur immer wieder auskosten.

Das Grauen und der moralische Terror sind deine Freunde. Falls es nicht so ist, sind sie deine gefürchteten Feinde.

Colonel Walter E. Kurtz Apocalypse Now, Regie: Francis Ford Coppola

Die Aussicht auf den See, wie meine Mutter untergeht, wie Martin Sheen im Film, Apocalypse Now, der aus dem Wasser auftaucht, schlammfarben, und seine Augen leuchten. Inmitten der Getreuen eines Grauens, das keinen anderen Namen kennt, als Colonel Kurtz. Mit Kriegsbemalung im Gesicht tötet Martin Sheen, alias Captain Willard, schließlich den Colonel.

Das Strafbedürfnis meiner Mutter als Mission, als Lebensinhalt für mich Kind, ihr Schimpfen und ihr Strafen. Die Angst vor Strafe gibt endlich einen Sinn; die Bilder, die ich in mir trug und die ich nicht verstand und die mich Jahre lang zur gleichen Stunde weckten, Schlag 5:17 Uhr in der Früh. Die Wut auf sie, die konnte ich nicht wecken und ertragen.

Das eine sag ich dir, das wirst du mir noch büßen!

Denn das Echo ist die Seele der Stimme, die sich in Hohlräumen erregt.

Michael Ondaatje. Der Englische Patient

Die Wut des kleinen Kindes sagt: ich will nicht schweigen und stumm sein. Ich möchte nicht, dass meine Seele schweigt. Ich möchte nicht, dass sie nichts sagt. Ich möchte mich nach einer Stimme sehnen, die für mich spricht. Ich möchte mich danach auch richten; nichts tun und sagen, was dagegen spricht. Ich will nicht still sein. Und beichten will ich auch nicht. Ich will nicht vor der Mutter und dem Vater knien. Ich will mich nicht beschimpfen lassen.

Der weint doch schon beim kleinsten Scheissdreck. Wenn man den nur ein wenig schimpft, dann fängt der schon zu weinen an.

Er war zuerst unsicher, ob er sie in ihrer Nacktheit berühren sollte, sagte „Hana“ und legte dann seine bandagierte Hand auf ihre Schulter. Sie hörte nicht auf zu zucken. Tiefer Schmerz, dachte er. Wo die einzige Möglichkeit, ihn zu überleben, die ist, alles ans Licht zu holen. Sie richtete sich auf, hielt den Kopf noch gesenkt, stemmte sich dann gegen ihn, als zerre sie sich weg vom Magneten des Tisches.

„Rühr mich nicht an, falls du vorhast, mich zu vögeln.“

Michael Ondaatje. Der Englische Patient

Sie hat mich immer wieder vor der Wut erwischt. Sie hat mich abgelenkt und mich verärgert. Ich dachte später, ich wäre zu ihr hin, weil ich mich doch entschuldigen und wieder mit ihr gut sein wollte. Ich dachte immerzu, ich hätte mich dem Trost verweigert. Dabei hat sie mich nie getröstet in der Not.

Jetzt lang mich nur nicht an. Putz dir gefälligst deine Nase. Und schmier mir deinen Rotz nicht an den Kragen. So was! Regt sich so auf, nur wegen nichts und wieder nichts!

Ich dachte später immer noch, ich hätte keinen Trost gebraucht.

Jetzt sind wir wieder gut.

Deswegen dachte ich, ich hätte keinen Trost gewollt, damit sie mir vergeben konnte.

Und jetzt verstehe ich, wenn jemand sagt: Ich will dein Mitleid nicht. Ich brauche deinen Trost jetzt nicht.

Komm jetzt. Komm jetzt da raus!

Du kommst gefälligst her!

Fass das nicht an!

Mach mich nicht schmutzig!

So gefällst du mir gar nicht!

Du schläfst jetzt ein, sonst kommt der Schwarze Mann!

Das würde ich mir zweimal überlegen, was du jetzt sagst!

Jetzt steh nicht blöd herum!

Ich kann nicht länger auf dich warten!

Was bildest du dir ein?!

Das war nicht so gemeint!

Fass mich nicht an!

Wir wollen nur dein Bestes!

Ich habe meinem Vater nie etwas davon erzählt, was meine Mutter mit mir angestellt hatte. Kein Wort davon zu ihm.

Wie ich die Stille und die Seelenruhe hasste.

Die Angst davor, in mir selbst zu verschwinden, die schlimmste Angst, die mich antrieb. Die Angst nur zu versagen.

Sei still, sonst kommt der Schwarze Mann!

Und mit dem Nikolaus, der zu uns kam, da war ich 2, kam auch das Schimpfen dann zum ersten Mal von außen zu uns heim.

Warst du auch immer brav?! Wenn du nicht brav bist, kommt Knecht Ruprecht zu dir heim und öffnet seinen Sack und steckt dich dann hinein.

Andauernde Verlustgedanken. Auf alles schimpfen, was ich tat und was passierte; Aus Fehlern wurden Strafen.

Was trampelst du denn so!?

Ich wachte mit geballten Fäusten auf, mit einem schiefen Hals und Schmerzen vom Zusammenbeißen meiner Zähne. Ich wachte auf in einer Haltung, als wäre etwas weg und alles schlecht, und wieder was kaputt gegangen.

Die Angst vor Strafe kam zu mir.

Sei still, sonst ist es aus!

Weil ich das immer wieder in mir dachte und mit Gefühlen in mir durchgerechnet habe, dass ich mich selbst verlieren muss, um mich nur irgendwie mit meiner Mutter zu vertragen. Dass ich mich selbst verlieren würde irgendwann, wenn ich das nicht mehr aushalte, nicht mehr ertragen kann, wenn meine Mutter mich ausschimpft.

Zuhause ist es doch am schönsten!

Was habe ich denn von der Mutter je an Lob gekriegt, an Freundlichkeit, Aufmunterung und Liebe? Was habe ich nicht alles für sie angestellt und gut gemacht. Gelernt, gemalt und immer wieder schön geschrieben. Was habe ich ihr gratuliert und sie in ihrer Schönheit angehimmelt. Was habe ich für sie gelacht? Was habe ich für sie vollbracht und andere für sie verachtet. Ich habe sie beschützt, vor Vater und vor anderen. Was habe ich für sie, auch gegen Vater immer wieder nur geschimpft. Was habe ich nicht alles immer nur für sie getan!?

Dass sie mich nicht erschreckt und endlich mal in Ruhe lässt. Was habe ich nicht alles für sie ausgehalten!

Sie machte mich noch lächerlicher mit der Angst. Sie machte mich mit meiner Angst vor anderen noch lachhafter. Mit den Kostümen dann im Fasching. Wie ich mir immer lächerlicher dann vorkam, und wie die Mutter lachte, über mich, und die Kostüme, die sie für mich gemacht hatte. Nach allem, was ich mit mir hatte machen lassen; für sie, nur immer für die Mutter.

Jetzt weiß ich endlich, was das ist, was ich Jahrzehnte mit mir schleppte, mit meiner Angst vor ihren Strafen. Endlich hat dieses Kind genug getan. Ich wartete darauf, dass meine Mutter mich belohnt, dann würde ich vor ihr auch keine solche Angst mehr haben.

Werft die Bombe ab. VERNICHTET sie alle!

Colonel Walter E. Kurtz Apocalypse Now, Regie: Francis Ford Coppola

Ich habe Fieber, und sie schreit. Mein Traum vom See ist ohne Ton gewesen. Mein Wunsch, die Mutter kann nicht einmal mehr was sagen, auch wenn sie untergeht.

Aus Angst wird jetzt auch Schimpfen.

Halt endlich jetzt dein Maul, halt endlich deine Fresse!

Wie ich dann anderen begegnet bin, wie Mutter mir von Anfang an begegnet war. Mit unterdrückter Wut und Angst. Die Angst vor Strafe immerzu vor Augen. Die Frau in meinem Traum. Aus Angst vor Strafe, mit dem Gesicht der Mutter, immerzu vor Augen.

Ich rutschte vor ihr auf den Knien. Was ich auch tat, was Vater ihr antat, ich musste für sie büßen, weil ihr das so gefiel.

Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren.

Franz Kafka Der Prozeß

Wenn ich nur über meine Schulter blickte, hielt ich nach Strafe und nach einem Opfer zum Beschimpfen Ausschau. Der Täter, der als Kind selbst Opfer war; doch ohne ein Bewusstsein seiner frühen Aussichtslosigkeit.

Ermüdet und von Ängstlichkeit zermürbt, bevor ich wütend auf sie werden konnte. Ich war so überfordert! Ein Kind, das immer seiner Mutter schön tun muss.

Selbst während mich der Vater schlug und meine Mutter dazu stumm da saß, und meine Schwester weinend an ihr klebte, selbst dann noch achtete ich darauf, nur ja nicht weinen, nur ja nichts sagen und nichts tun. Nur ja nicht Leiden äußern und darstellen. Da war ich sechzehn Jahre alt und meine Liebe für mich tot; aus Angst vor Strafe unterdrückte ich die Wut.

Das schrecklichste, was es für mich an Strafe gab, der Mutter noch gefallen müssen, während sie mich ausfragt und schimpft. Der Mutter noch gefallen müssen, wenn sie mich auslacht und erniedrigt. Deswegen Angst auch vor versagen müssen.

Die Frau in meinem Traum im See. Was ich erwartet habe, wenn ich ihr nicht gefiel. Die Angst vor Strafe, immer wieder.

Ich konnte mir nicht wirklich mehr gefallen. Egal, was ich auch tat, da war so eine Wut in mir, die alles schließlich unterdrückte. Da war so eine heimliche und unterdrückte Wut, die alles und auch jeden, der sich mir näherte, ganz automatisch strafen wollte. Mein Strafbedürfnis lachte mich selbst aus und ich verachtete mich dafür.

Was ich nicht wissen und nicht merken konnte, weil ich es als Kind nie erfuhr: Aufmunterung bedeutet Trost. Wer ein Kind tröstet, muntert es auch auf. Wer jemand nicht aufmuntern kann, der wurde als Kind nie getröstet. Wer als Kind nicht getröstet wird, der muss auch seine Wut verleugnen.

Mit Angst vor Strafe deprimierte ich mich schließlich selbst und immer wieder andere, wie meine Mutter mich ausschließlich deprimiert hatte. Sie hatte mich niemals getröstet und niemals wirklich aufgerichtet. Sie hat mich niemals aufgemuntert. Und endlich weiß ich, was mich an anderen so angezogen und gleichzeitig genauso abgestoßen hat, warum ich dieses Muster schier unaufhörlich wiederholte, Unfähigkeit zum Trost, unfähig jemand aufzumuntern, unfähig jemand aufzurichten und zu trösten; Unfähigkeit zur Wut gegen die eigene, grausame Mutter. Unfähigkeit zum Trost, zur eigenen Aufmunterung.